Türkei-Debatte

Vom Sinn und Unsinn historischer Vergleiche

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht am 7. August 2016 bei einer Großkundgebung in Istanbul, bei der Hunderttausende gegen den Mitte Juli gescheiterten Militärputsch demonstriert haben.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht bei einer Großkundgebung in Istanbul. Die Entwicklung in der Türkei wird derzeit oft mit der politischen Situation 1933 in Nazi-Deutschland verglichen. © AFP - Ozan Kose
Jörn Leonhard im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 09.08.2016
Angesichts der politischen Entwicklungen in der Türkei werden derzeit schnell historische Vergleiche mit Nazi-Deutschland gezogen. Der Historiker Jörn Leonhard hält das für wenig sinnvoll: Das analytische Potential solcher Vergleiche sei gering.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat Parallelen zwischen der aktuellen Entwicklung in der Türkei und dem Geschehen 1933 in Nazi-Deutschland gezogen. "Wir erleben einen Staatsputsch von oben wie 1933 nach dem Reichstagsbrand: Er baut ein autoritäres Regime auf, zugeschnitten allein auf seine Person", sagte Lindner in einem Zeitungsinterview.
Doch wie sinnvoll sind solche historischen Vergleiche? Er habe Verständnis für diese Herangehensweise, sagte der Freiburger Historiker Jörn Leonhard im Deutschlandradio Kultur. Damit versuche man offenbar, die Komplexität der Ereignisse zu strukturieren:
"Ich bin aber sehr skeptisch, was das analytische Potential solcher Vergleiche angeht. Wenn sie mit 1933 oder 1936 oder 1938 argumentieren, dann legen sie ja nahe, dass sie wissen, wie diese Geschichte weiter geht. Und darin liegt, glaube ich, das Grundproblem dieses historischen Vergleichs. Wenn wir die Türkei in diese Richtung interpretieren, dann legen wir ja nahe, dass wir wissen, was als nächstes kommt. Und das verstellt den Blick auf die Gegenwart, die an vielen Stellen mit diesen Dingen nicht vergleichbar ist."

Aus dem Druck der Medien entsteht ein Ringen um Deutungshoheit

Die Inflation an historischen Vergleichen hänge mit einem gewissen Druck aus der Welt der Medien zusammen, meinte Leonhard:
"Die Komplexität in Medien sofort zu kommentieren und damit zu zeigen, dass man noch die Deutungshoheit hat. Ich würde das eher als ein Symptom von modernen Gesellschaften interpretieren. Und auch da liegen natürlich fundamentale Unterschiede zu den Gesellschaften der zwanziger und dreißiger Jahre."

Historische Analogien können ein "Frühwarnsystem" sein

Der Blick in die Geschichte sei durchaus sinnvoll, betonte Leonhard – allerdings nicht im Sinne von "Geschichte wiederholt sich, und wir wissen, was in zwei oder drei Jahren passiert":
"Sondern in dem Sinne: Wenn ich mich mit diesen Analogien auseinandersetze, dann kann ich bestimmte Entwicklungen durchaus auch im Sinne eines Frühwarnsystems erkennen. Nehmen Sie das Denken in Freund/Feind-Kategorien. Oder nehmen Sie die Problematik, dass im Augenblick in vielen demokratischen Gesellschaften so eine Art Doppel-Konflikt aufscheint: Die Bedrohung von außen, aber auch die Infragestellung der Demokratie durch neue populistische Bewegungen."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Ein Staatsputsch von oben, wie nach dem Reichstagsbrand 1933. FDP-Chef Christian Lindner hat diesen Vergleich aufgemacht, er sieht Parallelen zwischen der aktuellen Entwicklung in der Türkei und Nazi-Deutschlands 1933. Gestern früh bei uns im Deutschlandradio Kultur der SPD-Politiker Erol Özkaraca mit ganz ähnlichen Eindrücken nach den Bildern von Erdogans Groß-Demo in Istanbul:
Erol Özkaraca: Es erinnert mich ein bisschen an die Nürnberger Parteitagsveranstaltung. Das deutsche Volk oder ein Großteil des deutschen Volkes hat aus tiefer innerer Überzeugung den Führer gewählt.
Frenzel: Erol Özkaraca, der SPD-Mann, der erklärt, warum so viele hinter Erdogan hinterherlaufen. Christian Lindner, der Liberale, zwei Stimmen eines um sich greifenden Gefühls, nicht nur wenn wir auf die Türkei schauen. Erleben wir gerade eine Rückkehr der Despotie, des Populismus und der Demokratiefeindlichkeit so wie in den dunkelsten Jahren unseres Kontinentes? Fragen wir den Historiker, fragen wir Jörn Leonhard, Professor für Neuere und Neuste Geschichte in Freiburg. Guten Morgen.
Jörn Leonhard: Guten Morgen, Herr Frenzel.

Das Grundproblem des historischen Vergleichs

Frenzel: Können Sie diese Vergleiche nachvollziehen?
Leonhard: Ich kann vor allem nachvollziehen und verstehen, dass Zeitgenossen in der Gegenwart auf diese große Verunsicherung mit historischen Vergleichen reagieren und damit versuchen, diese Komplexität von Dingen irgendwie zu ordnen und zu strukturieren.
Ich bin aber sehr skeptisch, was das analytische Potenzial solcher Vergleiche angeht. Wenn Sie mit 1933, 1936 oder 1938 argumentieren, dann legen Sie ja nahe, dass Sie wissen, wie diese Geschichte weitergeht. Und darin liegt glaube ich das Grundproblem dieses historischen Vergleichs. Wenn wir die Türkei in diese Richtung interpretieren, dann legen wir ja nahe, wir wissen, was als Nächstes kommt. Und das, glaube ich, verstellt den Blick auf die Gegenwart, die an vielen Stellen mit diesen Dingen nicht vergleichbar ist.
Frenzel: Aber vielleicht hilft das ja dabei zu analysieren, in welcher Phase wir uns befinden und wie wir auch auf bestimmte Phänomene reagieren müssen. Ich nenne mal wieder einen Vergleich: Ist das, was der Westen da gerade macht, Appeasement?
Leonhard: Also, wir brauchen solche Analogien, aber wir brauchen sie, glaube ich, vor allen Dingen, um die Unterschiede zu erkennen. Wenn ich Appeasement benutze als ein Schlagwort, dann lege ich ja nahe, wir müssen anders reagieren, weil wir wissen, was aus dem Appeasement der Westmächte gegenüber Hitler geworden ist. Und das setzt immer voraus, dass es absolute Analogien gibt, aber die gibt es eben nicht. Deshalb finde ich die Analogie immer dann wichtig, wenn man sich das Bewusstsein bewahrt, wo die Unterschiede liegen.
Ich will mal ein paar Punkte nennen: Wir haben im Augenblick keine Situation wie nach dem Ersten Weltkrieg, wo in vielen Gesellschaften ein großer Revisionismus gegenüber diesen Friedensverträgen von 1919 herrscht. Wir haben im Augenblick in Europa keine um sich greifende Bürgerkriegskonstellation in den europäischen Gesellschaften, auch wenn es Gefährdungen gibt, ohne Zweifel. Wir haben keine fundamentale Wirtschaftskrise wie am Ende der 20er-Jahre mit sozialer Massenverelendung.

Komplexität der Medienwelt erzwingt den Kommentar

Aber dafür haben wir eine Dynamik in den Medien, nicht zuletzt in den sozialen Medien, die uns alle irgendwie zu unmittelbaren Zeitgenossen machen. Wir haben eine Überflutung mit Nachrichten, aber Nachrichten sind nicht per se Interpretationswissen. Und wir alle haben das Gefühl, dass wir diese Nachrichten strukturieren müssen und sie deuten müssen. Und Politiker müssen das heute in vielen sozialen Medien innerhalb von nicht Tagen, sondern Stunden oder Minuten.
Und ich glaube, die Inflation an historischen Vergleichen hat im Augenblick auch etwas mit diesem Druck zu tun, Komplexität in Medien sofort zu kommentieren und damit zu zeigen, dass man noch die Deutungshoheit hat. Ich würde das sozusagen eher als ein Symptom auch von modernen Gesellschaften interpretieren, und auch da liegen natürlich fundamentale Unterschiede zu den Gesellschaften der 20er- oder 30er-Jahre.
Frenzel: Aber möglicherweise liegt ja auch der Gedanke dahinter, dass man Fehler der Geschichte – das heißt es ja immer so schön – nicht wiederholen möchte. Ich komme noch mal auf Ihren Vergleich zurück, Sie haben Unterschiede dargestellt, ich versuche noch mal, Gemeinsamkeiten darzustellen. Wir sehen einen Aufstieg der Antidemokraten in ganz vielen verschiedenen Ländern in Europa, aber Sie können Donald Trump dazu nehmen, dann haben wir die ganze westliche Welt. Sind das nicht Phänomene, wo wir zumindest Erfahrungswerte haben, aus denen wir schöpfen können?
Leonhard: Wenn Sie diese, ich nenne das mal: Analogien mittlerer Reichweite - anwenden, dann, glaube ich, bringt dieser Blick in die Geschichte durchaus etwas. Aber nicht im Sinne davon, Geschichte wiederholt sich und wir wissen, was in zwei oder drei Jahren passiert, genau das funktioniert eben nicht. Sondern in dem Sinne, wenn ich mich mit diesen Analogien auseinandersetze, dann kann ich bestimmte Entwicklungen durchaus auch im Sinne eines Frühwarnsystems erkennen.
Nehmen Sie das Denken in Freund-Feind-Kategorien oder nehmen Sie diese Problematik, dass im Augenblick in vielen demokratischen Gesellschaften so eine Art Doppelkonflikt aufscheint, die Bedrohung von außen, aber auch die Infragestellung der Demokratie durch neue, populistische Bewegungen. Und das ist, glaube ich, ein Alarmsignal, ohne dass man jetzt argumentieren kann, das ist schon so wie in den 30er-Jahren und alles geht den Bach herunter.
Man darf sich sozusagen von diesen sinnvollen Analogien, dieser Suche nach möglichen Vergleichen nicht den Blick auf Alternativen und auf die Unterschiede verstellen lassen. Das ist das Grundproblem der, ich sage mal: Analogien im Modus des Schnellschusses, dass sie durch das Naheliegende, Determinierte der Geschichte den Blick auf die Alternativen, die es in der Gegenwart immer gibt und die es auch in den 20er- und 30ger-Jahren gegeben hat, verstellt. Das ist glaube ich die schwierige Balance.

Die heutige Einwanderungsgesellschaft im Unterschied zu den 30er-Jahren

Frenzel: Ist es denn eine sinnvolle Analogie, wenn man den Vergleich aufmacht: 20er-, 30er-Jahre, die Bedrohung der demokratischen Mitte einerseits vom Kommunismus, andererseits vom Nationalsozialismus, vom Faschismus, wenn wir heute sagen, wir haben wieder eigentlich eine Zangenbewegung, diesmal ist es der islamistische Terror einerseits, andererseits die Rechtspopulisten, die aus den Ländern hervorgreifen? Ist das eine Reichweite, die noch greift für Sie, und wenn ja, was bedeutet das für die Mitte?
Leonhard: Also, zunächst, glaube ich, ist es wichtig zu erkennen, dass die Gesellschaften, auf die diese Herausforderungen heute treffen, ganz andere Gesellschaften sind als die der 20er- oder 30er-Jahre. Wir haben es eben heute mit Einwanderungsgesellschaften zu tun, in denen multiple Identitätskonstrukte sozusagen zu allen möglichen Konflikten führen. Das unterscheidet sich von den Gesellschaften der 20er- und 30er-Jahre doch ganz erheblich. Und wir haben – ich will noch mal daran erinnern – es auch mit einer völlig veränderten Mediensituation zu tun, die ganz andere Herausforderungen auch an die politische Elite stellt.

"Wir sind alle unmittelbare Zeitgenossen"

Und wir alle sind da, wo etwas geschieht, unmittelbare Zeitgenossen. Wir können sozusagen am Life-Ticker sitzen, aber wir sind mit dieser Vielzahl an Nachrichten eben auch tendenziell überfordert. Und das erklärt, um es noch mal zu sagen, auch, warum wir dann zu historischen Vergleichen greifen. Also, insofern ist mir dieser Blick auf die Unterschiede schon wichtig, aber es gibt andererseits – Stichwort Analogie mittlerer Reichweite – dieses Warnsignal, dass Demokratien von innen und außen bedroht sein können. Und ich würde schon sagen, dass man aus den 20er- und 30er-Jahren auch erkennen kann, wo Probleme liegen. Also etwa in der Vorstellung, dass man mit Demokratiefeinden nur lange genug sprechen muss, reden muss, sie aufklären muss, bis sie ihre Fehler erkennen. Das hat in den 20er- und 30er-Jahren nicht viel gebracht und da wäre ich auch in der Gegenwart eher skeptisch.
Andreas Wirsching hat zu Recht gesagt, dass Feinde der Demokratie deshalb Demokratiefeinde sind, weil sie sich in diesem Freund-Feind-Schema eingerichtet haben, da ist es sehr viel wichtiger, dass man klar darauf hinweist, was die Werte einer Demokratie sind, was das Gewaltmonopol eines Staates bedeutet, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet, und sich nicht auf allzu viele rhetorische Kompromisse einzulassen.
Frenzel: Jörn Leonhard sagt das, Professor für Neuere und Neuste Geschichte in Freiburg. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Leonhard: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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