Ulinka Rublack: „Die Geburt der Mode. Eine Kulturgeschichte der Renaissance"

Die Welt tritt vor den Spiegel

06:14 Minuten
Cover von Ulinka Rublacks Buch „Die Geburt der Mode. Eine Kulturgeschichte der Renaissance".
© Klett-Cotta

Ulinka Rublack

Aus dem Englischen von Karin Schuler

Die Geburt der Mode. Eine Kulturgeschichte der RenaissanceKlett-Cotta, Stuttgart 2022

536 Seiten

48,00 Euro

Von Thomas Gross · 09.06.2022
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Selfies, Selbstoptimierung, Stilbewusstsein: Das gab es alles schon lange vor der Erfindung des Smartphones. Ulinka Rublacks reich bebilderter Blick in die Renaissance zeigt, wie die Mode und mit ihr eine neue Selbstwahrnehmung in die Welt kam.
Zur Mitte seines Lebens hin ereilte den Augsburger Buchhalter Matthäus Schwarz das Gefühl, fett geworden zu sein. Früher hatte er sein Umfeld mit extravaganter, auf Taille geschnittener Garderobe beeindruckt, jetzt musste er feststellen, nicht mehr über die entsprechende Figur zu verfügen. Schwarz, der jedes seiner Outfits minutiös zu dokumentieren pflegte, reagierte mit einem Wechsel hin zu weiten, weniger körperbetonten Schnitten. Das Besondere an dem Fall: Er ereignete sich nicht gestern oder vorgestern, sondern im Jahr 1526.
Das „Klaydungsbuechlin“ des Matthäus Schwarz ist eine der Hauptquellen in Ulinka Rublacks Studie über die Ursprünge der Mode in der Renaissance. Die sage und schreibe 137 Aquarelle, die der Vermögensverwalter der Fugger im Laufe seiner Karriere von sich anfertigen ließ, dienen ihr als frühes Beispiel für den Wunsch, die eigene Erscheinung durch Selbstwahrnehmung verfügbar zu machen und gegebenenfalls mithilfe aktueller Bildmedien zu korrigieren. Fortan sind gelungene Lebensläufe nicht mehr allein vom Willen Gottes abhängig. Sie sind auch eine Frage der richtigen Stilentscheidung zur richtigen Zeit.

Kleider machen Leute

Rublack zufolge ist es der Blick auf die äußere Gestalt, der im 16. Jahrhundert das im Kern moderne Phänomen Mode begründet. Als in Cambridge lehrende Spezialistin für europäische Frühgeschichte macht sie ihn in Schreibstuben ausfindig, auf Festen, Marktplätzen, selbst in der Messe. Er begegnet ihr bei der aufstiegsorientierten Mittelschicht, zunehmend aber auch bei Mägden, Bauern, Landsknechten und anderen Angehörigen der niederen Stände. Gemeinsam ist ihnen eine Sensibilität für die materielle Beschaffenheit der Dinge: Texturen, Oberflächen und erotische Signale werden zum Teil einer Kommunikation, in der die Position des Einzelnen in der Gesellschaft jeweils neu verhandelt wird.
Aus vielen, oft plastisch geschilderten Einzelszenen setzt sich das Bild einer Welt im Aufbruch zusammen: Biedermänner treten plötzlich als Patrizier auf, Dienstmädchen schmücken sich mit künstlichen Zöpfen. Söhne aus reichem Hause vergessen ihre gute Erziehung und werden zu Bittstellern, die ihren Müttern den jeweils neuesten Look aus dem Kreuz leiern. Nicht zu vergessen die Sitten in den großen Städten, wo eine immer rascher zirkulierende Warenproduktion den Konsum befördert. Wer Kotbraun und Aschgrau bislang für die dominierenden Farben der frühen Neuzeit hielt, sieht sich bei Rublack eines Besseren belehrt. Gerade Augsburg und Nürnberg entwickelten sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu urbanen Laufstegen, auf denen es schreiend bunt zugegangen sein muss.

Das Vergnügen liegt im Detail

Wie prächtig die Menschen des 16. Jahrhunderts sich bei entsprechender Kaufkraft tatsächlich kleideten, wird aus einer Vielzahl farbiger Abbildungen ersichtlich: es ist ein Vergnügen, die Details zu studieren. Was man nicht erwarten sollte, ist eine in sich schlüssige Gesamtdarstellung. Zu episodisch der Zugriff, zu erzählend der Gestus, wichtige Modezentren wie Venedig oder Paris werden allenfalls gestreift. Wer jedoch das Heutige im Vergangenen sucht, für den wirkt Rublacks Buch wie ein Spiegel, aus dem die ferne Welt der Renaissance erstaunlich nah zurückschaut: Selfies, Selbstoptimierung und Luxuskonsum sind keine Mitgift der Gegenwart. Wo Mode herrscht, waren sie immer schon mit von der Partie.
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