Julia Zirpel (Hg.): "The Fashion Yearbook 2022"

Bilder des gesellschaftlichen Wandels

06:11 Minuten
Cover von Julia Zirpels (Hrsg.) "The Fashion Yearbook 2022".
© Callwey
The Fashion Yearbook 2022. Best of Editorials, Covers, CampaignsCallwey, München 2022

240 Seiten

49,95 Euro

Von Anne Kohlick · 05.08.2022
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Mehr Diversität, verschwimmende Geschlechterrollen: In der Modefotografie spiegeln sich gesellschaftliche Phänomene und Debatten. Die inspirierendsten Kampagnen, gekürt von einer internationalen Jury, versammelt jetzt ein neuer Bildband.
Sie spielen blinde Kuh, Sackhüpfen, rutschen zu dritt - und das mit Ende 40: Für eine Fotostrecke im Magazin des “Wall Street Journal” haben die Models Shalom Harlow, Carolyn Murphy und Amber Valletta zusammen einen Tag voll kindlicher Leichtigkeit verbracht.
Das Ergebnis des Treffens der langjährigen Freundinnen und Stil-Ikonen der 90er: lichtdurchflutete, warme Bilder, die vor Lebensfreude nur so strotzen, veröffentlicht im Mai 2021 nach langen Monaten des zweiten Corona-Lockdowns unter der hoffnungsvollen Überschrift “Brighter Days Ahead”.
Die Fotostrecke gehört zu 23 Bildern und Bilderserien, die von einer internationalen Jury für das “Fashion Yearbook 2022” ausgewählt wurden. Zum zweiten Mal stellt der Münchner Verlag Callwey, der auf Lifestyle-Themen wie Reisen, Kochen und Design spezialisiert ist, die “inspirierendsten” Modefotos des vergangenen Jahres in einem Bildband zusammen. Nach einem vergleichbaren Prinzip kürt der Verlag auch die Häuser und Gärten des Jahres.

Das Buch macht auch Berufe sichtbar

Zwölf Personen haben darüber entschieden, welche Fotos es in das auf Englisch publizierte “Fashion Yearbook” schaffen, darunter die Herausgeberin des Buches Julia Zirpel, langjährige Mode-Journalistin unter anderem für die deutsche Cosmopolitan, das polnische Topmodel Anja Rubik, der Kreativdirektor von H&M und die Chefredakteurin der Vogue Brasilien.
Der Fokus liegt auf ganzseitigen farbigen Reproduktionen der gekürten Fotostrecken, Magazin-Cover und Werbekampagnen von Modelabels. Auf die Bilder folgen jeweils kurze Texte über die Macherinnen und Macher und die Ideen hinter den Fotos: Was hat die Fotografin oder den Stylisten inspiriert?
Hervorgehobene Zitate und kleine Porträtfotos bringen uns jeweils zwei der beteiligten Personen näher. Dabei macht das Buch auch Berufe sichtbar, die man gar nicht hinter einer Mode-Fotostrecke erwarten würde, zum Beispiel Choreografen.

Bilder des gesellschaftlichen Wandels

Auch wenn man sich nicht für Mode interessiert und weder von Designern noch von Trends Ahnung hat, macht es Spaß, dieses Buch zu entdecken. Denn die Bilder zeigen weit mehr als Kleider und Accessoires, der gesellschaftliche Wandel spiegelt sich in ihnen.
Das betont auch Herausgeberin Julia Zirpel in ihrem Vorwort. Eine neue Selbstverständlichkeit von Diversität wird in den ausgewählten Modefotos deutlich: Menschen mit schwarzer Haut oder asiatischen Gesichtszügen haben eine andere Präsenz als noch vor wenigen Jahren.
Verschwimmende Geschlechterrollen werden zum Beispiel im französischen “M - Le Magazine du Monde” deutlich, das eine Bildstrecke treffend mit “Masculin Pluriel”, Männlichkeit in der Mehrzahl, überschreibt. Die Models tragen auf diesen Fotos mal Ballonhosen, mal silbernen Kopfschmuck, mal haben sie so weiche Gesichtszüge, dass sie wie Frauen wirken – oder welche sind? Who cares!
Dass Fragen nach der Geschlechtszugehörigkeit immer weniger eine Rolle spielen, bezeugt auch ein Cover des italienischen Modemagazins “The Greatest”: Ein Teenager ist darauf zu sehen, dessen androgyner Style sich Schubladen von “Mädchen” und “Junge” verweigert. Parallel dazu bewegt sich auch in der Modewelt vieles hin zu Unisex-Designs.

Lockdown-Blues als Modefoto

Auch die Zeitgeschichte findet sich in den Modefotos wieder: Für die Vogue Portugal hat das kantige, ältere Männermodel Ingo Sliwinski in einer Bilderstrecke voller Einsamkeit und Melancholie posiert. Der Lockdown-Blues des Corona-Frühjahrs 2021 spricht aus den Schwarz-weiß-Fotos vor oftmals diffus-leerem Hintergrund mit der treffenden Überschrift “How are you?”.
Es gibt viel zu entdecken in diesem hochwertig gestalteten Bildband: selbstbewusstes Design aus Südafrika, ganze Galaxien, die in der Kampagne von Maison Margiela für die neue Kollektion von John Galliano zu explodieren scheinen, Models, die es auf das Cover der Vogue schaffen, obwohl sie nicht in Kleidergröße 34 passen. Schade nur, dass sie noch immer die Ausnahme sind.
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