Christoph Marthalers Theater

30 Jahre Langsamkeit in einer rasenden Zeit

04:46 Minuten
Christoph Marthaler steht vor einem verfallenem Industrie-Hintergrundund blickt freundlich in die Kamera
Seit 30 Jahren lotet der Regisseur Christoph Marthaler die Zeit-Wahrnehmung im Theater aus. © imago stock&people
Von Tobi Müller · 12.01.2019
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Der Theatermacher Christoph Marthaler und die Bildgestalterin Anna Viebrock führen mit ihren Produktionen in die Zwischenbereiche der Wahrnehmung - ein Rückblick auf drei Jahrzehnte ganz besondere Theatererfahrung.
Hören Sie noch oder schlummern Sie schon? Kann man das überhaupt so genau sagen im Theater von Christoph Marthaler? Wachen, schlafen: Seine Kunst entführt uns seit Jahrzehnten in die Zwischenbereiche.
Am Ende von Marthalers aktueller Inszenierung "44 Harmonies from Apartment House 1776" in seiner Heimatstadt Zürich legen sich die Spielerinnen und Spieler in einem Sandkasten nieder. Es ist, natürlich, ein Grab. Marthalers Kunst handelt von den letzten Dingen, die Räume von Anna Viebrock schießen deshalb in die Höhe wie Kathedralen.

Als die DDR noch nicht ganz verschwunden war

In meinem morbiden Zürcher Schlummer wandern die Gedanken durch 30 Jahre Marthaler-Erfahrung. 30 Jahre Langsamkeit in einer rasenden Zeit. Warum fasziniert diese Zeitlupe im Hamsterrad noch immer? Ich denke an Berlin, Volksbühne, 1993. Rund um den Rosa-Luxemburg-Platz war die DDR noch nicht ganz verschwunden. Marthalers Stück "Murx den Europäer" spielte im Umbruch. Da kann man schon mal das Deutschlandlied hervorholen, vorläufig nur gesummt.
"Damit die Zeit nicht stehen bleibt" stand hinten an der Holzwand, ein Buchstabe nach dem andern fiel herunter. (Das war ein Zitat aus der Abflughalle des Stadflughafens Tempelhof im Westen, die Kostüme und das Mobiliar signalisierten derweil Osten: Viebrocks Räume sind Transiträume, Traum- oder Albtraumräume.) Die Langsamkeit war der Widerstand all jener, die den Anforderungen der neuen Zeit nicht gehorchen wollten. Oder konnten.
Und die Musik diente nie nur zur Beruhigung, stets transportierte sie auch die Möglichkeit der Gewalt. Zu hören ist auch das Horst-Wessel-Lied, das die Nazis als zweite Strophe des Deutschlandliedes sangen. Der Übergang von Sanftheit in Verrohung kündete sich bei Marthaler mitunter in den zartesten Momenten an.

Die Musik in reiner Schönheit

Die Matrix für den weltberühmten "Murx" in Berlin war ein Liederabend in Basel, fast genau 30 Jahre her, 1989 im "Badischen Bahnhof": "Wenn der Alpenfirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet". Auch das bezog sich auf nationales Liedgut, auf die Schweizer Hymne, obwohl es im Original "betet, freie Schweizer, betet" heißt und nicht "tötet".
Zurück in Zürich. "44 Harmonies from Apartment House 1776" ist ein Werk von John Cage. Erneut spielen Hymnen eine Rolle, wie im "Murx" 1993 und wie im Badischen Bahnhof vor 30 Jahren. Cage strich Töne heraus von den Hymnen und ließ die Harmonien ohne Leittöne im Raum hängen.
Etwas Fundamentales hat sich geändert drei Jahrzehnte nach meinem ersten Marthaler in Basel: Die Musik ist nicht mehr unbedingt ein Hort des Unheimlichen. Autonom sein, frei sein: Das kann die Musik beim alternden Marthaler auch in reiner Schönheit. Und die Langsamkeit bedeutet nicht mehr einzig Erschöpfung. Heute steht sie eher für eine Schweizer Tugend, oder ihr Klischee: die Genauigkeit. Und die fehlt uns heute nicht nur im Theater.
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