Mariette Navarro: "Über die See"

Ein Experiment auf Leben und Tod

06:26 Minuten

Mariette Navarro

Aus dem Französischen von Sophie Beese

Über die SeeAntje Kunstmann, München 2022

160 Seiten

20,00 Euro

Von Sigrid Brinkmann · 24.08.2022
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Die Kapitänin eines Handelsschiffs lässt ihre Crew in den Ozean springen und bleibt allein zurück. Das Prosadebüt der Lyrikerin Mariette Navarro ist eine poetische Reflexion über existenziellen Taumel im tiefen Wasser.
Wer technischen Verstand besitzt und etwas von Schiffssicherheitsgesetzen versteht, wird den Roman „Über die See“ nach 15 Seiten in die Ecke feuern – und verpassen, wie bildstark und packend Mariette Navarro vom mentalen und seelischen Kontrollverlust auf offener See erzählt.
Die Kapitänin eines den Atlantik kreuzenden Handelsschiffes erlaubt ihrer zwanzigköpfigen Crew, im Ozean zu schwimmen. In Navarros Geschichte lässt die Crew die Chefin sogar allein auf dem Riesenfrachter zurück, und es bleibt auch niemand im herabgelassenen Rettungsboot, um notfalls wegtreibende Schwimmer aus dem Meer zu fischen.
Als nach dem Passieren der Azoren der Kontakt mit dem Festland endet, lässt die Kapitänin den Radar und die Motoren des Hunderte Tonnen schweren Metallgiganten ausschalten. Von der Brücke aus scheint es, als stecke das angehaltene Schiff „in einem blauen Stoffkreis“ fest. Die Autorin ignoriert die unverzeihlichen Taten und blickt aus einer noch höheren Warte auf die Ausnahmesituation. Für sie hat sich das Schiff „in einen toten, genadelten, wunderschönen Schmetterling verwandelt“.

Poetische Reflexion über den existenziellen Taumel

Mariette Navarro ist Lyrikerin und arbeitet als Theaterdramaturgin. Ihr Debütroman, für den sie in Frankreich 2022 den „Léonora Miano-Preis der Grenzen“ erhielt, ist vor allem eine poetische Reflexion über den existenziellen Taumel, den eine kleine Gruppe von Seeleuten in tiefem Wasser erlebt.
Mit angehaltenem Atem liest man, wie sich nach und nach mentale und emotionale Abgründe auftun. Die Wassermasse lastet schwer auf dem Brustkorb der Schwimmer und der Lärm, den die gegen den Bug schlagenden Wellen und der tosende Wind verursachen, ängstigt sie.
„Sie wissen nicht mehr, ob ihr Arm die Welle durchtrennt oder ob die Welle ihren Arm packt, wissen nicht mehr, ob sie über ihre Richtung bestimmen oder ob das Rettungsboot sich entfernt.“ Mariette Navarro findet präzise Worte für das soghafte Schwindelgefühl, das die Matrosen und Offiziere ergreift. Nach einer halben Stunde sind sich alle „ihrer Nichtigkeit und Unwissenheit schrecklich bewusst“.

Abgegriffene Herz-Motor-Metapher

Nach dem unerhörten Regelbruch auf hoher See ist nichts mehr wie vordem. Der gewaltige Schiffsmotor, dieses dumpf schlagende „Herz“, pumpt wieder, aber der Frachter kommt kaum mehr voran. Erst als die zu ihrer gewohnten Strenge zurückgekehrte, aber im Innersten verunsicherte Kapitänin ihre Empfindsamkeit entdeckt, nimmt das Schiff wieder Fahrt auf.
Die abgegriffene Herz-Motor-Metapher und der Vergleich des dienstbaren Frachters mit einem wilden, aber permanent zur Zurückhaltung gezwungenen Tieres rauben der fantastischen Narration leider etwas von ihrer Kraft.
Dem Roman vorangestellt hat die Autorin einen Gedanken von Aristoteles. Er teilte die Menschheit in Lebende, Tote und Seefahrer. Navarro interessieren die vom „Land Verstoßenen“, die nach dem Zwischenreich süchtigen Seeleute.
In kunstvoll eingestreuten Passagen zitiert sie Legenden von angespülten Wracks und erfindet die Geschichte eines Kapitäns, dessen Schiff eine Woche lang vom Radar verschwand, weil es sich „in den verschlungenen Pfaden der Raumzeit verloren“ hatte. Rückblenden, Einschübe, Perspektivwechsel und mythologische Anspielungen machen dieses poetische Prosadebüt zu einem aufwühlenden und sehr anregenden Leseerlebnis.
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