In Polen gibt es die Sorge wegen der Suwalki-Lücke schon länger. Allerdings gibt die NATO-Präsenz im Land eine gewisse Sicherheit, und auch die Tatsache, dass Russlands Militär durch den Krieg in der Ukraine gebunden ist.
Schwachstelle der NATO
Truppenbesuch des Präsidenten – unter Gitanas Nauseda wird die litauische Armee weiter gestärkt und modernisiert. © Deutschlandradio / David Ehl
Die Suwalki-Lücke
22:49 Minuten
Die strategisch kritischste Stelle der NATO ist ein Streifen von rund 65 Kilometern, der Polen und Litauen verbindet und die russische Exklave Kaliningrad und Belarus trennt. Wollte Russland die NATO angreifen, wäre hier die beste Möglichkeit.
Alltag für das zweite Aufklärungsbataillon 6 der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Pabrade im Osten Litauens. Zwei gedrungene Spähpanzer Fennek sind im Kiefernwald unterwegs zu einer großen Lichtung.
Dort haben sich Soldaten versteckt, die gleich den Feind spielen sollen. Hauptmann Oliver überblickt von einem Hochsitz aus das Geschehen. "Wir als fahrzeuggebundene Aufklärung oder als Späher auf einem Fahrzeug sind nicht dafür da, um zu kämpfen, sondern halt genau das Gegenteil", sagt er. "Wir wollen ja den Feind aufklären, ohne dabei selber aufgeklärt zu werden. Das ist auch so das Motto der Truppengattung: viel sehen, ohne gesehen zu werden. Klingt immer recht simpel, ist aber schwerer, als es aussieht."
Litauens Süden ist besonders relevant
Für die Aufklärer macht es einen großen Unterschied, ob sie bei Gluthitze in der Wüste Malis unterwegs sind oder eben in den Wald- und Sumpfgebieten des Baltikums. Bei NATO und Bundeswehr ist man sich einig, dass der Süden Litauens von besonderer Relevanz wäre, würde Russland einen direkten Angriff auf NATO-Gebiet wagen.
Für die tägliche Arbeit auf dem Truppenübungsplatz in Pabrade spiele das Thema Suwalki-Lücke keine Rolle, behauptet Hauptmann Oliver. "Das braucht die Männer eigentlich auch nicht zu interessieren. Die hat zu interessieren, dass sie ihren Auftrag können, egal, wo der stattfindet. Das machen wir hier ganz gut."
Die beiden Fennek-Spähpanzer sind inzwischen am Rand der Lichtung angekommen – und offenbar bemerkt worden. Die Soldaten in den Panzern feuern zurück und treten den Rückzug in den Wald an. Die Aufklärer gehören zur Verstärkungstruppe, die im Februar nach Litauen geschickt wurde. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Bedrohungslage im Baltikum verschärft – und somit auch die dort seit fünf Jahren stationierten NATO-Battlegroups alarmiert. Vor dem NATO-Gipfel Ende Juni fordern die baltischen Staaten deshalb auch eine weitere Aufstockung der jeweils rund 1500-köpfigen Verbände.
NATO-Battlegroups zum Kämpfen bereit
Alle sechs Monate werden die Soldatinnen und Soldaten samt Ausrüstung ausgetauscht – mit "Militärtourismus" habe der Einsatz aber seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nichts mehr zu tun, sagt Deividas Šlekys, Politikwissenschaftler von der Universität Vilnius.
"Sie sehen diese Stationierung heute anders: nämlich als Verteidigungseinsatz, den man gut vorbereitet antritt – notfalls auch zum Kämpfen, sollten Litauen oder die NATO infolge russischer Aktivitäten angegriffen werden", sagt er. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie kämpfen und das Gebiet verteidigen würden – vor allem den Suwalki-Korridor."
Suwalki-Lücke oder Suwalki-Korridor
Suwalki-Lücke oder Korridor – das ist eine Frage der Perspektive: Aus westlicher Sicht ist der schmale Grenzstreifen zwischen Polen und Litauen ein Korridor, durch den für das ganze Baltikum wichtige Straßen, Bahn- und Stromtrassen sowie seit neuestem eine Gas-Pipeline verlaufen. Für die NATO bedeutet er den einzigen Versorgungsweg über Land ins Baltikum, den es im Fall eines Angriffs offenzuhalten gilt.
Aus Moskauer Perspektive handelt es sich hingegen um eine Lücke: Nur 65 Kilometer trennen hier die russische Exklave Kaliningrad vom Vasallenstaat Belarus.
Wir sind unterwegs mit Darius Andziulis. Der Tierarzt ist Anfang 40 und hat 15 Jahre lang im Vereinigten Königreich gelebt – daher stammt auch sein britischer Akzent. Inzwischen wohnt er mit seiner Familie in der Nähe der 35.000 Einwohner-Stadt Marijampole, rund 30 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt.
Gut 300 Kilometer bis Warschau sind es von hier. Doch auch Kaliningrad ist nicht weit. Vištytis ist das letzte litauische Dorf vor der russischen Grenze.
Aus dem Autofenster sehen wir den glänzenden Stacheldrahtzaun – etwas weiter südlich gibt es eine natürliche Barriere. "Die andere Seite des Sees ist schon Russland", sagt Andziulis. "Da gibt es auch Markierungen im Wasser."
Am litauischen Ufer zeigt uns Darius eine Hochzeitslocation, die ein Freund von ihm betreibt. Ein toller Ort, sagt er. Er habe hier schon einige Mal gefeiert, getrunken und dann rüber nach Russland gepinkelt, erzählt er und lacht.
Ukraine-Krieg hat in Litauen Spuren hinterlassen
Die räumliche Nähe zu Kaliningrad gehört hier zum Alltag, Darius begegnet ihr mit etwas Humor. Er gibt sich gelassen. Doch spurlos ist der russische Einmarsch in der Ukraine an der litauischen Bevölkerung nicht vorbeigegangen. Während unserer Recherche im Land erzählen uns Menschen, dass sie mit einer Flugzeugradar-App überprüfen, ob das Dröhnen im Himmel von einem zivilen Flugzeug kommt. Andere, dass sie Vorräte von Treibstoff und Bargeld aufgestockt haben.
Auch Darius hat in seiner Tierarztpraxis erlebt, dass Menschen auf Nummer sicher gehen wollen. "Ich treffe jeden Tag viele Menschen. Ich würde nicht sagen, dass sie Panik haben. Aber kurz nach Kriegsausbruch hatte ich vielleicht 15 Prozent mehr Nachfrage nach Reisepässen für Haustiere als üblicherweise. Nur für alle Fälle, haben sich einige gedacht."
Auch die Nachfrage nach Wärmebildkameras war sehr hoch, erzählt der Hobby-Jäger. Darius selbst fühlt sich gut vorbereitet. Er habe genügend Lebensmittel, um sich und seine Familie drei Monate lang versorgen zu können. Hinzu kommt: Der Tierarzt ist Mitglied in der Schützenunion.
Der paramilitärische Verein hat eine lange Tradition in Litauen. Anfang des Jahres hatte er gut 10.000 Mitglieder. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden mehr als 4000 neue Mitgliedsanträge gestellt, darunter auch von prominenten Politikerinnen wie Premierministerin Ingrida Šimonytė und Parlamentspräsidentin Viktorija Čmilytė-Nielsen.
Schießtraining gehört zum Alltag
Zu Besuch im Hauptquartier des Regionalverbands der "Lietuvos šaulių sąjunga", wie die Schützenunion auf Litauisch heißt, in Marijampole. Der Sitzungsraum sieht etwas trist aus, mit schwarzem Stoff bezogene Stühle stehen ordentlich aufgereiht hintereinander.
Vorne auf dem Tisch liegt der Stolz der Schützenunion bereit: Vier G36 und ein MR-308-Scharfschützen-Gewehr mit Zielfernrohr. Bezirkskommandant Egidijus Papečkys schwört auf die Waffen des deutschen Herstellers Heckler und Koch.
Schießtrainings gehören zum Alltag in der Schützenunion: Im Falle eines Angriffs würde sie in die Landesverteidigung eingebunden und der Armee unterstellt. Der paramilitärische Verein wird dazu finanziell und organisatorisch vom Staat unterstützt.
Papečkys erzählt vom breiten Tätigkeitsfeld des Vereins: in der Pandemie griff man dem Gesundheitssystem unter die Arme, jetzt sammle man Sachspenden für ukrainische Flüchtlinge. Trotzdem kommt das Gespräch immer wieder zurück auf Gewehre, Pistolen und den Verteidigungsfall.
Schützenunion steht schon Elfjährigen offen
Mit Waffen hantieren darf man auch in Litauen erst mit 18. Trotzdem steht die Schützenunion bereits Elfjährigen offen. Dass die Schützenunion zur Rekrutierung ihres Nachwuchses auch regelmäßig in Schulen zu Besuch ist, wird in Litauen kaum kritisiert.
Der auf das litauische Militär und Verteidigung spezialisierte Politikwissenschaftler Deividas Šlekys vergleicht die Jugendarbeit der Schützenunion mit der der Pfadfinder: beide bieten Aktivitäten an der frischen Luft wie Survival-Kurse im Wald.
Insgesamt gehe es hier jedoch darum, eine Verbindung zwischen Militär und Zivilgesellschaft herzustellen. Das wäre wohl auch die wichtigste Aufgabe im Verteidigungsfall, sagt Šlekys: "Einer der Gründe, warum sie wirklich nützlich sind: Sie sind aufs ganze Land verteilt." Jede größere Stadt habe einen Ortsverband der Schützenunion. "Das heißt, sie deckt das ganze Land ab, wohingegen das Militär auf bestimmte Gebiete konzentriert ist." Nicht in jeder Stadt gebe es ein Battalion, und da komme die Schützenunion ins Spiel. "Es sind über das ganze Land verteilte Einheiten, die nicht-militärische Unterstützung für das professionelle Militär bieten."
Ortsansässige kennen das Gelände
Der Vorteil sei der gleiche wie bei den Freiwilligen der Territorialstreitkräfte in der Ukraine: Die Ortsansässigen kennen jede Abkürzung, jede Möglichkeit für einen Verteidigungsposten oder einen feindlichen Hinterhalt und können als lokale Guides für ortsfremde Truppen fungieren.
Was die militärisch genutzte Infrastruktur betrifft, müsse weiterhin investiert werden – auch wenn Litauen schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine seine Armee modernisiert hat, erklärt der Politikwissenschaftler. "Vor allem Straßen, Brücken, Baracken und mehr NATO-Ausrüstung, also bewaffnete Artillerie. Dafür geben wir Geld aus."
Auch personell wird die litauische Armee weiter gestärkt. Zivilisten werden ebenfalls in die Landesverteidigung eingebunden: So üben Armee und Schützenunion regelmäßig gemeinsam.
Seit Beginn des russischen Einmarschs am 24. Februar ist das Interesse an der Schützenunion noch einmal rasant gestiegen, bestätigt Bezirkskommandant Egidijus Papečkys in Marijampole. "Die Menschen sehen, was in der Ukraine passiert. Sie wollen mehr darüber wissen, was sie im Krieg oder in einer Krise tun könnten", sagt er. "Natürlich wollen sie Verantwortung übernehmen für ihre Stadt oder ihr Land. Das sind Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft, vom Arbeitslosen bis zum hochrangigen Staatsanwalt oder Polizisten."
Papečkys unterrichtet nebenbei auch an der Militärakademie. Er weiß um die strategische Bedeutung der Region um seine Heimatstadt Marijampole. Auf einer Karte an der Wand erklärt er Darius Andziulis die strategisch wichtigen Punkte im Grenzgebiet, zum Beispiel die Landstraße von Kaliningrad zum litauischen Ort Kalvarija, die wohl gut für russische Panzer geeignet wäre.
Abwanderung aus Grenzgebiet
Mit dem Auto fahren wir vorbei an ausgedehnten grünen Wiesen und Feldern, die man weit überblicken kann. Dazwischen kleinere Kiefern- und Birkenwälder und Gewässer. Gute Bedingungen für Verteidiger, die ihr Land genau kennen.
Nur vereinzelt stehen Häuser oder kleinere Siedlungen. Wir sehen mehr Störche als Menschen – aus dem Grenzgebiet wandern schon seit längerem Menschen ab.
Die Grenze zwischen Litauen und Polen zu passieren, ist dank EU und Schengen keine große Sache. Wir fahren vorbei an verlassenen Grenzhäuschen. Am Übergang steht ein polnischer Panzer auf einem Anhänger – er wird wohl zu einer der regelmäßigen Militärübungen in Litauen transportiert. Für Darius keine Besonderheit: Von seinem Heimatdorf aus sehe er jede Woche Transporte der litauischen Armee auf den nahen Truppenübungsplatz. Militär ist nicht nur in der Suwalki-Region ein ständig sichtbarer Begleiter.
Der Grenzstein: eine kleine Attraktion
Auf der polnischen Seite des Suwalki-Korridors wird die Landschaft hügeliger. Bis zur namensgebenden polnischen Stadt sind es vom Grenzübergang aus gute 25 Kilometer. Wir biegen vorher schon rechts ab, Richtung Dreiländereck: In Bolcie stoßen die Landesgrenzen von Polen, Litauen und Russland aneinander.
Hier wird deutlich, wie sich der Grenzverkehr in der Suwalki-Region in der jüngeren Geschichte gewandelt hat: Nach der litauischen Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1990 entstand die harte Grenze zu Kaliningrad. Mit dem Beitritt Polens und Litauens zum Schengen-Raum 2007 wurde die gemeinsame Grenze durchlässig.
Heute ist der Grenzstein aus Granit eine kleine Touristenattraktion. Doch weil er hauptsächlich von Wald und Wiesen umgeben ist, zieht er auch tierische Besucher an.
Darius entdeckt ein Reh. Zweijährig, erkennt sein geschultes Jägerauge sofort. Russisch, polnisch oder litauisch? Darüber macht sich das Reh wohl keine Gedanken. Als es uns bemerkt, nimmt es Reißaus – in den schmalen Streifen Niemandsland zwischen zwei Grenzzäunen: Der russische links ist an manchen Stellen schief oder von Gebüsch überwuchert. Der litauische Zaun gegenüber glänzt und steht kerzengerade, hat eine Stacheldrahtkrone und wird von Kameras überwacht. Litauen hat aufgerüstet.