Aus den Feuilletons

So gefährdet sind westliche Demokratien

Rechtspopulisten und rechten Gruppierungen demonstrieren unter dem Motto: "Merkel muss weg" in Berlin.
Rechtspopulisten und rechten Gruppierungen demonstrieren unter dem Motto: "Merkel muss weg" in Berlin. © imago/Seeliger
Von Tobias Wenzel · 07.08.2016
Die Demokratie in Deutschland sei akut in Gefahr, warnt der Historiker Andreas Wirsching in der "SZ". Alle westlichen Gesellschaften hätten derzeit erhebliche Identitätsprobleme, die extremistische Staatsformen begünstigen.
"Ohne Angst zu kommunizieren ist nach und nach zum Luxus für jeden geworden, der Kritik an Erdogan äußert", schreibt Constanze Kurz in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
Die Informatikerin weist darauf hin, dass die Türkei schon vor dem Putsch ein "umfassendes Kontrollsystem" etabliert habe.
So brüsteten sich die türkischen Geheimdienste damit, bereits seit einem Jahr über die App "byLock" 40.000 Menschen überwacht und deren Netzwerke aufgezeichnet zu haben. Die kostenlose App sei dazu gedacht gewesen, Telefonate und Chats sicher zu verschlüsseln, sei dann aber leicht von den Geheimdiensten geknackt worden.
"Ob das überhaupt legal war, schert niemanden, die Frage wird in der Türkei nicht einmal mehr gestellt", schreibt Constanze Kurz weiter.

"Narrenfreiheit der Geheimdienste unter Erdogan"

"Die Narrenfreiheit der Geheimdienste ist unter Recep Tayyip Erdogan ohnehin vollständig. Wenn der türkische Staat und der Mann, der in einem Palast mit mehr als tausend Zimmern lebt und von dort aus die zweitgrößte Armee der Nato befehligt, systematisch Recht bricht und Menschenrechte missachtet, kommt es wohl auf massenhaftes Belauschen und offensives Hacken auch nicht mehr an."
Erdogan habe das "technische Wettrüsten" gewonnen und sein Land zu einem "Überwachungsstaat" ausgebaut:
"Nun konnte er die Früchte ernten und die Verhaftungswellen beginnen."
Der Journalist Yavuz Baydar hat schon ausführlich von solchen Verhaftungen in seinem "türkischen Tagebuch" für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG berichtet.
In seinem neuen Eintrag spricht er von einer "Hexenjagd" in der Türkei, von Sprechchören "Wir wollen Exekutionen!" und einem Präsidenten, der das Parlament dazu aufruft, "die Stimme des Volkes" zu hören.
Wer das in der SZ liest und denkt "Schlimm, schlimm, aber so etwas ist zum Glück unvorstellbar in Deutschland!", der hat noch nicht den direkt daneben stehenden Artikel des Historikers Andreas Wirsching gelesen.

Gefahr für westliche Demokratien

"Wie gefährdet sind die westlichen Kernländer der Demokratie?", fragt Wirsching. Seine Antwort vorweg: Erheblich. Oder in seinen Worten:
"Worauf wir uns jetzt vielmehr besinnen müssen, ist, dass es tatsächlich schon fünf vor zwölf sein könnte."
Und so kommt der Professor für Neueste Geschichte zu seinem Urteil: Historisch betrachtet, habe die Stunde des Extremismus meistens dann geschlagen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt gewesen seien:
"Wenn – erstens – Identitäten noch nicht gesichert sind oder erst etabliert werden müssen; wenn – zweitens – bestehende Identitäten kultureller Veränderung ausgesetzt sind und damit als akut bedroht empfunden werden; und wenn – drittens – zur Identitätsunsicherheit ökonomisch begründete Statusunsicherheit tritt."
Und genau diese drei Bedingungen seien zurzeit eindeutig erfüllt.

"Identitätsunsichere Gesellschaften"

"Im radikalen Islamismus haben sich Formen der Identitätskonstruktion durchgesetzt, die mit ihrer quasireligiösen und antiwestlichen Ideologie die Welt mit Gewalt in ein Freund-Feind-Schema zwingen wollen. Für die westlichen Demokratien ist diese Form des radikalen Islamismus und seiner terroristischen Aktion eine enorme Herausforderung. Wirklich gefährlich wird die Lage aber dadurch, dass diese Herausforderung auf zutiefst identitätsunsichere Gesellschaften trifft."
Da kann man ja fast schon froh sein, wenn Menschen in Identitätskrisen mit ihrem Smartphone "Pokémon Go" spielen, also über die Handy-Kamera die reale Welt sehen und darin gleichzeitig harmlose virtuelle Monster, die sie dann zu fangen versuchen.
Diese App locke Menschen an vergessene Orte, nennt Adrian Lobe einen Vorteil in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Überhaupt eröffne diese "Augmented Reality" ganz neue Möglichkeiten:
"Der britische Twitter-Nutzer 'Drunk Superman' hatte die irre Idee, auf der Strasse die für die Videospiel-Reihe 'Mario Kart' typischen Sterne, Pilze und Taler zu verteilen, die dann die Autofahrer aufsammeln könnten. Das ist freilich kein Freifahrtscheint für Raser. Doch könnte man die Verkehrsflüsse so optimieren und kanalisieren, dass es zu keinen Staus mehr kommt."
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