Theaterreform in der Schweiz

Zürich spielt Avantgarde

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Drei Frauen stehen nebeneinander und blicken in die Kamera. Es sind die neuen Direktorinnen des Theater Neumarkt in Zürich.
Auf der Suche nach einer neuen künstlerischen und sozialen Praxis in Zürich: Die Direktorinnen des Theaters Neumarkt Hayat Erdoğan, Julia Reichert, Tine Milz (v.l.n.r.). © Flavio Karrer
Von Tobi Müller · 14.09.2019
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In Zürich wird von der Norm des Stadttheatermodells abgewichen: Im Schauspielhaus bilden die Direktoren und Regisseure eine Art künstlerisches Kollektiv. Im Theater Neumarkt besteht die neue Direktion aus drei Frauen.
Nicolas Stemann eröffnet seine Ko-Intendanz im Schauspielhaus mit einem Lied an die Sponsoren und Förderer. Der zweite im Bunde ist Benjamin von Blomberg. Zürich leistet sich mal wieder ein Theaterexperiment – nein, zwei. Das letzte ist 20 Jahre her: Die Direktion Marthaler, die in eine Entlassung mündete. Es kann nicht schaden, dem Geld gegenüber nett zu sein, feine Ironie hilft dabei.
"Also uns dahin zu holen, ist eine mutige Entscheidung", sagt Stemann. "Das ist ein Bekenntnis zu einem gewissen Risiko. Ich will, dass das besonders ist, avanciert ist, dass es mich was angeht, und dass es ein Risiko ist. Weil ich glaube, dass diese Subventionen nicht dazu da sind, dass man jenseits von Risiko Theater macht."

Regisseure sollen in Zürich wohnen

Wie Tanz, Performance oder nicht-deutschsprachige Abende im Schauspielhaus ankommen, wird man sehen. Das Risiko beginnt mit dem Modell. Sie wollen weniger produzieren, als es der überhitzte Betrieb verlangt – und dafür mehr touren und mit anderen Theatern tauschen. Und ihr Programm besteht nicht aus reisenden Spitzenkräften. Acht Hausregisseure machen zwei bis drei Inszenierungen pro Spielzeit und sollen auch in Zürich wohnen.
Neun Männer und Frauen stehen in legerer Kleidung beisammen. Im Hintergrund sind drei Leitplanken zu sehen.
Ein Team, das als Kollektiv funktionieren kann: Die Leitung des Schauspielhaus Zürich mit Benjamin von Blomberg (3.v.l.) und Nicolas Stemann (4.v.l.).© Gina Folly / Schauspielhaus Zürich
"Aber der Anspruch ist schon, dass man eine Langfristigkeit hat in der Zusammenarbeit", erläutert Stemann. "Und dadurch auch einen gewissen Schutz. Kenne das noch aus der Zeit, als ich angefangen hab, wo einfach klar war, die nächste Inszenierung ist, wenn sie nicht gut ist, immer die letzte."
Neben berühmten Regisseuren wie Nicolas Stemann selbst oder Christopher Rüping inszenieren da auch jüngere auf Stammpositionen, etwa Leonie Böhm und Suna Gürler.

Drei Dramaturginnen werden zu Direktorinnen

Gleich drei Frauen unter 40 starten im Theater Neumarkt, wenige hundert Meter vom alten Schauspielhaus entfernt: Die neuen Direktorinnen sind die drei Dramaturginnen Julia Reichert, Hayat Erdoğan und Tine Milz.
"Dass das für manche Leute eine Symbolwirkung hatte, dass da drei Frauen ernannt wurden, finde ich eine positive Sache", sagt Reichert. "Ich finde nur, das ist ein Kompliment, das man halt selbst zurückweisen muss. Weil es nicht das trifft, was wir vorhaben."
Ko-Direktorin Julia Reichert und Co machen aus dem Neumarkt, mit Werkstätten und Ensemble, einen Hybrid aus Stadttheater und Freier Szene. Es gibt Residenzen, Theorieformate, ja, auch Theater. Identitätspolitik spielt eine, aber nicht die einzige Rolle, wie Hayat Erdoğan sagt. Ihr Motto "Love, play, fight" will auf Augenhöhe spielen, nicht von der Kanzel herab:
"Wir labeln uns eben gerade nicht als das sogenannte queere, intersektionelle, ecofeministische Theater", erläutert Erdoğan.

Sie wollen keinen Konsens

Kann sein, dass sie das alles dennoch sind. Einzeln, vielleicht. Aber Identität ist kein Programm. Einigkeit erst recht nicht.
"Eine Sache, die wir uns schon von Anfang an geschworen haben, fast schon eidmäßig, war, dass wir uns gesagt haben; Konsens wollen wir nicht", unterstreicht Erdoğan.
Doch wie wirkt das auf die Spielenden, wenn die Direktion in jeder Produktion mitmacht und in den Endproben niemand klare Ansagen macht? Reichert sagt dazu: "Das wird sicher anders wirken, als wenn der große Intendant dann plötzlich in der letzten Reihe sitzt und alle werden nervös. So wird es bei uns so oder so nie werden."

Kollektives Theater lebt in Zürich

Und ihre Kollegin Milz übernimmt: "Das ist die Absprache unter uns, dass wir schon kommen können, ohne dass es gleich wirkt wie: Okay, die Intendanz kommt jetzt vorbei und prüft."
Reichert sieht aber auch noch einen anderen Punkt: "Aber das finde ich auch eine einübenswerte Praxis, sich in solchen Prozessen zurechtzufinden, sowohl künstlerisch als auch sozial. Also wie regelt man Konflikte, wenn man auch mal nicht einfach nach Papi schreien kann – um es mal flapsig zu sagen."
Zürich als Lagerfeuer der kollektiven Theatermodelle, auf dass das Lied noch lange weiter klinge.
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