Strukturwandel in Gelsenkirchen

Raus aus der "Vergeblichkeitsfalle"

30:32 Minuten
Stadtansicht von Gelenkirchen. Vor grauen Kleinstadt-Fassaden ist auf einer Garage ein Grafito eines Schalker Fanclubs zu sehen.
Gelsenkirchen ist eine der hochverschuldeten Städte im Ruhrgebiet - und Heimat des FC Schalke 04. © Marius Elfering
Von Marius Elfering · 22.03.2022
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Gelsenkirchen ist groß geworden durch den Bergbau, Kohle, Eisen und Stahl - und dann tief gestürzt in Armut und Arbeitslosigkeit. Die großen politischen Probleme stehen auf der Tagesordnung. Wie lebt es sich dort, und wie kann es wieder aufwärts gehen?
In einer Stadt der Unsicherheiten, in der stets die Frage im Raum steht, ob es einen Weg raus aus der Krise und wieder nach oben gibt, kann eines vielen Menschen Halt geben: Kontinuität. Das Wissen, dass es Menschen und Orte gibt, die vieles zusammenhalten, was sonst drohte auseinanderzubrechen.
Seit einem halben Jahr bin ich in Gelsenkirchen unterwegs. Eine Stadt, die durch den Bergbau groß geworden und dann tief gestürzt ist. Armut, Arbeitslosigkeit, hoher Leerstand, das sind die Probleme der Stadt. Und gleichzeitig gibt es Orte, Traditionen und Menschen, die für Kontinuität sorgen.

Menschen, die die Stadt geprägt haben

Der FC Schalke 04, der Fußballspiel für Fußballspiel zehntausende Fans in blau-weißen Trikots ins Stadion lockt. Die ehemaligen Zechen, die sich hier und dort zu Parks entwickeln und gleichzeitig an alte, vergangene Zeiten erinnern. Oder auch Menschen, welche die Stadt über viele Jahre mitgeprägt haben.

In drei Teilen begleitet die „Zeitfragen“-Serie "Strukturwandel in Gelsenkirchen – Aufstieg. Abstieg. Aufbruch?" Menschen, die darum kämpfen, dass sich in Gelsenkirchen etwas bessert – für sie ganz persönlich und die Stadt als solche. Wie ist die wirtschaftliche Situation und wie lebt es sich dort? Das und mehr beschreibt der erste Teil. Am 31. Mai 2022 erfahren Sie dann, wie es weitergeht.

Es ist Mitte Februar 2022, als Thomas Wesselborg ein Restaurant in Gelsenkirchen-Buer betritt und die braune Kappe auf seinem Kopf richtet. Er blickt nach links, nach recht, dann sieht man unter seiner Maske das für ihn typische, breite Grinsen.
36 Jahre lang gehörte ihm die Destille, eine Schalker Fankneipe, etwa zwei Kilometer entfernt. Nun hat er sie verkauft. „Es war immer mein Traum. Ich habe das wirklich komplett gelebt", sagt er.
Thomas Wesselborg hinter seinem Bier an einem Kneipentisch
Hat seine Kneipe inzwischen verkauft: Seit 1985 führte Thomas Wesselborg die "Destille".© Deutschlandradio / Marius Elfering
Im November 2021 noch saß ich neben ihm in der Destille. Schalke spielte gegen Werder Bremen. Thommi, wie ihn die meisten nennen, beugte sich zu mir rüber, vor ihm lief das Spiel auf einem Fernseher, um ihn herum grölten Fans.
„Ja, für mich haben sich auch ein paar Neuigkeiten ergeben. Ich habe meinen Laden verkauft.“
„Nein?!“
„Ja. Nach 36 Jahren.“
Er wolle das erzählen, wenn er etwas mehr Ruhe habe, sagte er damals. Dass er seine Kneipe in den nächsten Jahren verkaufen würde, das war für Thommi klar. Irgendwann sei es mal gut. Noch zwei, drei Jahre vielleicht, sagte er, als wir uns kennenlernten. Jetzt ging es schneller. Die zugespitzte Corona-Situation für die Gastronomie, ein Interessent, der die Destille weiterführen wollte: Das war für ihn die Chance zum Ausstieg.

Schwindender geschäftlicher Erfolg

„Diese Kleinigkeiten mit dem schwindenden geschäftlichen Erfolg, die ermüden und erschöpfen dich so sehr, dass du auch irgendwann mal sagst: Wie blicke ich auf mein Konzept? Wie, wie, kann das sich entwickeln? Was kann ich überhaupt noch machen?
Denn nach 36 Jahren habe ich ja nun wirklich auch viel erlebt und inklusive schweren Phasen auch gute Phasen, wirklich fantastische Veranstaltungen gehabt auch. Aber du, du guckst dann natürlich auf dein Baby von außen und sagst: Was kann ich denn noch erreichen? Was kann ich denn noch machen damit?“
Die Destille, das war der Ort, den er sich aufgebaut hat. Mit dem er identifiziert wurde. An dem er hing. Thommi feierte hier die Siege und die Niederlagen. Die Destille gab den Menschen Kontinuität.
Nach dem Verkauf seiner „Dille“, wie er sie manchmal liebevoll nennt, geht es ihm gut. Er ist viel mit seinen Hunden im Wald unterwegs. Er überlegt, wie seine Zukunft aussehen könnte.

Vielleicht stellt er sich wieder hinter den Tresen

Und wenn es wieder besser läuft, wenn die Tage wieder wärmer und länger werden, arbeitet er vielleicht auch hin und wieder in der Destille für den neuen Besitzer, steht hinter der Theke, zapft wieder Bier. Vor allem aber wird er mehr neben den Gästen sitzen, selbst Gast sein. Er ist nicht weg, er wechselt nur seinen Platz.
Thommi scheint glücklich mit seiner Entscheidung zu sein. Er ist froh, dass die Destille weiterleben wird. Stünde er heute wieder vor der Frage, ob er sein halbes Leben lang eine Kneipe führen wollen würde, seine Antwort wäre immer: Ja.
„Der Spaß mit den Menschen und mit den Leuten und zusammenzukommen und die Geschichte immer weiterzuentwickeln und Leute zu haben, die seit 35 Jahren in deiner Kneipe schon verkehrt sind und eben auch schon mal die eine oder andere Ehe gestiftet zu haben oder dann wieder irgendwann einen runden Geburtstag, einen fünfzigsten zu feiern, weil gesagt wird: 'Ach, wir haben uns bei dir kennengelernt, und ich möchte jetzt meinen Geburtstag feiern. Ich habe jetzt meine Kinder großgezogen.‘
Die Kinder, die mich dann grüßen. ‚Ich soll dich von meiner Mama, von meinem Papa grüßen‘, oder wie auch immer. Wo ich sage: ‚Ja, wie geil ist das denn? Bring die doch mal wieder mit‘, wie auch immer. Ne? Aber das einfach: Diese Erlebnisse, dafür hat es sich tausend Mal gelohnt.“

Gelsenkirchen und die Bildungsoffensive

Während Thommi einen wichtigen Abschnitt seines Lebens hinter sich lässt, die Anspannung etwas abfällt, warten auf viele Menschen in Gelsenkirchen riesige Herausforderungen.
Über ein Jahr ist Karin Welge mittlerweile die Oberbürgermeisterin Gelsenkirchens. Genug Zeit, um Schwerpunkte in der politischen Kommunikation zu setzen. Einer davon: eine „Bildungsoffensive“ für die Stadt. So nennt sie das.
Die bestehenden Schulen sollen saniert, neue sollen gebaut werden. Außerdem plant sie einen so genannten „Bildungscampus“, ein Großprojekt, das die berufliche Bildung in der Stadt stärken soll.
Karin Welge posiert hinter einem Stehtisch für ein Foto.
Über ein Jahr ist Karin Welge mittlerweile die Oberbürgermeisterin Gelsenkirchens.© Deutschlandradio / Marius Elfering
„Gute Bildung sorgt für kompetente, kreative Köpfe in der eigenen Stadtgesellschaft, sorgt am Ende des Tages für starke Menschen, die als Motor für Gründungsgeschehen, als hochqualifizierte zukünftige Mitarbeiter von neuen Unternehmen agieren.“
Karin Welge sitzt am großen Konferenztisch in ihrem Büro im fünften Stock des Hans-Sachs-Hauses in Gelsenkirchen. Lässig liegt ihr Arm über einer Stuhllehne. Doch wenn sie einen Punkt machen will, der ihr wichtig ist, dann legt sie ihre Hände in den Schoß und schießt mit dem Oberkörper nach vorne.
Allein vier neue Grundschulen sollen in Gelsenkirchen gebaut werden. Die Eröffnung der ersten ist bereits für diesen Sommer geplant, der Rohbau steht. Es werden die ersten Schulneubauten in der Stadt seit über 40 Jahren sein. Hätte man früher reagieren müssen? Vielleicht.
„Wenn auf der Ausgabenliste, und damals hieß es noch Ausgaben und nicht Aufwendungen, nur eine bestimmte Größenordnung steht, dann geht natürlich der Verteilungskampf los.
Und wenn ich das gleiche Geld dann nehmen muss, um Straßenschäden zu reparieren, neue Kindergärten zu bauen, auch da gab es ja, ich sage mal, so eine Entwicklung von fast 20 Jahren, wo ganz schnell viel gebaut werden musste, dann liegt der Fokus und der Schwerpunkt des politischen Handelns immer auf den Notwendigkeiten und auf den Prios eins.“

Andere Städte müssten verzichten

Die so genannte „äußere Schulentwicklung“ regelt in den meisten Bundesländern, dass Vorhaben wie der Bau, die Instandhaltung und die Ausstattung von Schulen Aufgaben der Kommunen darstellen. Doch natürlich gibt es immer wieder Zuweisungen, Förderprogramme, Gelder zur Unterstützung. Und vielleicht zeigt das Kommunikationsdefizit, das bei der Verteilung solcher Gelder zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund häufig aufkommt, gut, weshalb Städte wie Gelsenkirchen, nicht nur in diesem Themenfeld, immer wieder auf der Strecke bleiben.
„Es gab vor vielen, vielen Jahren, da bin ich übrigens Schuldezernentin gewesen, eine sogenannte bedarfsorientierte Finanzierung. Das heißt, die Kommunen haben ihre Bedarfe angemeldet beim Land. Und wie das dann so ist, waren die Anmeldungen natürlich deutlich höher als die Futtertröge, wie wir immer so schön sagen, als die Töpfe. Und dann hat das Land entschieden und hat gesagt: Wir machen, ich nenne das jetzt mal, ein bisschen Gießkanne. Wir machen Bildungspauschalen.
Das heißt, es gibt pro Schüler nach Schulformen unterschiedlich bestimmte Gelder, die zunächst einmal nur investiv verwandt werden konnten, nachher auch für Reparaturarbeiten und Instandsetzungsarbeiten. Das hat dann auf den ersten Blick den meisten ganz gut gefallen, weil erst mal alle Geld bekommen haben. Es hat aber vollkommen verkannt, dass nicht bedarfsorientiert gearbeitet wird.“

Wenn ein Kind für sich entdeckt: ‚Ich will was werden‘, dann habe ich eine ganze Menge gewonnen, und die erste Eintrittskarte dafür ist die Kindertageseinrichtung. Da sind wir jetzt relativ gut aufgestellt.

Karin Welge, Oberbürgermeisterin

Das Beispiel, das Karin Welge beschreibt, lässt sich auf andere Themenbereiche übertragen. Als die Coronapandemie 2020 in Deutschland die wirtschaftliche Situation der Städte stark verschlechterte, orientierte man sich bei der Vergabe von Bundesmitteln auch an den ausbleibenden Gewerbesteuern.
Die Folge: Reiche Städte mit großen, gut laufenden Unternehmen, bekamen große Geldmengen. Arme Städte mit wenig Infrastruktur blieben auf der Strecke. Wenn es darum geht, wie viel Geld in die Städte fließen soll, geht es auch um die Frage: Gibt es Kommunen, die bereit sind zu verzichten? Mehrheiten findet man als Politiker oder Politikerin dafür selten.
„Ich kann es den Kollegen aus den anderen Städten noch nicht mal verdenken, weil wer nicht 14 Tage hier gesessen hat und den Unterschied tatsächlich realisiert hat, der hat auch keine Vorstellung davon, wie unterschiedlich die fiskalischen Rahmenbedingungen sind.“

Viele Familien aus Süd-Ost-Europa kamen

Die knappen finanziellen Mittel erfordern zwangsläufig, dass Politiker und Politikerinnen Schwerpunkte setzen.
Im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die in der EU seit 2014 für Menschen aus Bulgarien und Rumänien gilt, sind viele Familien aus Süd-Ost-Europa nach Gelsenkirchen gekommen.
Das hat auch zu Spannungen geführt. Es gibt intensive Auseinandersetzungen darum, wie man die Familien und vor allem die Kinder nachhaltig in die Stadtgesellschaft einbinden kann. Gleichzeitig hat Gelsenkirchen schon jahrelang Probleme mit den schwierigen Verhältnissen, in denen viele Kinder hier generell aufwachsen. Dass Karin Welge auf Bildung setzt, liegt nahe.

Menschen als Erfolgsmotor

„Hey, jetzt mach ich mir mal ein bisschen emotionaler, wenn ein kleines Kind zu mir kommt, was nicht Deutsch spricht, wo die Mutter nie in der Schule war und der Vater nicht zur Arbeit geht. Und dieses Kind ist in 20 Jahren noch hier. Dann kann ich doch nicht ernsthaft die These vertreten, dass nicht Bildung das Wichtigste ist für dieses Kind, dann muss ich sagen: Bringt dem Kind mal ganz schnell bei, wie dieses Leben hier funktioniert, wie man in einer Stadt zum Erfolgsmotor wird“, sagt Karin Welge.
„Und dann ist es mir egal, ob dieses Kind, ich sage das in aller Deutlichkeit, Reinigungskraft, Krankenschwester, Bürokauffrau, Einzelhändlerin, Verwaltungsmitarbeiterin oder Professorin werden will. Wenn dieses Kind für sich entdeckt: ‚Ich will was werden‘, dann habe ich eine ganze Menge gewonnen, und die erste Eintrittskarte dafür ist die Kindertageseinrichtung.
Da sind wir jetzt relativ gut aufgestellt. Die zweite Stufe ist aber dann die Schule. Und wenn ich davon rede, eine Bildungsoffensive zu starten, dann habe ich nicht gesagt, ich rufe die Akademisierung dieser Stadt aus. Dann habe ich gesagt, wir müssen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass wir die Menschen in dieser Stadt gut ausbilden für ein starkes, selbstbestimmtes, eigenfinanziertes Leben. In welchem Beruf auch immer.“
Karin Welges Rechnung scheint einfach: Gute Bildung führt zu gut ausgebildeten Arbeitskräften, die dann „Erfolgsmotor“ sind. Doch werden sie der Stadt tatsächlich einen Schub geben und hierbleiben?
„Wenn man auf den Arbeitsmarkt guckt, dann wäre die Anschlussfrage: Es gibt einen tollen Bildungs-Campus, da ist man stolz drauf. Da läuft es super und am Ende laufen alle weg, weil die Arbeit woanders attraktiver ist.“
„Oops, das ist ja eine gemeine Frage.“
„Das ist, glaube ich, die Frage, die alle sich stellen. Aber jetzt mal ganz ehrlich. Das ist das Risiko, wenn man gute Leute hat. Ich werde keinen Zaun um diese Stadt ziehen können. Was ist Ihre Gegenthese?“
„Die Gegenthese ist, dass sie attraktiver werden müssen als Unternehmensstandort.“
„Und wie wollen Sie das machen?“

Ewige Suche nach dem Patentrezept

Es ist die ewige Suche nach dem Patentrezept. Alle wollen die einfache Antwort: Politikerinnen, Journalisten und die Bürgerinnen und Bürger einer Stadt. Alle wollen klug geplante Veränderungen und das möglichst schnell. In den vergangenen Monaten haben ein großer Elektrofachmarkt und ein bekanntes Modeunternehmen bekanntgegeben, dass sie Gelsenkirchen verlassen oder Filialen schließen werden.
Es sind diese Dinge, die die Menschen vor Ort sehen, die immer da waren und jetzt auf einmal fehlen werden. Es ist der Kampf der kurzfristigen, schmerzhaften Rückschläge gegen die langfristigen Pläne der Zukunft.
„Natürlich, die Menschen wollen die kleinen und schnellen Erfolge, und sie wollen sie direkt bei sich vor Ort sehen und spüren. Deswegen ist natürlich, ich sage das mal so, irgendwie ein neues Geschäft, und selbst, wenn es nur für drei Jahre bleibt, erst mal ein viel größerer Gewinn als die Neuansiedlung eines Unternehmens. Wenn ich sehr viel kurzfristiger denken wollen würde, würde ich vielleicht andere Dinge machen, würde vielleicht an der einen oder anderen Stelle ein bisschen emotionaler damit sein, hätte vielleicht auch kurzzeitig damit Erfolg, aber ich stelle mir immer die Frage: Was bringt das auf Strecke?“

Städte in der Schuldenfalle

Ein langer Flur in einem Bürogebäude in Berlin-Mitte. Ich bin beim Deutschen Institut für Urbanistik, das sich seit beinahe 50 Jahren mit Fragestellungen rund um kommunale Politik beschäftigt, also damit, was Städte bewegt.
Carsten Kühl leitet das Institut. Eines seiner Themenfelder ist die kommunale Finanzpolitik. Er sitzt an diesem Morgen an einem Tisch in seinem Büro und muss nicht lange nach einer Antwort suchen, als ich ihn frage, wie Städte in prekären finanziellen Verhältnissen aus dieser Situation wieder herauskommen könnten.
„Sie haben fast keine Chance mehr, aus eigener Kraft aus dieser Falle rauszukommen, ihre Finanzkraft signifikant zu verbessern. Und selbst wenn sie hart an irgendeiner Stelle sparen würden, würde ihnen das kaum die Möglichkeit eröffnen, ihre eigene Stadt wieder in eine vernünftige Prosperität zu bekommen.“
Die massiven Altschulden unterschiedlichster Städte führen dazu, dass sich diese irgendwann in der so genannten „Vergeblichkeitsfalle“ befinden. Die hohen Schulden und die anfallenden Zinsen hindern sie trotz größter Anstrengungen daran, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen und zukunftsweisende Investitionen auf den Weg zu bringen.
Um die Finanzierung aufrecht zu erhalten, nutzen die Kommunen so genannte Kassenkredite, die eigentlich kurze Laufzeiten haben, aber mittlerweile für viele Städte ein dauerhaftes Instrument darstellen, um liquide zu bleiben. Gelsenkirchens laufende Kassenkredite im Jahr 2021 lagen in der Spitze bei 748 Millionen Euro.
„Seit rund zehn Jahren wird darüber diskutiert, diese hoch verschuldeten Städte zu entschulden. Mit einem kommunalen Altschuldentilgungsfonds, der natürlich nicht von diesen Städten alleine bewältigt werden kann, eigentlich von diesen Städten überhaupt nicht bewältigt werden kann, sondern der mit Unterstützung der jeweiligen Länder und des Bundes bewerkstelligt werden muss. 2020 war man eigentlich ganz nah daran, einen solchen Altschuldentilgungsfonds in der Finanzaufteilung zwischen Bund und betroffenen Ländern auf die Beine zu stellen. Dann kam die Coronakrise und hat das im Grunde genommen zunichtegemacht.“

Hilfe von Bund und Ländern

Unterschiedlichste Regionen in Deutschland drängen auf eine Regelung, wie man mit den Altschulden umgeht. Nicht nur die hochverschuldeten Städte im Ruhrgebiet.
„Es gibt eine relativ parallele Betroffenheit zwischen Saarland und Ruhrgebiet, nämlich Kohle und Stahl. Also dieser Strukturwandel. In Rheinland-Pfalz sind es hauptsächlich die Städte, die sehr stark von der militärischen Konversion betroffen waren. Das heißt also, wo alliierte Streitkräfte nach 1990 aus Rheinland-Pfalz raus sind. Rheinland-Pfalz war das Land, was weit, weit, am stärksten Standort für alliiertes Militär war, Und als die raus waren, ist die Kaufkraft weggebrochen, sind zivile Arbeitsplätze weggebrochen. So. Gemeinsam, wenn auch unterschiedlich, ist aber diesen regionalen und spezifischen Krisen, dass sie auch eine gewisse Funktionalität für die gesamte Bundesrepublik hatten.“
Gelände Zeche Nordstern.
Gelände der ehemaligen Zeche Nordstern: Nicht nur die Kumpel und die Stadt, das ganze Land profitierte von Kohle und Stahl.© Marius Elfering
Keiner der Kumpel, die in Gelsenkirchen unter Tage gearbeitet haben, hat das nur für die Stadt selbst getan. Nicht nur für den eigenen Lohn. Das ganze Land profitierte von Kohle und Stahl.
„Es gibt so etwas wie eine Gesamtverantwortung gegenüber denen, die, ob man das richtig oder falsch fand, aber das war politisch so gewollt und entschieden, die eine Gesamtverantwortung wahrgenommen haben. Und dann könnte man im Umkehrschluss sagen: Dann gibt es auch eine Gesamtverantwortung, um denen aus einer Situation heraus zu helfen, die sie nicht alleine zu verantworten hatten."

Sind Bund und Länder bereit zu helfen?

Als Carsten Kühl all diese Gedanken ausführt, muss ich an eines meiner Gespräche mit Karin Welge denken. Sie war gerade dabei, über den Blick von Landes- und Bundespolitik auf arme Städte mit großen Problemen zu sprechen.
„Und wenn man das, ich sage mal, dort mal ein bisschen mit bösen Worten, die mir mal aus Berlin vor ganz vielen Jahren zugespielt worden sind, umschreibt, dann sind wir nicht systemrelevant. Und dem würde ich ganz gerne die These dagegensetzen: Sehr wohl sind wir systemrelevant.“
Die Frage, die Carsten Kühl, Wochen nach meinem Gespräch mit Karin Welge in den Raum stellt, kommt diesem Gedanken sehr nahe: Sind Bund und Länder bereit, Städten wie Gelsenkirchen wieder zur Relevanz zu verhelfen?
„Wo tue ich eine Bundesbehörde, eine Landesbehörde hin? Tue ich die in die prosperierenden Städte? Oder tue ich sie woanders hin? Siedel ich meine Finanzämter, wenn ich sie im Zuge der Digitalisierung immer mehr reduziere, in den Landeshauptstädten an? Oder tue ich sie eher in ländliche Regionen, wo es geringere Wertschöpfung gibt? Das sind Entscheidungen, die die Kommune nicht alleine treffen kann, wo andere ihnen helfen müssen.“

Zusammenspiel innerhalb einer Stadt

Ein anderes Stockwerk im Deutschen Institut für Urbanistik, ein anderer langer Flur, ein weiteres Büro. Hier sitzt Bettina Reimann. Sie leitet das Team „Stadt und Gesellschaft“.
Der Weg aus der Krise ist vielschichtig. Ein massiver Schuldenabbau und große Infrastrukturprojekte können helfen. Doch es braucht mehr: Visionen, Veränderungswille, eine Stadtgesellschaft, die gemeinsam ihre Zukunft plant.
„Eine gute Stadt macht aus, dass sozusagen die Governance der verschiedenen Akteursgruppen, das Zusammenspiel unterschiedlicher staatlicher, nichtstaatlicher Akteure funktioniert. Und das ist erst mal per se nicht so.“
Akute Krisen würden manchmal dazu führen, dass dieses Zusammenspiel innerhalb einer Stadt besser funktioniere, meint Reimann. Eine große Anzahl Geflüchteter, die in eine Stadt kommen, eine Naturkatastrophe - die Menschen greifen sich bei solchen Ereignissen unter die Arme. Doch bei Städten in der Dauerkrise ließe sich diese Mentalität nicht aufrechterhalten.
„Die Ermüdung setzt ja in gewisser Weise nicht nur bei der Bevölkerung ein, sondern sie setzt auch bei der Stadtverwaltung ein und geht bis hin zur Kommunalpolitik. Und ich glaube, wenn wir über Aufbruchsstimmung sprechen und die Frage: Wie muss ich motivieren, müssen wir tatsächlich die drei Gruppen im Blick haben.“
Die gute Politik mache man erst, wenn man nicht mit dem Rücken zur Wand steht, meint Bettina Reimann. Erst dann könne man Potenziale wirklich ausschöpfen.
„Also was sind sozusagen Orte, die wir uns auch aneignen können, in welcher Form auch immer, um Zusammenleben in einer Stadt, in einer Nachbarschaft, in einem Quartier, vielleicht auch in einem Wohnblock, zu gestalten. Denn der Zusammenhalt ist ja etwas, der kann dann wachsen. Aber erst mal geht es ja darum zu gucken, wie wollen wir dieses Zusammenleben gestalten? Und ist es ein ganz großer Raum mit einem großen Projekt? Also gibt es, weiß ich nicht, ein großes Wohnprojekt? Oder ist es vielleicht auch was Kleines in Form von Nachbarschaftsgärten oder einem Raum für Jugendliche, wo sie sich zurückziehen und skaten können?“
Es sind nicht nur die großen politischen Entscheidungen, die eine Stadt voranbringen. Es geht um das Ineinandergreifen unterschiedlichster Ebenen. Finanzielle Entlastung, Politik und Stadtgesellschaft, die zusammenarbeiten, Initiativen, die sich Räume und Plätze aneignen, und die Ansiedlung von zukunftsorientierten Unternehmen.

Gelsenkirchen als Ort der Chancen

An einem Stehtisch mit einem Notebook darauf steht ein Mann mit blauem Jackett, Hemd und dunklen Haaren. Um ihn herum tummeln sich Menschen, laufen von Messestand zu Messestand. Matteo Große-Kampmann stellt auf der PITS, einer Messe für IT- und Cybersicherheit in Berlin, das Unternehmen vor, das er gemeinsam mit einem Freund gegründet hat. Der Name: „Aware7“.
Gemeinsam beraten sie Unternehmen in Sicherheitsfragen zur IT-Infrastruktur und wie Sicherheitslücken entstehen. Ganz zufrieden ist er an diesem Tag noch nicht. Der Platz, dem man ihm zugewiesen hat, ist etwas zu groß geraten, er wirkt ein wenig verloren neben seinem Stehtisch. Dennoch: Immer wieder kommt er mit Interessierten ins Gespräch.
Porträt von Matteo Große-Kampmann
Das Ruhrgebiet gilt als einer der Knotenpunkte für Unternehmen, die im Bereich Internetsicherheit arbeiten, deshalb hat Matteo Große-Kampmann hier „Aware7“ gegründet.© Marius Elfering
„Ich glaube, man könnte sagen, ich bin in zumindest schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, wahrscheinlich. Mit getrennten Elternteilen, mit Privatinsolvenz eines Elternteils und dem, was da dann dranhängt. Es ist natürlich immer schwierig, wenn man jetzt einmal eine Geschichte erzählt von einer schweren Kindheit, sage ich jetzt mal. Dann kommt man da nicht mehr so leicht raus.“
Insgesamt habe er eine gute Kindheit gehabt, sagt Matteo Große-Kampmann. Seine Mutter habe ihn unterstützt, wo es nur ging.
Früh beginnt er sich für Internetsicherheit zu interessieren. Statt in Informatik dem Unterricht zu folgen, so erzählt er es, sucht er lieber im Schulnetzwerk nach Schlupflöchern.
„Ich habe mich lieber damit beschäftigt: Okay, wie kann man denn hier Sicherheitsmechanismen umgehen, vielleicht?“

Knotenpunkt für das Thema Internetsicherheit

Ein Bachelorstudium, dann der Master im Bereich Internetsicherheit. Als Anfang 2019 dann die Firmengründung ansteht, entschließen er und sein Mitgründer sich, dass sie mit ihrem Unternehmen nicht in eine der großen deutschen Metropolen gehen – sondern sich in Gelsenkirchen niederlassen. Das Ruhrgebiet gilt als einer der Knotenpunkte für Unternehmen, die im Bereich der Internetsicherheit arbeiten.
„Es gibt hier viele Chancen, gerade hier in Ückendorf. Es ist ein aufstrebendes Quartier, oder es möchte aufstrebend sein. Es entwickelt sich gerade viel, und das ist für uns einfach ein Standortfaktor gewesen. Ich meine, es gibt auch viele Gründe, die dagegensprechen…“
Eine Anbindung an das ICE-Netz, die besser sein könnte, zu wenig Wertschätzung und Unterstützung für junge Unternehmen in der Stadt, vor allem aber fehlt Matteo Große-Kampmann eines:
„Ich glaube einfach, es fehlt vielleicht eine Vision für das Ruhrgebiet, wo es denn mal hingehen soll. Jetzt abseits von der alten Industriekultur, die hier ist. Ich meine, wir haben natürlich diese Wissenschaftsregion, die einzigartig ist. Die Herausforderung ist dann aber, ja, die Leute hier zu halten.“
Matteo Große-Kampmann ist von den Chancen, die hier liegen, überzeugt. Wenn er über die Zukunft der Stadt spricht, dann bleibt er gerne im Bild des Malochers. Bits und Bytes würden sie hier zutage fördern, sagt er.
„Wir leisten unseren Beitrag eben, um hier zumindest dieses Thema Informationssicherheit nach außen zu stellen und zu sagen: ‚Okay, wir sind hier, wir bearbeiten das Thema‘, und, ja, was dann die Stadt am Ende daraus macht, das ist so ein bisschen deren Sache.“

Der Kampf um Pläne, Ideen, Innovationen

In den Monaten, in denen ich in Gelsenkirchen unterwegs bin, stelle ich Stadtforschern, Soziologinnen und Ökonomen in den unterschiedlichen Gesprächen immer wieder eine Frage: Kennen sie eine Stadt, die es geschafft hat? Raus aus der Krise, rein in eine bessere Zukunft?
Den meisten fällt es schwer, passende Beispiele zu finden. Einige Tage nach meinem Gespräch mit Bettina Reimann, der Leiterin des Teams „Stadt und Gesellschaft“ am Deutschen Institut für Urbanistik, schreibt sie mir eine Mail: „Was halten Sie von Leipzig?“
Es ist wie bei allen großen Vergleichen: Die Situationen und Zahlen, welche die unterschiedlichen Krisen der Städte beschreiben, sie lassen sich nicht einfach übereinanderlegen. Die Menschen in Gelsenkirchen hatten mit dem Niedergang der Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie zu kämpfen. Die Menschen in Leipzig mit der wirtschaftlichen Abwärtsspirale nach dem Mauerfall. Doch tatsächlich kann Leipzig eine Geschichte erzählen.

"Leipzig kommt"

In den 90er-Jahren ging es der Stadt schlecht. Auch hier: eine hohe Arbeitslosigkeit, viel Leerstand, wenig Perspektive. Doch das änderte sich. Mitte der 90er-Jahre warb das Stadtmarketing Leipzigs mit dem Slogan: „Leipzig kommt.“
Und tatsächlich: Leipzig kam. Immer mehr Kreative fanden ihren Weg in die Stadt. Industriekultur, Freizeit und Kunst harmonierten gut miteinander. Das neue Gelände der Leipziger Messe, das 1996 eröffnet wurde, war damals das größte Einzelbauprojekt im Rahmen des „Aufbau Ost.“
Zwischen 2009 und 2020 hat sich die Arbeitslosigkeit in der Stadt halbiert. Im selben Zeitraum fiel die Leerstandsquote von Wohnungen von elf Prozent auf gut drei Prozent. Das Image wandelte sich, plötzlich war von „Hypezig“ oder „Boomtown“ die Rede.
Es gibt sie – die Beispiele vom Wandel.

Wird Gelsenkirchen zur "Boomtown"?

Und auch Gelsenkirchen hat sie, die Orte, die einen Blick in die Zukunft wagen. Im Gelsenkirchener Stadtteil Horst liegt der Nordsternpark. Ein riesiger Landschaftspark auf dem früher die Zeche Nordstern betrieben wurde. 1993 legte man sie still, 1997 fand hier die Bundesgartenschau statt. In einigen Jahren, 2027, wird das Gelände ein zentraler Bestandteil der internationalen Gartenausstellung sein – für die Stadt ein Leuchtturmprojekt.
Es wird um Ideen, Pläne und Visionen gehen, die auch Gelsenkirchen in eine bessere Zukunft führen könnten, auch wenn man nicht gleich zur neuen „Boomtown“ wird.
Die Leitfrage der internationalen Gartenausstellung wird lauten: „Wie wollen wir morgen leben?“.

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