Türkische Gastarbeiterinnen

Zwischen Heimat und Heimweh

29:08 Minuten
Eine türkische Gastarbeiterfamilie steht vor dem Tor der Opel-Werke in Rüsselsheim im Jahr 1984.
Familie vor dem Tor der Opel-Werke: Mehr als 850.000 Arbeiter und Arbeiterinnen kamen im Zuge des 1961 geschlossenen Anwerbeabkommens aus der Türkei nach Deutschland. © imago / Sommer
Von Luise Sammann · 12.04.2021
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Als die türkischen Gastarbeiter der ersten Generation nach Deutschland kamen, waren viele Arbeiterinnen unter ihnen. Ihre Geschichte findet selten Beachtung. Auch weil die Frauen neben Schichtdienst und Haushalt kaum Zeit hatten, Deutsch zu lernen.
Der hölzerne Koffer, den Hatice Alkan durch einen Probenraum in Berlin schleppt, ist fast so schwer, wie sie selbst. Zu groß, zu klobig für die zierliche 77-Jährige mit den weißen Haaren. Kaum vorstellbar, dass sie ihn alleine tragen kann.
"In der Probe haben wir diesen Holzkoffer weggelassen, damit sie sich nicht so anstrengt", sagt Zoe Tomruk. Sie leitet beim Berliner "Theater der Erfahrungen" die Gruppe, in der Hatice seit acht Jahren Theater spielt. "Vergissmeinicht – unutma beni" heißt das aktuelle Stück. Hatice spielt die Hauptrolle.
"Es ist so ein Original-Holzkoffer. Beim Auftritt, weil das ja so ein wichtiges Requisit ist, haben wir sie wieder darauf angesprochen, ob das geht, ob wir vielleicht einen leichteren Koffer nehmen. Da hat sie gesagt: Nein, nein, nein. Das muss so sein. Das ist die Szene. Und das war gut so. Also, sie wollte."

Ihre drei Kinder blieben zurück

Der schwere Koffer gehört zu Hatices Leben. Auch diesmal schafft sie es, ihn hochzustemmen. Allein. Ohne Hilfe. So wie sie immer alles allein geschafft hat, seit sie vor fast 50 Jahren ihr Dorf in der Türkei verließ und zum Arbeiten nach Deutschland kam. Den schweren Holzkoffer hatte sie damals dabei. Die drei Kinder – das jüngste noch nicht einmal abgestillt – blieben zurück.
"Meine kleine Tochter weinte schrecklich damals. Meine Schwester nahm sie und sagte: Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um sie. Sie hat sie sogar für mich gestillt. Ich habe fünf Kilo abgenommen nach meiner Ankunft hier, vor Schmerz, weil ich meine Kinder verlassen hatte. Es gab ja nicht mal ein Telefon in unserem Dorf damals. Wie hätten wir sprechen sollen? Ich konnte ihnen nur Briefe schreiben. Darin fragte ich: Wie geht es euch? Haben die Großen mit der Schule begonnen? Weinen sie viel? Meine Schwester schrieb zurück: Mach dir keine Sorgen."

Geschichten von Leid, Mut und Willenskraft

Pause im "Theater der Erfahrungen". Hatices braune Augen wandern zurück in die Gegenwart. Auf einem Kantinenwagen stehen Teller mit belegten Brötchenhälften für die Schauspielerinnen bereit. Auch Hatice haben die Proben hungrig gemacht. Safiye, um die 60, folgt ihr langsam mit dem Blick.
"Wenn man selber Mutter ist, dann versteht man wirklich, was die erlebt haben, mein Gott. Auch ich habe ein nicht so einfaches Leben gehabt. Aber die erste Generation, auch meine Eltern: viel schlimmer."
Porträt von Hatice Alkan
Mit 19 Jahren kam Hatice Alkan aus dem kleinen Ort Uzunköprü bei Edirne nach Deutschland.© Deutschlandradio /Luise Sammann
Safiye schluckt schwer. Hatices Geschichte, die ihrer Kinder, ist auch ihre eigene. Hatices Schmerz ist auch ihr Schmerz.
"Ich bin zweite Generation. Meine Eltern waren hier. Meine Mutter und mein Vater: Die mussten herkommen, wegen Schulden, keine Arbeit, das und dies. Weil ich selber eine Mutter bin, weiß ich jetzt, wie schlimm das ist. Auch für uns war es schlimm. Aber wir waren Kinder. Als Kind, da vergisst man das, aber als Mutter ist das nicht so, als Vater ist das nicht so."

Wenn Safiye nicht Theater spielt, arbeitet sie als Pflegeassistentin in einer Wohngemeinschaft für türkischstämmige Senioren. Geschichten wie die von Hatice, Geschichten wie ihre eigene begegnen ihr dort jeden Tag: Geschichten von großem Leid, aber auch von Mut und Willenskraft. Häufig ist Safiye die erste, die davon erfährt.
"Viele wollen über diese Geschichten nicht reden. Viele wollen das nicht. Vielleicht tut es immer noch weh – oder mancher versteht das nicht. Ich weiß es nicht. Ich habe auch später Geschichten erfahren. Aber normalerweise müsste uns Mutter davon erzählen. Das hat sie aber nicht gemacht. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wollte sie selber vergessen."

Frauen waren begehrte Arbeitskräfte

Vielleicht aber wurden sie auch einfach zu selten danach gefragt. Die sogenannten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen von damals – vielleicht fragen wir sie auch heute noch zu selten.
Mehr als 850.000 türkische Arbeitskräfte reisten nach Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei zwischen 1961 und 1973 nach Deutschland ein. Mindestens jede fünfte von ihnen war eine Frau.
"In der Textil- und optischen Industrie waren oft sehr feine Arbeitsprozesse zu bewältigen, für die man kleine, geschickte Hände gut gebrauchen konnte. Das war also eine Anforderung speziell an weibliche Arbeitskräfte aus südlichen Ländern, die da oft besonders geschickt mit ihren Händen waren", erzählt Mathilde Jamin, Historikerin, Mitherausgeberin des Bildbandes "Fremde Heimat. Yaban Silan olur. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei". "Dass gerade Frauen begehrte Arbeitskräfte waren, führte dann dazu, dass häufiger türkische Frauen alleine ohne ihre Ehemänner nach Deutschland gingen – und eben nicht als Ehefrauen kamen, sondern selbst als angeworbene Arbeitsmigrantinnen."

Aufwendiges, bürokratisches Auswahlverfahren

Mehr als 600.000 offene Stellen gab es 1961 in Deutschland zum Zeitpunkt des Anwerbeabkommens mit der Türkei. In den Folgejahren stieg die Zahl gar auf 850.000 an. Arbeitslosigkeit dagegen gab es im Wirtschaftswunderland zunächst kaum.
Um die offenen Stellen in Fabriken, Minen und Betrieben möglichst effizient zu besetzen, baute die Bundesagentur für Arbeit ein aufwendiges, hochbürokratisches Netzwerk in den einzelnen Anwerbeländern auf.
"Die Leute kamen nicht einfach zu uns. Die wurden geholt – und zwar von deutscher Seite in einem sehr aufwendigen System. Die Deutsche Verbindungsstelle in Istanbul hatte auf dem Höhepunkt ihrer Tätigkeit 170 Beschäftigte, die nichts anderes taten, als diesen Auswahlprozess in Zusammenarbeit mit der türkischen Arbeitsbehörde in die ihnen nötig erscheinenden Formen zu bringen: Überprüfung der Menschen, Auswahl der Bewerber."
Eine dieser Bewerberinnen ist Hatice, 19 Jahre, aus dem kleinen Ort Uzunköprü bei Edirne. Um sich selbst und die drei Kinder nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Mannes durchzubringen, arbeitet sie als Tagelöhnerin auf den Feldern der Umgebung, erntet Sonnenblumenkerne und Wassermelonen. Zweieinhalb Lira verdient sie an guten Tagen. Mal reicht das gerade, um alle satt zu kriegen, mal nicht.
Als eine Nachbarin ihr von Deutschland erzählt, besteigen die Frauen kurz entschlossen einen Bus der türkischen Arbeitsverwaltung in Richtung Istanbul. "In Istanbul mussten wir tagelang an Gesundheitsuntersuchungen teilnehmen. Jeden Tag untersuchten uns andere Ärzte. Bevor es losging, gaben sie uns einen Zettel, darauf stand: Wenn du fehlende Zähne hast, lass sie dir ersetzen. Ich hatte eine Zahnlücke und ging zum Zahnarzt. Außerdem schnitt ich meinen langen Zopf ab. Sie sagten, Bewerberinnen dürfen nicht schwerer als 60 Kilo sein. Ich hatte mit langen Haaren 61 gewogen."

Körperlich zupackende Menschen – Bildung Nebensache

"Die wollten körperlich zupackende Menschen haben. Dementsprechend ist man ja auch bei diesen Anwerbeteams so vorgegangen, dass man körperlich und psychisch gesunde Menschen quasi akquiriert, rekrutiert hat. Bildung hat da wenig Rolle gespielt", sagt Meryam Schouler-Ocak. Sie ist Professorin für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie und Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus.
Zahlreiche ihrer Patientinnen und Patienten kamen einst als Arbeitsmigranten nach Deutschland. "Was mich auch manchmal ziemlich fassungslos macht, ist die Tatsache, dass man bewusst nicht gebildete Menschen angeworben hat – und heute diesen Menschen ein Stück weit so im Nachhinein vorwirft, dass sie nicht gebildet sind, also bildungsfern sind, besser gesagt."

Die Schatten der NS-Zeit

Fotos von den damaligen Gesundheitsuntersuchungen in Istanbul zeigen durchnummerierte Menschen in Unterwäsche. Wenn die Kameras aus waren, musste auch die meist fallen. Wer sich weigerte, wurde aussortiert. Nichts, was den deutschen Krankenkassen langfristig zur Last fallen würde, durfte den Augen der deutschen Beamten und Ärzte und ihren türkischen Helfern entgehen.
Und mehr noch: "Das Bundesinnenministerium hatte es geschafft, in den Text des Anwerbeabkommens die Formulierung reinzubringen, dass die gesundheitliche Überprüfung – die sonst normalerweise bezeichnet wurde als eine für den angebotenen Arbeitsplatz, was ja in Ordnung ist – aus seuchenhygienischen Gründen durchgeführt werden sollte. Das heißt also eine Mentalität – es war 1961 und die NS-Zeit war noch nicht sehr lange her –, eine Mentalität, die auf fremde Kultur mit dem Stichwort Seuchengefahr reagiert."
Hatice Alkan aus Uzunköprü bei Edirne schafft es. Während die Nachbarin enttäuscht nach Hause zurückkehren muss, weil ihr Mann die für Frauen nötige Einverständniserklärung verweigert, darf die 19-jährige Mutter von drei Kindern zur Arbeit nach Deutschland.
"Ich habe mir Deutschland großartig vorgestellt. Mein Onkel, der auch dort lebte, kam einmal mit einem Auto in unser Dorf gefahren, gemeinsam mit einem Freund. Sie hatten beide schicke Hüte auf. Er sagte: Du wirst nach Berlin kommen. Das ist die größte und schönste Stadt in ganz Deutschland. Du wirst viele türkische Freunde finden."

Positive Aufbruchsstimmung unter den Angeworbenen

Ein Flugzeug bringt Hatice nach Deutschland. Die über 50-stündige Zugfahrt ab Istanbul, die Hunderttausende andere in dieser Zeit überstehen müssen, bleibt Frauen wie ihr größtenteils erspart.
"Das war mein erster Flug. Wo hätte ich schon hinfliegen sollen? Das Flugzeug war voller junger Türkinnen. Sie sangen laut: Seht her, wir gehen nach Deutschland. Einige tanzten den ganzen Flug über auf ihren Sitzen."
Auch Historikerin Mathilde Jamin betont die positive Aufbruchstimmung, die damals unter den angeworbenen Arbeitern und Arbeiterinnen herrscht: "In den Fotografien der 60er- und 70er-Jahre sieht man junge, optimistische Menschen im Wesentlichen in die Kamera gucken. Die Frauen durchweg ohne Kopftuch, oft im Minirock, die Männer im Biergarten sitzend und optimistisch blickend, junge Menschen, die dieses fremde Land für sich entdecken und erschließen. Diese Leute waren ja schon eine starke Auslese insofern, als sie die Kraft und die Initiative aufgebracht haben, um diesen ganzen Auswahlprozess zu durchlaufen und zu ertragen und es überhaupt bis nach Deutschland zu schaffen. Das setzte ja erst schon mal starke Charaktere voraus, und die kamen mit einer positiven Grundstimmung, etwas daraus zu machen, und damals auch sehr weltoffen, interessiert an den fremden Ländern, in die sie kamen."

"Fleißige Menschen sind gut angesehen"

"Aus dem Ratgeber für türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung in Zusammenarbeit mit der Generaldirektion der Türkischen Arbeitsverwaltung, 1963:
Sie haben Sich entschlossen, in der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Fleißige Leute sind in der Bundesrepublik gut angesehen. Die Bundesrepublik entbietet Ihnen, die Sie fleißige Menschen sind, ein herzliches Willkommen und versichert Ihnen, dass Sie sich auf Ihre Gastfreundschaf verlassen können.
Die Deutschen verhalten sich anderen Völkern gegenüber im Allgemeinen zurückhaltend. Aber sie sind hilfsbereit und in ihren Kontakten zu Ausländern verständnisvoll.
Besonders dann, wenn der Ausländer ein fleißiger Mensch ist, und wenn sie sehen, dass er aufrichtig seine Arbeit tut, bringen sie ihm Hochachtung entgegen. Diese beiden Dinge, Fleiß und Aufrichtigkeit, sind die besten Mittel, damit Sie Nähe und Freundschaft zu einem Deutschen aufbauen können."

Mit dem großen hölzernen Koffer, einem neuen Mantel und den ersten Paar Hosen ihres Lebens beginnt Hatice ihr neues Leben in Deutschland. Die von türkischen und deutschen Zeitzeugen teilweise als menschenunwürdig beschriebenen Zustände im Arbeiterwohnheim machen ihr nichts aus. Sie kennt keinen Luxus. Die Zehn-Stunden-Tage als Reinigungskraft erledigt sie klaglos. Harte Arbeit ist sie gewöhnt. Und doch werden Freude und Stolz, in Deutschland zu sein, jeden Abend in Tränen erstickt.
Menschen mit Plakat vor einem Haus: Proteste gegen Mietwucher an türkischen Gastarbeitern 1968. 
Proteste gegen Mietwucher an türkischen Gastarbeitern 1968. Die Zustände in den damaligen Arbeiterwohnheimen wurden als menschenunwürdig beschrieben.© picture alliance / dpa / Klaus Rose

Neben der Arbeit blieb keine Zeit für die Kinder

Sie sehnt sich nach ihren Kindern, die in der Türkei bei Tante und Großmutter zurückgeblieben sind. Die Kleinste gerade einmal ein Jahr alt. Erst als die Mutter Jahre später erkrankt und die Schwester selbst nach Deutschland aufbricht, holt Hatice ihre drei Kinder von Uzunköprü nach Berlin.
"Meine kleine Tochter war noch so klein gewesen. Die beiden Größeren kannten mich noch. Aber die Kleine wollte die ganze Zeit nur zu ihrer Großmutter zurück. Sie behandelte mich, als wäre ich irgendeine Tante, stieß mich beim Ins-Bett-Bringen von sich. Sie nannte ihre Großmutter Oma, aber sie liebte sie wie ihre echte Mutter."

"Das berichten die Patienten und Patienten auch, dass sie zum Beispiel die Kindheit ihrer Kinder überhaupt nicht mitbekommen haben, gar nicht, überhaupt gar keine Beziehung zu den Kindern aufbauen konnten", sagt die Psychotherapeutin Meryam Schouler-Ocak von der Berliner Charité. "Und oftmals ist das auch so, dass da unüberbrückbare Barrieren nach wie vor existieren."
"Ich höre zum Beispiel von meiner Generation, die sind sauer auf Mutter oder Vater. Wir sind drüben geblieben, und die haben hier gelebt und ein schönes Leben gehabt. Das stimmt aber nicht", sagt Safiye, Tochter von Arbeitsmigranten der ersten Generation. "Weil die zweite Generation, die denken: Meine Eltern haben mich damals allein gelassen. Ich lasse die jetzt auch allein. Soweit sind wir. Es ist wirklich traurig. Wir haben zum Beispiel eine Bewohnerin, die lebt seit drei Jahren bei uns. Ich kenne die Kinder nicht. Die habe ich nie gesehen! Wir haben fast 50 Bewohner und immer das gleiche Problem."
Die junge Hatice arbeitet weiter. Vollzeit. Auch als die Kinder da sind. Sechs Tage die Woche putzt sie je nach Dienstplan Hotels, Schulen, Kindergärten, am siebten die Privatwohnung eines Arztes. Jeden Groschen, der am Ende des Monats überbleibt, spart sie. Die Kinder sollen es einmal besser haben als sie.
"Es war sehr schwer, sie groß zu ziehen. Oft hatte ich kein Geld, nichts. Ich stand morgens um vier Uhr auf, um alles vorzubereiten und um sechs Uhr bei der Arbeit zu sein. Von da rief ich dann an, um sie für die Grundschule zu wecken. Mädchen, seid ihr wach? Ja, Mama, wir sind wach. Wir gehen schon. Es war sehr schwer."
Drei Frauen werfen sich im Park einen Ball zu.
Neben der Arbeit blieb wenig Zeit fürs Vergnügen: Hatice Alkan beim Ballspielen im Gleispark in Berlin in den 70er-Jahren.© privat

Keine Hilfe, keine Beratung

Die Töchter gehen zur Schule. Ihr Bruder tut es nicht. Als sich eines Tages Schule und Jugendamt einschalten, weil er seit 40 Tagen nicht zum Unterricht erschienen ist, fällt Hatice nichts anderes ein als zuzuschlagen. Der Sohn kommt ins Heim. Niemand sagt der erschöpften Mutter, wie sie es hätte besser machen können.
"Es gab sicherlich keine politische Planung, dem Umfeld und den Familien der Arbeitsmigranten das Leben in Deutschland zu erleichtern oder die da einzuführen sozusagen, zumindest nicht zu Beginn. Das hätte ja bedeutet, dass sich da irgendjemand Gedanken macht, sozusagen. Wer hätte das sein sollen? Es gab niemanden, der zuständig gewesen wäre, sich über solche Zukunftsfragen Gedanken zu machen."

Die zweite Generation hat sich selbst großgezogen, heißt es heute in deutschtürkischen Familien oft. Mal wird darüber gelacht, mal geklagt. Auch Stolz schwingt häufig mit. Gerade dann, wenn die Kinder nicht nur äußerlich unbeschadet durchkamen, sondern am Ende gar in der deutschen Gesellschaft aufstiegen. Psychotherapeutin Meryam Schouler-Ocak weiß, dass auch dieser Erfolg seine Schattenseite hatte.
"Letztendlich haben die Kinder ein Stück weit die Elternfunktionen übernommen oder eben ein Stück weit viele Dinge für die Eltern erledigt, was wiederum die Eltern in eine noch schwierigere Situation zurückversetzt. Nicht nur, dass sie irgendwie kaum Unterstützung bekommen haben, jetzt sind sie auch nach Jahren da und bleiben immer im Hintergrund. Fast immer sind es andere, die für sie irgendetwas machen. Das macht natürlich was mit deren Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und so weiter und auch gegenüber den Kindern."
Porträtaufnahme der Psychotherapeutin Meryam Schouler-Ocak
Zu ihren Kindern konnten die hart arbeitenden Gastarbeiter der ersten Generation oft kaum eine Beziehung aufbauen, weiß Psychotherapeutin Meryam Schouler-Ocak. © privat

Sprachlosigkeit und Scham bleibt

Es ist die Sprachlosigkeit in Deutschland, die viele Eltern zu Kindern werden lässt – die Hilflosigkeit, auch die Scham, sich nicht äußern, nicht helfen zu können. Flächendeckende Angebote, ein Konzept, das auch die folgenden Generationen einschließt, gibt es nicht. Staat und Gesellschaft überlassen die angeworbenen Arbeitskräfte und ihre Familien im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst – und dem Zufall.
"Die Chefin der Kita, in der ich putzte, fragte mich eines Tages, ob wir Türkisch zu Hause sprächen. Sie sagte, dass es besser für die Noten meiner Tochter wäre, wenn wir Deutsch sprechen würden. Ich sagte: Das kann ich nicht. Dafür reicht mein eigenes Deutsch nicht. Da bot sie mir an, Nuray zu sich zu nehmen. Sie lebte über Monate bei ihr, während ich selbst zehn Stunden am Tag arbeitete."
Hatices Kinder lernten Deutsch, schafften die Schule, machten Ausbildungen als Erzieherin und Buchhalterin. Auch Hatice ging ein paar Mal zu einem Abendkurs, nachdem sie bei der Arbeit wegen eines Missverständnisses weinend zusammengebrochen war, sich nicht erklären konnte. Doch neben der Erziehung der Kinder und dem Vollzeitjob als Reinigungskraft blieb nie genügend Zeit für die deutsche Sprache.
"Die erste Generation, was für Möglichkeiten haben die denn gehabt? Mein Vater hat zum Beispiel vor 40 Jahren drei Schichten gearbeitet. Meine Mutter hat auch gearbeitet. Die konnten nur arbeiten!", erzählt Safiye, zweite Generation. "Auch in meiner Zeit gab es keinen Sprachkurs. Wenn man 13, 14 ist oder noch kleiner, kann man in die Schule gehen. Kindergarten – vor 40 Jahren, gab es da genug Kindergärten? Ich war 15 Jahre alt, als ich hierherkam. Da war die Schulpflicht vorbei. Berufsschule einmal die Woche. Und das Komische war, unser Lehrer war Türke und die Klasse war auch türkisch. Da konnte ich kein Deutsch lernen. Da hat der Staat leider wirklich geschlafen, aber richtig tief. Der Staat dachte, die kommen arbeiten und gehen. Er hat vergessen, dass die Familien haben."

Einwanderung wider Willen

Familien, für die sich lange Zeit niemand zuständig fühlte. Gastarbeiterfamilien. Türken. "Deutschland ist kein Einwanderungsland", behauptete Bundeskanzler Helmut Kohl noch 1989 in seiner Regierungserklärung. Mehr als 25 Jahre, nachdem Hatice mit ihrem hölzernen Koffer in Berlin angekommen war, angeworben von der Bundesrepublik Deutschland.
"Das lag natürlich daran, dass das Ganze überhaupt nicht auf Dauer gedacht war, und zwar von keiner der beteiligten Seiten", erklärt die Historikerin Mathilde Jamin die jahrzehntelange Passivität. "Die deutsche Seite suchte für eine befristete Zeit Arbeitskräfte, und die türkischen Bewerber und Bewerberinnen ließen sich darauf ein, weil sie die Hoffnung hatten, in wenigen Jahren mit dem deutschen Lohn das anzusparen, was sie für eine kleine Unternehmensgründung oder für einen Hauskauf in der Türkei brauchten, um sich dann, nach ihrer Rückkehr eine Existenz in der Türkei aufzubauen."
Auch Hatice hält der Gedanke an eine Rückkehr in die Heimat am Leben, wenn sie Böden schrubbt, Toiletten putzt, Kohlen in die kleine Zweizimmerwohnung schleppt, die sie mit ihren drei Kindern bewohnt.
"Schon im Arbeiterwohnheim sagten wir immer zueinander: Wenn wir genug Geld für ein Häuschen in der Türkei haben, dann gehen wir zurück."
Doch aus Jahren wurden Jahrzehnte. Mehr als ein halbes Leben verging mit dem Blick auf den immer fertig gepackten Koffer in der Zimmerecke. Bald. Irgendwann würde sie ihn wieder mitnehmen. Wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Wenn der Kredit für das Häuschen in der Türkei abbezahlt ist. Spätestens aber im Ruhestand. Ein Leben unter Vorbehalt.
"Und das ist eine exakte Abbildung dieses Einwanderungsprozesses, der anfangs nie, von keiner der beteiligten Seiten, als Einwanderungsprozess geplant war. Es handelte sich eigentlich um Einwanderer wider Willen in einem Einwanderungsland wider Willen."

Kein Dankeschön, kein Respekt

Und doch sind sie da. Die Hatices, die Safiyes und Meryams – ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Einst Gastarbeiter genannt. Ausländer geschimpft. Männer und Frauen, angeworben und eingeladen von der Bundesrepublik Deutschland, in aufwendigen Auswahlverfahren für gut genug befunden, das deutsche Wirtschaftswunder mitzugestalten.
"Sie haben ihre Schuldigkeit getan und wurden so ein bisschen aussortiert. Dieses Gefühl ist da. Man interessiert sich für sie einfach nicht, was ja sehr schade ist, weil, ich würde das gerne unterstreichen: Das ist die Generation, die ein Stück weit zum Aufbau Deutschlands beigetragen hat. Und ich glaube, anstatt den Respekt und Dankeschön zu äußern, haben sie echt das Gefühl, sie werden zur Seite geschoben. Ich habe sehr viele Patienten gesehen, die am Akkord oder unter Tage oder wo auch immer wirklich alles gegeben haben und dort auch berichtet haben, dass ganze Schichten, Belegschaften eigentlich aus Personen mit Migrationshintergrund stammten, die wirklich tolle Arbeit geleistet haben – und so im Nachhinein, das wird überhaupt nicht mitgeteilt. Es wird überhaupt nicht gesehen. Das waren ja nicht ein, zwei, das waren Millionen von Menschen. Es sind Zeitzeugen. Trotzdem hört sich keiner ihre Geschichten an."

Noch ist es nicht zu spät, sie zu fragen – und auch nicht, ihnen die Anerkennung und das Verständnis zu geben, die sie für ihre Lebensleistung verdienen. Heute, 60 Jahre nach Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei.
"Ich bin froh, dass ich damals gekommen bin. Das Haus meiner Mutter war aus Holz, das Dach wäre eines Tages über unseren Köpfen zusammengestürzt. Woher hätte ich im Dorf das Geld nehmen sollen, es zu reparieren? Nein, ich habe nie etwas bereut. Wenn ich noch einmal 18 Jahre alt wäre, würde ich wieder nach Deutschland kommen. Aber diesmal würde ich Deutsch lernen wollen. In diesem Leben fehlten mir das Geld und die Zeit dafür."
Gastarbeiter aus der Türkei sitzen nach ihrer Schicht auf einer Bank auf dem Gelände der Zeche Neu-Monopol in Bergkamen im Kreis Unna.
Arbeiten fürs Wirtschaftswunderland: Türkische Arbeiter nach der Schicht auf der Zeche Neu-Monopol in Bergkamen.© picture-alliance / dpa / Schulte

Regie: Frank Merfort
Ton und Technik: Ralf Perz
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherinnen: Luise Sammann, Ilka Teichmüller
Sprecher: Romanus Fuhrmann

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