Pro-Erdogan-Demonstrationen

Wie beim Reichsparteitag?

Sie sehen hunderte türkische Fahnen auf einer Großkundgebung.
Neben Istanbul haben sich auch in Ankara hunderttausende Menschen versammelt, um gegen den Putschversuch zu demonstrieren. © AFP / Adem Altan
Erol Özkaraca im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 08.08.2016
Erol Özkaraca ist Rechtsanwalt und sitzt für die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. Von den inszenierten Massenaufmärschen Erdogans fühlt er sich an Deutschland 1933 erinnert. Zudem kritisiert er die Haltung der türkischen Sozialdemokraten zu Erdogan.
"Es erinnert mich ein bisschen an die Nürnberger Parteitagsveranstaltung", sagt der Berliner Rechtsanwalt und SPD-Politiker Erol Özkaraca über die jüngsten Massenkundgebungen auf Geheiß Präsident Erdogans. Die Menschen in der Türkei unterstützten Erdogan aus tiefer, innerer Überzeugung, betont er.
"Das erinnert mich ja auch an 1933 fortfolgende. Das deutsche Volk oder ein Großteil des deutschen Volkes hat aus tiefer innerer Überzeugung den Führer gewählt.
Özkaraca kritisiert auch die Haltung der türkischen Sozialdemokratie zu Erdogan:
"Dass die CHP insbesondere nicht erkennt, dass wenn sie sich hier in diesen Fragen mit Erdogan solidarisiert, die Demokratie in der Türkei mit abbauen hilft, das ist für einen Sozialdemokraten in Berlin schwer und unerträglich."

Unterschätzen deutsche Politiker die Gefahren der Gülen-Bewegung?

Der Berliner SPD-Politiker unterstützt die Forderung des Grünen-Chefs Cem Özdemir nach Offenlegung des Netzwerk der Gülen-Bewegung in Deutschland. "Nicht weil es im Interesse der türkischen Regierung ist, sondern weil es in unserem eigenen Interesse ist", betont Özkaraca.
"Viele Politiker in Deutschland glauben, es handele sich hier um eine Bewegung, die gerade im Bildungsbereich besonders zur Integration beitrage. Das muss kritisch hinterfragt werden. Ich glaube, da sind einige auf einem ganz großen Holzweg."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Mehr als eine Million Menschen gestern in Istanbul, wir haben gerade die Eindrücke unseres Korrespondenten gehört von dieser Großdemo gegen den Putsch, dieser Demo von und für Erdogan, und wir nehmen das Thema jetzt noch mal auf mit dem SPD-Politiker Erol Özkaraca, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, gerade frisch zurückgekehrt aus der Türkei, jetzt hier bei mir im Studio. Einen schönen guten Morgen!
Erol Özkaraca: Ja, schönen guten Morgen!
Frenzel: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diese aktuellen Bilder aus Istanbul sehen dieser Großdemo?
Özkaraca: Na ja, mir gehen zwei Dinge zunächst erst mal durch den Kopf: Es erinnert mich ein bisschen an die Nürnberger Parteitagsveranstaltung zum einen, zum anderen ist deutlich geworden, dass die HDP an diesem suggerierten gemeinsamen Treffen der Demokraten ausgeschlossen wurde. Die HDP ist die Partei, die damals die absolute Mehrheit von der AKP, also von Herrn Erdogan verhindern konnte, der Kandidat der HDP. Ziel ist es, mit diesem Verhalten die HDP politisch zu isolieren, indem man ihnen immer wieder einen PKK-Stempel aufdrückt. Dass die CHP insbesondere nicht erkennt, dass wenn sie sich hier in diesen Fragen mit Erdogan solidarisiert, die Demokratie in der Türkei mit abbauen hilft. Das ist für einen Sozialdemokraten in Berlin schwer und unerträglich.

Die Menschen unterstützen Erdogan aus "tiefster Überzeugung"

Frenzel: Ist es auch schwer und unerträglich für Sie zu sehen, dass es ja ganz offenbar eine massenhafte Unterstützung gibt? Natürlich ist da viel organisiert, aber die Menschen unterstützen ja offenbar mehrheitlich diesen Kurs, den der Präsident vertritt.
Özkaraca: Ja, das tun die, das tun die aus innerer, tiefster Überzeugung. Das erinnert mich ja auch an 1933 fortfolgende. Das deutsche Volk oder ein Großteil des deutschen Volkes hat aus tiefer innerer Überzeugung den Führer gewählt.
Frenzel: Warum kommen nicht mehr Türken zu einem Blick auf die Dinge – Sie nutzen da sehr drastische Vergleiche –, gerade auch die Türken, die türkischstämmigen, die hier in Deutschland leben, warum kommen die nicht mehrheitlich zu einem solchen Ergebnis wie Sie?
Özkaraca: Nun ist die Situation in der Türkei so, wenn Sie das verfolgt haben, sind über 60.000 Menschen aus dem Dienst entlassen worden. Die Maßnahmen, die in der Türkei zurzeit getroffen werden, sind rigoros. Jeder, der in dieser Stadt lebt, hat Verwandte in der Türkei, jeder, der oppositionell ist, hat Angst, plötzlich als Gülenist bezeichnet zu werden oder als PKK-Terrorist oder als was weiß ich was für ein Oppositioneller, der außerhalb der Gesellschaft steht. Davor haben sehr viele Leute zu Recht Angst. Wir haben ja schon im Nachklang zum Putsch Übergriffe auf Minderheiten in der Türkei gesehen.
Frenzel: Das heißt also, die Menschen haben in der Türkei, wenn Sie von dort sprechen, vornehmlich Angst und sind nicht unbedingt überzeugt?
Özkaraca: Nein, auch die Leute hier haben Angst, nicht nur die Leute dort.
Frenzel: Warum haben die Leute hier Angst? Reicht der Arm so weit?
Özkaraca: Es ist ja so, die Gesellschaft in Berlin ist ein Spiegel der türkischen Gesellschaft. Wenn Sie in den sozialen Medien, aber auch in den türkischen Medien die verfolgen, werden Sie feststellen, dass der Wahlkampf für Erdogan auch in Deutschland auch und insbesondere in Berlin stattfindet. Und da wird sehr schnell deutlich, wer für wen ist und wer nicht, und die türkische Minderheit in Berlin ist keine homogene Masse, die bekämpfen sich politisch schon.

Mangelnde Identifikation der Deutschtürken mit der neuen Heimat

Frenzel: Wundert Sie das manchmal, dass so viele Türken ganz offenbar so stark in der Innenpolitik der Türkei stecken mit ihren Wünschen, mit ihren Forderungen, mit ihren Emotionen?
Özkaraca: Ja, das wundert mich schon. Ich bin immer enttäuscht, dass wir es nicht geschafft haben, größere Teile der türkischen Einwanderergesellschaft für diesen Staat zu gewinnen, denn Integration fängt ja nicht mit dem Erlernen der Sprache an, sondern mit dem Beginn der Identifizierung mit diesem Land, in dem man lebt und wahrscheinlich auch sterben wird.
Ich wollte noch etwas sagen, weil Sie die Frage so nebenbei aufwarfen: Wie weit reicht Erdogans Arm? Wenn Sie sich in dieser Stadt umgucken, wie viele Verbände, Vereine wir haben, die Teil der türkischen staatlichen Strukturen in Deutschland sind – von Ditib angefangen –, dann wissen Sie, dass er einen Einfluss, der türkische Staat einen Einfluss auf die Menschen hier hat.
Er bezahlt die Imame, die Freitagspredigt wird in Ankara geschrieben, Ditib gehört um Amt für Religionsangelegenheiten, das dem Ministerpräsidenten direkt unterstellt ist. Nicht nur Ditib, von Milli Görüs bis sonst wo hin sind diverse Vereine hier auf staatlicher Linie, und deren Aufgabe ist es auch, sie an die Religion und den Staat zu binden.
Frenzel: Und gleichzeitig aber trifft all das, all dieses Bemühen offenbar auf eine Leere. Mir fallen Stimmen ein, die wir gehört haben, von Deutschtürken bei Demonstrationen, bei der großen Demonstration Köln beispielsweise, die gesagt haben, Erdogan hat uns so etwas wie Stolz zurückgegeben, er hat die Türkei so groß gemacht, dass wir auch anerkannt werden. Ist das auch Ausdruck dessen, dass die Deutschtürken hierzulande, in Deutschland, vorher sich nicht genug anerkannt gefühlt haben?
Özkaraca: Ja, man könnte das ein bisschen lapidar als Minderwertigkeitskomplex bezeichnen. Den gibt es sowohl in der Türkei bei sehr, sehr vielen Türken als auch bei sehr viel Türkischstämmigen hier in Deutschland – das Gefühl, nicht anerkannt zu sein, das Gefühl, die Bildungserfolge und Integrationserfolge nicht erreicht zu haben, gleichzeitig von der Mehrheitsgesellschaft als nicht gleichwertig betrachtet zu werden, sich so zu fühlen. Sie empfinden das wahrscheinlich noch viel drastischer, als ich das jetzt hier formuliere.
Da ist plötzlich ein starker Mann, der ist erfolgreich, der suggeriert ihnen, ich bau Brücken, ich bau hier eine Infrastruktur, ich hab die Türkei wirtschaftlich stark gemacht – das glauben die so, und damit können die sich identifizieren: Endlich sind wir wieder jemand. Das Verhalten merkt man auch in der Ablehnung der Vollmitgliedschaft zur Europäischen Union.

Gülen-Netzwerke in Deutschland müssen offengelegt werden

Frenzel: Haben wir – deutsche Mehrheitsgesellschaft, Medien und dergleichen – vielleicht zu kühl auf diesen Putsch reagiert? Es gibt ja immer wieder diesen Vorwurf aus der Türkei, eigentlich gab es eine klammheimliche Freude darüber und die Hoffnung, dass er eigentlich auch hätte gut ausgehen sollen. Können Sie das nachvollziehen, diese Kritik?
Özkaraca: Nein, ja, nicht so richtig. Ich war ja nun in diesen zwei Wochen nicht in Deutschland und kann das jetzt nicht so wirklich nachvollziehen, wie man hier darauf reagiert hat. Ich weiß – und das gilt ja für jemanden, der eher vom linken demokratischen Spektrum kommt wie ich, und das gilt vor allen Dingen für alle, die auch in der Türkei sind: Keiner, keiner hätte sich mit diesem Putsch solidarisiert. Das sind Verbrechen gegen Strafrecht, gegen alle demokratischen Regeln.
Das Problem ist doch, dass wir das Gefühl in Deutschland haben, nicht nur die Putschisten sind nicht Demokraten, die Führung der Türkei ist es auch nicht. Wir betrachten ja beide als undemokratisch, und wenn der eine Undemokrat von uns verlangt, wir sollen gegen den anderen Undemokraten aufstehen, dann ist das für uns natürlich schwierig, weil wir uns nicht benutzen lassen wollen. Und das ist auch richtig und wichtig so. Dass das zu verurteilen ist, ist ganz klar.
Aber eine Konsequenz müssen wir in Deutschland auf jeden Fall ziehen: Cem Özdemir, auch wenn er ein Grüner ist, ist heute in einer Zeitung zitiert worden, dass wir die Einrichtungen und die Netzwerke der Gülen-Bewegung in Deutschland auch überprüfen müssen – nicht weil es im Interesse der türkischen Regierung ist, sondern weil es in unserem eigenen Interesse ist. Und das, finde ich, ist auch richtig und vor allen Dingen wichtig.
Viele Politiker in Deutschland glauben, es handele sich hier um eine Bewegung, die gerade im Bildungsbereich besonders zur Integration beitrage. Das muss kritisch hinterfragt werden, ich glaube, da sind einige auf einem ganz großen Holzweg.
Frenzel: Abgewogene Worte vom Berliner SPD-Abgeordneten Erol Özkaraca. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch im Studio!
Özkaraca: Ich danke Ihnen, dass ich hier sein durfte, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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