Tilmann Allert "Latte Macchiato"

Kaffee als Spiegel der Gesellschaft

Milchschaum auf einem Glas Latte Macchiato
Milchschaum auf einem Glas Latte Macchiato © picture alliance / dpa / Martin Gerten
Von Hannah Bethke · 27.08.2015
Häppchen statt gemeinsamer Mahlzeiten oder der allgegenwärtige Milchschaumkaffee: Der Soziologe Tilmann Allert analysiert in "Latte Macchiato" die alltäglichen Dinge des sozialen Verhaltens. Humorvoll zeigt er damit Normen der Gesellschaft auf - und wie schnell sie sich ändern können.
Ob Orangina, Erdmännchen im Zoo, Weihnachtsrituale oder zeitgemäße Wortfloskeln wie "abgefahren": Es sind die kleinen Dinge des Alltags, die den Frankfurter Soziologen Tilman Allert interessieren. Vorbei die Zeiten, in denen die Soziologie mit revolutionärem Impetus die ganze Gesellschaft verändern wollte – dialektisch, marxistisch, kulturkritisch, wie es die Anhänger der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer einst lehrten.
Tilman Allert setzt diesen "schal gewordenen" Versprechungen eine beobachtende Soziologie entgegen, die entlastet ist vom "Handlungsdruck" und das phänomenologische "Zurück zu den Sachen" zu ihrem Leitmotiv erhebt. "Gefundenes, Gehörtes oder Gesehenes", "Splitter des Sozialen", Kultur, Mode, Politik – in jedem dieser Bereiche findet Allert kleine Dinge sozialen Verhaltens, die er scharfsinnig beobachtet und ebenso gelehrt wie humorvoll analysiert:
Latte Macchiato, "die befleckte Milch", das allgegenwärtige Getränk der postmodernen Gesellschaft, versteht Allert als "Zaubertrank für den Abschied von der Adoleszenz", in der Raute von Angela Merkel liest er "eine vorpolitische Geste des Hypothetischen und der Zurückhaltung". Die "Häppchen", die "im modernen Lebensvollzug" an die Stelle gemeinsamer Mahlzeiten getreten seien, indizieren für ihn "ein Vergessen der Daseinsfreude", ein Besuch im Zoo, der dazu einlädt, "das Besondere der eigenen Gattung nachzuspüren", demonstriert in seinen Augen die weitläufigen "Irritationen des Weltverstehens".
Ansteckende Freude des Autors an der Beobachtung
Im verbreiteten Ausdruck "keine Ahnung" erkennt der Autor "eine triumphale Abbreviatur des 'Dabeisein ist alles'", die Formulierung "gut aufgestellt" ist für ihn "das Stoßgebet der Angsthasen". Den Mops, der seit dem "Verschwinden des Pudels aus dem Straßenbild" auffällig präsent sei, bezeichnet Allert als "Hund der demographischen Krise", die "Liebe zur Sache" als Voraussetzung einer gelungenen Pädagogik.
Und so erlangen die "kleinen Dinge" eine große Bedeutung; sie sind ein Spiegel der Gesellschaft, sie verkörpern Normen und Gewohnheiten, sie zeigen uns, was uns wichtig ist und wie schnell sich unsere Prioritätensetzungen ändern können. Das Buch veranschaulicht die ansteckende Freude des Autors an der Beobachtung, an den Menschen und am Leben, das dem Beobachter so viel Stoff bietet.
Dabei finden sich unter den gesammelten Essays auch politische Analysen Allerts, etwa zur Bildungspolitik oder zur politischen Situation Georgiens. Tiefsinnig, hellwach und mit feiner Ironie richtet Allert seinen kritischen Blick auf die Gesellschaft, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben. Mit seinen brillant geschriebenen Texten gelingt es ihm, eine Fähigkeit seines Fachs zu vermitteln, die heutzutage selten geworden ist – nämlich die Soziologie als Figur der Begleitung zu verstehen, "die uns zu Kindern macht, die das Staunen nicht verlernt haben".

Tilman Allert: Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015
239 Seiten, 17,99 Euro

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