Techno-Orientalismus

Gefährliche Mythen über Asien

21:12 Minuten
Einige wenige Menschen laufen vor dem Gebäude, ein Mann in beiger Kleidung wird von der Sonne angestrahlt.
Die Große Halle des Volkes am westlichen Rand des Platzes des Himmlischen Friedens wurde 1959 fertiggestellt und ist der Sitz der chinesischen Legislative. © imago images /AGB Photo / David Henley
Katharin Tai im Gespräch mit Katja Bigalke und Martin Böttcher |
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Oft wird Asien eine technologische Übermacht unterstellt. Ungenaue Berichterstattung, zum Beispiel über Chinas Sozialkreditsystem, verstärkt den Mythos vom “Orient” als vermeintlich mystischem und dystopischen Ort. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Dramatisch, bedrohlich, dystopisch, ein bisschen wie Science-Fiction: So klingt die Berichterstattung westlicher Medien über Chinas Sozialkreditsystem häufig. Vom digitalen Big Brother ist die Rede oder einem „digitalen Überwachungslager“. Ein digitales Orwellsches System, ein Algorithmus, der jede Handlung der Bürger erfasst, bewertet und entsprechend belohnt oder bestraft.
Soweit die Vorstellung. Doch das Narrativ westlicher Medien weicht stark von der Wirklichkeit ab. „Die Realität ist weitaus langweiliger und weniger sexy“, sagt Vincent Brussee vom Mercator Institut für China Studien (MERICS). Er forscht zum chinesischen Sozialkreditsystem und trifft regelmäßig auf irreführende Darstellungen.

Der zentrale "Superalgorithmus" existiert nicht

„Der Mythos besagt, dass man bei zu niedriger Punktzahl von praktisch allen Aspekten des sozialen Lebens abgeschnitten ist", sagt der Asienwissenschaftler. "Dann darf man nicht mehr reisen, das Internet wird gekappt oder man darf kein Haus mehr kaufen. Aber so ist es wirklich nicht.“
Die Realität ist nicht nur langweiliger, sondern auch komplexer. Das beginnt schon damit, dass es nicht ein zentrales System gibt, sondern eine Ansammlung vieler verschiedener Projekte. Ein landesweites System der chinesischen Zentralregierung beispielsweise schaut sich an, ob Unternehmen Gesetze und Vorschriften einhalten. Zum Beispiel, was die Lebensmittelsicherheit oder den Umweltschutz betreffe, so Brussee vom Mercator Institut.

Bewertungssystemen und der "Schwarzen Liste"

Im Fokus der deutschen, europäischen und US-amerikanischen Berichterstattung stehen Pilotprojekte in mehreren chinesischen Städten, in denen Privatpersonen bewertet werden. „Aber diese Bewertungssysteme sind ganz anders, als wir uns vorstellen. Im Grunde sind sie heute nur noch so etwas wie Bonuspunktesysteme“, sagt Brussee.
Ein wenig wie das Meilenbonusprogramm einer Fluggesellschaft, erklärt der Wissenschaftler. Die Teilnahme ist in der Regel freiwillig.
Anders funktioniert die “Schwarze Liste” des Obersten Volksgerichts in China. Dort landet, wer Gerichtsbeschlüsse nicht befolgt hat. Meistens geht es dabei um das Zurückzahlen von Schulden. Wer auf der teilweise öffentlich einsehbaren Liste steht, kann zum Beispiel keine Beamtenstelle annehmen und darf keine Flugreisen buchen.

China nutzt andere Mechanismen zur Überwachung

“Die meisten Menschen in China wissen gar nicht, dass es ein Sozialkreditsystem gibt“, sagt Dai Xin, Professor an der Peking University in einem Webinar des Nachrichtenmagazins „The Diplomat“. „Das macht Sinn, weil es ihr Leben kaum beeinflusst.“ Der Superalgorithmus, der alle Handlungen eines Individuums auswerten soll, existiert nicht.
Für die Überwachung und Unterdrückung von Minderheiten braucht China das Sozialkreditsystem nicht, sagt der Wissenschaftler. Dafür nutzt die Zentralregierung andere Mechanismen.

Westliche Vorstellungen führen zur Mythenbildung

Die irreführenden Vorstellungen über das Sozialkreditsystem verraten eher etwas über die Länder des Globalen Nordens, meint Brussee.
Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Katharin Tai nennt in diesem Zusammenhang den Begriff „Techno-Orientalismus“, ein Terminus aus der Literaturwissenschaft. Er dient den westlichen Ländern zur Abgrenzung gegenüber dem „Orient“ als vermeintlich wildem und mystischem Ort, der in Verbindung mit Technologie noch fremder und dystopischer erscheint.
In Deutschland zum Beispiel würden die gängigen Verallgemeinerungen zum Thema Überwachung in Asien gern herangezogen, um die deutsche Identität zu betonen: als ein Land, dem Datenschutz wichtig ist. „Also diese Idee: ‚Ach ja, das geht in Asien, weil die ja keinen Datenschutz haben. Aber wir würden das ja nie tun!‘ Da wird quasi diese Eigenidentität als eine bestimmte Art von Land im Gegensatz zu Asien definiert“, erklärt Tai.

Verallgemeinerung eines ganzen Kontinents

Zudem würden die verschiedenen Länder und Regionen auf dem asiatischen Kontinent viel zu oft in einen Topf geworfen. „Aber das ist ja total absurd, dass ein ganzer Kontinent zum narrativen Werkzeug wird, mit dem im Endeffekt westliche Staaten ihre eigene Identität finden oder definieren.“
Als Beispiel nennt Katharin Tai auch die Berichterstattung über Corona in Bezug auf die Kontaktverfolgung in Asien und die Narrative zur Überwachung, die sich daraus entwickelt haben.
Das Spannende sei, dass in den Berichten zwar nicht behauptet wurde, dass Contact Tracing einer 24-Stunden-Überwachung entspreche. Diese Vorstellung sei aber “in den Zwischenräumen” entstanden: “Es wird über bestimmte Sachen berichtet, dann gibt es diese Vorurteile und irgendwie entsteht dann so im kollektiven Bewusstsein diese Idee.“
Katharin Tai fährt fort: „Und dann ist man plötzlich ganz schnell innerhalb von wirklich ein, zwei Wochen an einem Punkt, wo einfach immer wieder Leute sagen, zum Beispiel: ‚Asien hat Corona besiegt, weil sie keinen Datenschutz haben‘.“

"Quarantäne wird in China Low-Tec gemacht"

„Und es ist auf jeden Fall so, dass zum Beispiel in Südkorea und Taiwan Sachen gemacht werden, die mit deutschem Datenschutz nicht vereinbart wären. Aber das ist ja dann noch nicht das Gleiche wie, dass diese Sachen wirklich zur Corona-Bekämpfung beigetragen haben.“
In China zum Beispiel werden zwar digitale Strategien zur Bekämpfung von Corona angewendet. „Aber zum Beispiel die Quarantäne wird in China total Low-Tec gemacht: Man packt die Leute einfach in Hotels.“
Doch wie vermeidet man Mythenbildungen, gerade in Bezug auf Regionen, in denen Journalisten nur eingeschränkt arbeiten können? „Eine Sache, die natürlich hilft, ist, wenn man Leute von dort kennt und mal fragt.“
Zudem sollte man bei komplexen und teilweise abstrakten Dingen wie dem Sozialkreditsystem nachforschen: „Was bedeutet das denn konkret? Und wenn es keine konkreten Beispiele gibt, da muss man sich schonmal fragen: ‚Warum wird es nicht konkreter, wenn das so groß sein soll und so schlimm?‘“

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