Streit ums Existenzminimum

Was der Mensch zum Leben braucht

30:35 Minuten
Auf einem Tisch stehen ein Wasserglas und eine Scheibe Brot mit Butter.
Ein bisschen Butter darf schon sein - oder ist das fürs Existenzminimum zu viel? © Imago / Westend61
Von Heiner Kiesel · 18.10.2021
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Ein Dach überm Kopf, Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung: Diese Dinge gehören zweifellos zum Existenzminimum. Über alles andere wird heftig gestritten - auch weil die Frage, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, sich nicht pauschal beantworten lässt.
Ein Besuch auf der Intensivstation der Universitätsklinik Würzburg – auf der Suche nach einer möglichst einfachen, belastbaren Antwort auf die Frage: Was braucht der Mensch zum Leben – mindestens, noch vor individuellen und gesellschaftlichen Schwellen? Die Station wird von Patrick Meybohm geleitet:
"Ich bin 42 Jahre alt, verheiratet und bin jetzt seit fast 20 Jahren in dem Bereich Anästhesiologie und Intensivmedizin tätig, total spannender Beruf."
Er begleitet hier mit seinem Team Menschen am Rande der Existenz. Zwölf Patienten sind es im Augenblick. Im breiten Gang stehen rechts ungenutzte Apparate mit Schläuchen, Infusionsständer und Rollcontainer mit Verbandsmaterial. Es ist warm, riecht nach Desinfektionsmittel und hört sich ganz anders an als die Intensivmedizin im Vorabendprogramm.
"Es ist gut, wenn die Intensivstation ruhig ist, wenn die Alarme von der Lautstärke so sind, dass man sie im Zimmer hört, aber nicht auf dem Flur."
Links gehen die Krankenzimmer vom Gang ab. Eine offene Schiebetür, dahinter ein Vorraum mit großer Scheibe. Man sieht einen älteren Mann schlaff auf seinem Krankenbett. Künstliches Koma wegen einer Virusinfektion. Weißes Laken, Schläuche, die in seinen Arm, seinen Hals führen und ihn mit den Geräten am Kopfende verbinden.
Porträt des Mediziners Patrick Meybohm mit Mund-Nasen-Schutz.
Als Intensivmediziner hat Patrick Meybohm täglich mit dem biologischen Existenzminimum zu tun. © Deutschlandradio / Heiner Kiesel
"Wenn man das Thema Existenz aufnimmt – was braucht es mindestens –, dann ist es letztendlich Luft beziehungsweise Sauerstoff, der aufgenommen wird, mit dem Sauerstoff und dem, was wir zusätzlich an Ernährung zu uns nehmen, Zucker, Proteine, Fette, Vitamine, die wir mit der Nahrung aufnehmen", sagt Patrick Meybohm.
"Aus dieser Mischung Sauerstoff und Glukose produziert der Körper Energie, um den Körper, die Zellen am Leben zu erhalten, und auch, um aktiv zu werden. Sich zu bewegen, zu atmen – all das erfordert Kraft und Energie und dafür muss man Sauerstoff einatmen und gleichzeitig Substrate zuführen."

Auch das biologische Existenzminimum ist individuell

Aber was heißt das nun konkret? Nach welcher Formel berechnet der Mediziner das notwendige Minimum, die Zufuhr von Sauerstoff und Substraten?
Das sei ganz unterschiedlich, sagt Patrick Meybohm: "Das hängt vom Patienten ab, wie groß ist der Patient, wie schwer ist der Patient, ist es ein Kind, ein Jugendlicher oder ein Erwachsener, ist es ein Älterer? Ein Europäer mag anders sein als jemand aus Afrika oder Westaustralien. Das ist je nach Lebensphase völlig unterschiedlich, und da gibt es keine Faustformel oder so eine allgemeine Regel, dass man immer zwei Liter oder 2000 Kilokalorien zugibt. Das messen wir individuell, schauen, was der Körper braucht, und das geben wir dann auch hinzu."

"Ich persönlich denke beim Existenzminimum auch schnell, wie ist das familiäre Umfeld, habe ich eine Wohnung, bin ich obdachlos, habe ich die Strukturen, dass ich eine Familie habe, dass ich trocken, ruhig nachts schlafen kann." (Patrick Meybohm, Arzt)

Der Intensivmediziner schaut auf die Instrumente neben dem Krankenbett. Herzrate, Sauerstoffsättigung. Meybohm will dem Körper Zeit verschaffen – bis die Medikamente wirken, bis die eigenen Abwehrkräfte aktiv werden.
"Wenn man über ein Existenzminimum spricht, dann geht es nicht nur darum, was in den Körper reinkommt, sondern auch um das, was ich brauche, dass das Ganze funktioniert. Das ist eben nicht nur so messbar und im Blut und den Körperfunktionen, das geht in den Bereich der Psyche, des Bewusstseins, der Seele auch mit rein."
Das Leben am unteren Limit ist ein Zustand, der nur kurz dauern kann. Ein Extremfall. Existenzminimum.

Materielle und immaterielle Grundbedürfnisse

"Ich würde natürlich sofort als Universitätsangestellter auf das Immaterielle verweisen und sagen: mein Sohn, meine Frau! Das tue ich auch", sagt Thomas Schlösser von der Universität Köln.
"Aber wenn man es auf das Materielle runterbricht, dann kann ich wenigstens auf Wissen meiner Großeltern zurückgreifen, die im Krieg geflüchtet sind. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, dann wäre es mir, glaube ich, am wichtigsten, ein Dach über dem Kopf zu haben, einen Rückzugsort, wo man das Gefühl hat, man kann in Frieden sein mit seiner Familie."
Schlössers Fachbereich ist die Wirtschafts- und Sozialpsychologie. Er beschäftigt sich mit Fragen der Gerechtigkeit und des sozialen Zusammenhalts. Dabei geht es auch immer wieder darum, was Menschen für sich und andere für angemessen halten:
"Die Frage, was einem reicht, was man für angemessen hält."
Das persönliche Existenzminimum – naturgemäß schwer in Kategorien zu fassen.
"Das ist ein sehr offenes Feld", sagt Schlösser. "Man kann sich Menschen vorstellen, die aus kleineren Verhältnissen kommen und sehr viel erreicht haben, denen mag es auch leichter fallen, mit weniger auszukommen, weil sie das von früher kennen. Aber wenn dahinter eine sehr ehrgeizige, extravertierte Person steht, die unbedingt nie wieder dahin wollte, für die wird das natürlich umso schwerer sein. Da kann man ganz schwer eine Vorhersage machen, sondern muss immer die Interaktion betrachten zwischen der persönlichen Geschichte, der jetzigen Situation und den Anlagen in der Persönlichkeit. Leider muss ich das so offen formulieren."

Der Mensch vergleicht sich gern mit anderen

Um bei dieser Ausgangslage zu Aussagen darüber zu kommen, wie der Mensch zu seinen Einschätzungen über das Limit gelangt, hilft dem empirischen Sozialforscher der Zauber der großen Zahl. Wenn man eine Person genau betrachtet, lässt sich wenig über das Verhalten im Großen und Ganzen aussagen:
"Man ist ja manchmal darüber überrascht, wie gut oder wie schlecht Menschen mit Veränderungen in ihrem Leben umgehen, jetzt Erwerbseinkommen, oder andere Schicksalsschläge."
Andererseits, wenn man sich zweitausend Leute anschaut, kann man sich eine Vorstellung davon machen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein bestimmtes Verhalten auftritt. Das hilft uns zwar nicht, unseren Nachbarn besser zu verstehen, aber es gibt ein Gefühl dafür, wie es im Großen und Ganzen läuft, wie die Gesellschaft tickt.
Wie bestimmen wir unser Minimum? Zum Beispiel, indem wir uns permanent mit anderen vergleichen, stellt Schlösser fest.
"Das ist geradezu ein Grundbedürfnis", sagt er.
Porträt des Wissenschaftlers Thomas Schlösser.
Ob wir uns arm oder reich fühlen, entscheiden wir über den Vergleich mit anderen, sagt Thomas Schlösser.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Wir stellen uns nicht die Frage: Wer bin ich, was brauche ich, sondern versuchen dahinter zu kommen: Wo stehe ich, was haben die anderen?
"Da gibt es auf jeden Fall Befunde, die zeigen, dass Menschen sich eher an ihrer relativen Umgebung orientieren, also die Nachbarn, das engere Umfeld und dementsprechend: Wenn meine Umgebung 50.000 Euro im Jahr verdient, dann bin ich mit 40.000 oder 45.000 zufriedener als in einer Umgebung, wo die Menschen 200.000 Euro verdienen und sie selber nur 100.000 verdienen würden zum Beispiel."
Der Mensch ist also lieber ein Großer, als dass er – zwar absolut größer, aber relativ kleiner – letztlich weiter unten in der Rangfolge steht. Und weil man in der Relation gern noch besser dastehen möchte, kommt man vielleicht zu der Einschätzung, dass einem eigentlich noch mehr zusteht. Egal wie gut es einem ohnehin geht. Thomas Schlösser und seine Kolleginnen haben Ärzte, Anwälte und Ingenieure – Gutverdiener mit guter Ausbildung – befragt, für wie fair sie die Entlohnung halten.
"Wenn man danach fragt, inwieweit das denn ungerechterweise zu hoch oder zu niedrig sei, dann sehen wir tatsächlich, je höher der eigene sozioökonomische Status der Befragten, also je höher Bildung und Einkommen ist, desto eher meinen die Menschen, dass die hohen Einkommensgruppen ungerechterweise zu niedrig bezahlt worden seien. Da ist tatsächlich die Aussage: Je höher das eigene Einkommen ist, desto mehr meint man, dass diese Einkommensgruppe noch mehr verdienen müsste."

Die Selbsteinschätzung stimmt oft nicht

Es reicht einfach nicht – den meisten jedenfalls. Es fällt Menschen daneben schwer, sich selbst richtig zu bewerten, was den Status, das eigene Vermögen betrifft. Wir unterschätzen uns in der Regel.
Und das gilt auch in umgekehrter Weise, sagt der Wissenschaftler.
"Wenn man fragt, wie gerecht sind die Einkommen von Niedriglohnberufen, wie Friseure, Reinigungskräften und ähnliche, da ist es gerade umgekehrt."
Weil die anderen – Hand aufs Herz – die verdienen auf jeden Fall zu viel, jedenfalls aus Sicht der bessergestellten Untersuchungsteilnehmer.
"Da sagen Menschen mit höherem eigenen Einkommen eher, dass die ungerechtfertigterweise zu hoch bezahlt werden. Und das halt basierend auf 2000 Befragten, das hat uns doch sehr überrascht!"
Bei der Frage, was angemessen ist und einem reicht, sollte man auch bedenken, dass die Untergrenze in der Regel ganz geschmeidig mit dem eigenen Wohlstand und Lebensalter steigt. Verlustaversion nennen Psychologen dieses Verhalten. Aber natürlich, das sind alles nur zusammengefasste Aussagen über Verhaltenspräferenzen einer großen Zahl von Menschen. Das muss also nicht auf Sie zutreffen. Es gibt da signifikante Unterschiede je nach Persönlichkeitstyp. Und sind da nicht diese schönen Beispiele von Menschen, die beim Gedanken, was sie zum Leben brauchen, weiter schauen als bis zum SUV ihres Nachbarn?

Für Deutschland arm, für Äthiopien reich

"Mein Minimum ist, dass ich Zugang zu meiner Familie habe, dass ich reisen kann, eben Freunde, meine Familie besuchen kann. Aber was auch sehr wichtig ist, ist Autonomie und selbstbestimmt zu sein", beschreibt Sara Nuru ihr Minimum.
Nurus Leben hat das Zeug zu so einer schönen Geschichte. Sie erzählt sie bei einem heißen Tee im Außenbereich eines Cafés, nicht weit von ihrem Büro im Berliner Prenzlauer Berg. Nuru weiß, wie es ist, mit wenig auszukommen, aber auch, wie sich Überfluss anfühlt. Eine Erfolgsgeschichte, die vor 31 Jahren im Landkreis Erding, Oberbayern begann:
"Ich bin mit drei Geschwistern in der Nähe von München aufgewachsen, meine Eltern kommen beide aus Äthiopien und sind Mitte der 80er-Jahre mit nichts nach Deutschland geflüchtet."

"Dann wird man mit den eigenen Privilegien konfrontiert und merkt eigentlich, wie gut es einem geht." (Sara Nuru, Kind äthiopischer Einwanderer und Germany's Next Topmodel 2009)

Eine Kindheit in einfachen Verhältnissen, statistisch gesehen vielleicht sogar nahe an der deutschen Armutsschwelle. Aber was bedeutet das, wenn man mit den Schilderungen von Eltern aufwächst, die als Kinder bei Kerzenschein lesen mussten, weil es keinen Strom gab?
"Ich glaube, als junges Mädchen oder junge Frau merkt man nicht, dass man aus einfachen Verhältnissen kommt, weil, das Leben ist ja gegeben und man kennt nichts anderes. Das fällt dann erst auf, wenn man dann bei Freunden zu Besuch ist. Aber ich habe mich nie arm gefühlt oder weniger privilegiert, weil ich einfach weiß, woher meine Eltern kommen und wie schlecht es Menschen haben, die viel weniger haben als ich und dass meine Zukunft auch ganz anders hätte ausschauen können, wäre ich in Äthiopien geboren."

Vom Einwandererkind zur Unternehmerin

Die Kinder sollten es einmal besser haben. Das war der Plan ihrer Eltern. Und so kommt es auch: Sara Nuru wird sogar ziemlich berühmt – als Gewinnerin der Casting-Show Germany's Next Topmodel 2009. Sie präsentiert Mode auf Laufstegen in Mailand, New York und London. Ein Leben im Luxus schließt sich an.
"Ich bin sehr viel beruflich gereist, ich habe die Welt sehen dürfen, habe in schönen Hotels gewohnt, auch viel Geld verdient. Man ist plötzlich umgeben von materiellen, scheinbar glamourösen Sachen und es wird auch immer wieder suggeriert, dass das erstrebenswert ist. Das ist zu Beginn ganz aufregend, weil man das so ja nicht kennt und ich nicht so großgeworden bin, aber man merkt dann doch, dass das Materielle, dass Geld alleine nicht glücklich macht."
Das ist ein Satz, den wohlhabende Menschen immer wieder mal von sich geben. Bei Nuru klingt er ehrlich. Das hängt mit ihren Erlebnissen im Herkunftsland ihrer Eltern zusammen. Sie hat Konsequenzen daraus gezogen. Modelt weniger und steckt ihre Kraft stattdessen in ein sozial orientiertes Unternehmen. Das importiert fair gehandelten Kaffee aus Äthiopien und unterstützt Frauen mit Mikrokrediten bei der Existenzgründung. Die Armut dort hat sie berührt, erzählt Sara Nuru.
"Und erst dann wird man mit den eigenen Privilegien konfrontiert und merkt eigentlich, wie gut es einem geht. Vielleicht hatte ich kein eigenes Zimmer, aber ich hatte ein Dach über dem Kopf und ich durfte mit einer Selbstverständlichkeit Bildung genießen, und wenn ich den Wasserhahn aufgedreht habe, kam fließendes Wasser und ich musste nicht kilometerweit dafür gehen. Wenn man das weiß, wird alles ziemlich relativ."

Jammern wir auf hohem Niveau?

Nach Angaben der Weltbank leben im subsaharischen Afrika über 40 Prozent der Bevölkerung unter dem existenziellen Limit. Absolute Armut – die Weltbank definiert die Schwelle dazu bei 1,90 Dollar täglich. Weltweit betrifft das rund 700 Millionen Menschen. In Deutschland muss niemand verhungern. Heißt das, dass Leute, die sich hier am unteren Limit sehen, auf hohem Niveau jammern?
"Natürlich geht es Menschen in Afrika und Ländern des globalen Südens in unterschiedlicher Weise viel schlechter, aber das schmälert ja nicht das eigene Leiden."
Absolutes und relatives Existenzminimum. Das sind zwei Größen, die scheinen irgendwie miteinander zu tun zu haben, lassen sich aber nur schlecht zusammenbringen. Nuru schaut die grob gepflasterte Straße hoch. Das ist eine ganz durchschnittliche Nachbarschaft für Berlin, für jemanden aus München sieht das vielleicht abgerockt aus. Klar ist, wem es hier schlecht geht, der hat andere Probleme als ein arbeitsloser Äthiopier.
"Hier in Deutschland oder im Westen sind es ganz andere Fragen. Wir haben so ein gutes Sozialsystem in Deutschland, dass man, wenn man fällt, zumindest weich fällt. Es gibt ein Auffangbecken in Form von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld."
Porträt Sara Nuru
Als Kind äthiopischer Einwohner hat sie es nach oben geschafft: Sara Nuru© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Das Existenzminimum ist schon eine sehr komplexe Angelegenheit. Es gibt Menschen, die wollen, die brauchen nicht viel. Es hängt ab vom Ort, an dem man lebt, den Lebenshaltungskosten dort, aber auch, wie das soziale Netz um einen herum gewebt ist. Hat man Familie, Freunde, Nachbarn, die einen unterstützen? Lebt man mit Menschen zusammen, die viel haben, oder ist man in einer Kommune mit Aussteigern untergekommen?
Wenig zu haben, hat seinen Reiz. In der Auslage der Bahnhofsbuchhandlung liegt eine Zeitschrift, die titelt "Macht Verzicht glücklich?" und ein dickes Ja! dahinter druckt. Auf was kann man alles verzichten, ohne dass es einem schlecht geht?
"Ich glaube, das kann ich so abstrakt gar nicht sagen. Ich habe als Studentin von sehr, sehr wenig Geld gelebt und bin damit auch über die Runden gekommen. Aber ich sage auch, dass mir immer bewusst war, dass es eine Phase ist", sagt Sarah Ryglewski, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Finanzen.

Das Existenzminimum bestimmt das Finanzministerium

Wer bestimmt darüber, wo das Minimum liegt, wenn es nicht mehr nur um das Individuum geht, sondern um Bedürfnisse Einzelner in einer Gesellschaft? Was steht diesen zu, was ist angemessen? Ein Gemeinwesen könnte es – ganz liberal – jedem Einzelnen überlassen, darüber zu entscheiden, was er braucht und verhältnismäßig findet. Oder aber – eher autoritär: Es stellt die Grundbedürfnisse für den Einzelnen fest.
Das sind in etwa die Extreme für einen Staat, der sich um seine Bürger kümmert. Die Bundesrepublik kümmert sich. Muss sie! Im Grundgesetz, Artikel 1, steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Damit ist es Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass alle Bürger würdig leben können. Hier gibt es ein Minimum, um die Würde zu ermöglichen.
Das Existenzminimum in Deutschland hat amtlichen Charakter. Alle zwei Jahre wird es in einem Bericht der Bundesregierung festgestellt. Im Existenzminimumbericht. Das Finanzministerium ist dafür verantwortlich.
"Der Gedanke ist, dass man sagt, dass der Staat bei Menschen, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, nicht über Steuern etwas wegnehmen darf, also nicht in Höhe des Existenzminimums, weil man sonst ja konterkarieren würde, dass er für sich selber sorgen kann", so Ryglewski. "Deswegen muss man auch steuerlich ein Existenzminimum definieren, auf das dann auch keine Steuern gezahlt werden müssen. Und um das zu objektivieren, gibt es diesen Existenzminimumbericht, der versucht, dafür eine Rechengröße zu finden."

Das Existenzminimum darf nicht gepfändet werden

9408 Euro für Alleinstehende, 15.540 für Ehepaare und 5004 Euro für Kinder – das sind die Jahresbeträge 2020, die aus Sicht der Finanzämter das Minimum darstellen, das man zwischen Flensburg und Konstanz zum Leben braucht. Wer gerade so viel hat, muss keine Einkommenssteuer zahlen. Und: Alleinstehenden, die knapp über 1100 Euro im Monat verdienen – bei Paaren sind es fast 1800 Euro – darf nichts vom Lohn gepfändet werden. Die Zahlen sind eindeutig und für alle gleich. Sie werden über eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes ermittelt, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Diese EVS ist auch die Grundlage für die sozialhilferechtlichen Regelbedarfe.
"Das Sozialgesetzbuch ist da nochmal deutlich individueller, was Bedarfe angeht. Das wäre sonst im Steuerrecht auch nicht handhabbar in der Umsetzung. Wenn man jetzt mal davon ausgehen würde, bei jeder Steuererklärung müsste man sonst wirklich bei dem Thema Existenzminimum individuelle Bedarfe angeben, die dann auch wieder nachweisbar wären, das ist halt nicht zu exekutieren und deswegen muss das deutlich vereinfacht werden."
Staatssekretärin Sarah Ryglewski 
Ein einheitliches Existenzminimum für alle festzulegen, das sorgt für emotionale Debatten, meint Staatssekretärin Sarah Ryglewski.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Das sei natürlich ein "massiver Akt staatlicherseits", das Minimum für alle festzulegen. Die parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium Sarah Ryglewski nennt es "die Quadratur des Kreises", Staats- und individuelle Interessen zur Deckung zu bringen. Das sorgt für Streit. Jedes Mal, wenn die SPD-Abgeordnete mit ihren Kollegen im Bundestag über das Existenzminimum debattiert, wird es emotional.
"Das ist auf jeden Fall ein schwerer Begriff und man muss sich immer vor Augen halten: Der Gedanke dahinter ist ja ein guter. Man sagt, man möchte, dass jeder in unserem Land leben kann und eigentlich auch ganz gut leben kann."

Keine Würde ohne soziokulturelle Teilhabe

Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Ein Dachverband von über 10.000 Organisationen, denen, so Schneider, gemeinsam ist, dass sie Menschen helfen wollen. Er sagt:
"Also am Regelsatz gestorben ist so richtig noch keiner. Aber es ist ein Überleben, das karg ist, was den Menschen die Teilhabemöglichkeiten nimmt, was dazu führt, dass Menschen allein schon deshalb viel häufiger als andere krank sind, auch psychisch belastet sind."
Die Politiker, die die letzte große Reform der staatlichen Sozialleistungen durchgesetzt haben, waren überzeugt davon, dass Deutschland zu viel Geld für Arbeitslose und sozial Schwache ausgab. Hartz IV. Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD wollte fördern und die Bedürftigen gemäß den vorliegenden Fähigkeiten fordern. Die Bedürfnisse der Betroffenen dienen als Druckmittel. Ulrich Schneider ärgert das. Es geht um die Regelbedarfe nach dem Sozialhilferecht. Die passen nach Schneider so gar nicht zum fünftreichsten Land der Erde.
"Dieser Staat hat sich im Grundgesetz dazu verpflichtet, die Würde des Menschen ganz oben anzusetzen, und es gibt keine unterschiedliche Würde, es gibt immer nur Gleichwürdigkeit. Zur Würde gehört zwingend dazu teilzuhaben, und zwar ganz selbstverständlich teilzuhaben."
Das soziokulturelle Existenzminimum in Deutschland soll sicherstellen, dass jeder Bürger im Land nicht nur warm, gesund und satt lebt, sondern sich auch an allen Bereichen von Kultur und Gesellschaft beteiligen kann. Wie das geschieht, ist wiederum ziemlich persönlich, und auch der Bedarf, der sich daraus ergibt, entsprechend eine individuelle Größe. Brauche ich einen neuen Wintermantel, muss ich den neuesten Kinofilm sehen oder zu einer Demo in die Hauptstadt fahren? Was ist Teilhabe im Einzelfall? Doch die Bürger müssen gleich behandelt werden, so die rechtliche Maxime.

"Am Regelsatz gestorben ist so richtig noch keiner. Aber es ist ein Überleben, das karg ist." (Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des paritätischen Wohlfahrtsverbandes)

Das erfordert eine klare Grenze. Hier hilft wieder die große Zahl: Das Bundesamt für Statistik ermittelt alle fünf Jahre, wie Bundesbürger ihr Geld verdienen und ausgeben. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe EVS: 60.000 ausgewählte Haushalte führen dafür penibel Buch darüber, was sie verdienen und was sie genau ausgeben. Davon werden die einkommensschwächsten 15 Prozent noch einmal genauer ausgewertet. Dadurch weiß der Staat, wieviel seine einfach lebenden Bürger brauchen. Naja fast.
Ulrich Schneider erklärt die Art des Rechnens: "Also angenommen, Sie haben einen jungen Menschen, der geht mal in einen Club und kauft sich eine Cola. Dann ist die Logik dahinter, wir berechnen jetzt eine Cola, die er im Discounter kauft, die ist billiger, und vielleicht noch eine CD, dann kann er sich ja zu Hause die Musik anhören und ein Gläschen Cola trinken. Das ist die Vorstellung der Beamten, mit der die alles kleinrechnen."

Forderung nach 640 Euro Regelsatz

Nachdem die überflüssigen Ausgaben und die Kosten, die der Staat ganz übernimmt – Wohnkosten für eine als angemessen angesehene Unterkunft, Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung – herausgerechnet sind, bleiben etwas unter 450 Euro im Monat für einen Erwachsenen. Für Kinder, Schwangere und Behinderte gibt es noch Extraleistungen. Schneider findet das viel zu wenig und die Berechnungsmethode ziemlich fragwürdig.
"Die Regelsätze sind entsprechend einem politisch gewollten Zirkelschluss: Das, was einem Menschen in Hartz IV, Grundsicherung oder Alterssicherung als Regelbedarf zugemessen wird, leitet sich an dem ab, was arme Menschen im Monat ausgeben."
Früher gab es einen Warenkorb, den findet Schneider ehrlicher. Sein Verband hat errechnet, dass der Regelsatz mindestens 640 Euro im Monat betragen müsste, um nicht arm und abgehängt zu sein. Mit Strom- und Wohnkosten wären das etwa 1035 Euro. Das wären 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Diese Größe gilt in der Forschung als Schwelle zur Armut. Der Geschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider sieht gute Gründe, sich am allgemeinen Wohlstand zu orientieren.
"Deshalb, weil der Durchschnitt mehr Geld hat und weil der Durchschnitt sich daran orientiert, was die da ganz oben treiben oder in irgendwelchen amerikanischen Serien, und jetzt müssen die unten irgendwie mithalten."

Freiwilliger und erzwungener Verzicht sind nicht dasselbe

"Also ich denke, das ist ungefähr 100 Euro über dem Regelsatz", sagt Thomas. "Weil ich auch rauche, dafür gehen 100 Euro auch drauf im Monat."
Thomas sitzt an seinem Küchentisch, vor ihm liegt die Zeitschrift aus der Bahnhofsbuchhandlung, die behauptet, dass Verzicht glücklich macht. Im Blechaschenbecher liegen acht Stummel abgerauchter selbstgedrehter Zigaretten, gleich neun.
"Also ich sage immer, Geld allein macht nicht glücklich, aber gar kein Geld macht erst recht nicht glücklich. Also, freiwilliger Verzicht ist schön und gut, aber wenn man dazu gezwungen wird, dann ist das wieder etwas anderes."
Thomas ist Anfang vierzig und seit gut zehn Jahren an einer bipolaren affektiven Störung erkrankt, früher hieß das manisch-depressiv. Er hat eine Schreinerlehre gemacht, sein Biologiestudium abgebrochen. Ein Vollzeitjob geht nicht. Thomas jobbt als geringfügig Beschäftigter bei einer Hilfsorganisation und begleitet psychisch Kranke bei der Integration. Das macht er auch ehrenamtlich für ein Sozialwerk. Er kramt ein amtliches Schreiben aus den Zetteln auf dem Kühlschrank.
"Als Drittes beziehe ich ALG II, Hartz IV, oder Grundsicherung – ich weiß immer nicht ganz genau, was der richtige Begriff ist. 343,53 ist der Auszahlungsbetrag. Die zahlen natürlich meine Miete. Insgesamt liege ich dann so bei 650 bis 700 Euro, von denen ich aber noch Strom, Internet usw. bezahlen muss."

"Freiwilliger Verzicht ist schön und gut, aber wenn man dazu gezwungen wird, dann ist das wieder etwas anderes." (Thomas, psychisch kranker Empfänger von Grundsicherung nach SGB II)

Thomas' Einkommen wird mit den Unterstützungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II verrechnet, die Aufwandsentschädigung für sein Ehrenamt darf er behalten.
Dadurch liegt er insgesamt deutlich über dem Regelsatz, der auch ein soziokulturelles Existenzminimum darstellt, aber noch unter den 60 Prozent vom Durchschnittseinkommen. Kommt er damit zurecht?
"Ich bin generell ein Mensch, der nicht gerne shoppen geht."
Man will Thomas glauben, dass er, auch wenn er viel Geld hätte, eher bescheiden leben würde. Ausprobieren konnte er das noch nicht. Umwelt ist ihm wichtig, Konsum und Luxus sieht er kritisch. Aber so? Wenn er Urlaub macht, dann mit dem Rad, oder er kann bei einem Freund mitfahren. Er ist intelligent und ziemlich findig, weiß, wo er seine Brille günstiger bekommt. Den dunklen Pulli, den er trägt, hat ihm seine Mutter gestrickt, der hält noch zehn Jahre, wenn er das Loch am Arm stopft. Er hat sich eingerichtet. Aber hat er eine Wahl? Er kommt zurecht, sagt er mehrmals. Keine Beziehung seit fünf Jahren. Es könnte aber auch an seiner Erkrankung liegen, dass er nicht so am Leben um ihn herum teilnimmt, vermutet er. Gesünder ernähren würde er sich gerne. Für Essen und Trinken sieht der Regelsatz 5 Euro pro Tag vor. Da lacht er schmal.
"Klar, wenn man da jeden Tag Linsen isst, kommt man da schon hin. Dafür sterbe ich früher. Soviel, wie ich rauche, dann das Übergewicht. Armut ist, glaube ich, ein Sterbegrund oder ein Lebensrisiko. Es ist ja erwiesen, dass ärmere Leute ungesünder leben. Ja, ich denke, es hat auch etwas mit Verantwortung zu tun, Verantwortung zu übernehmen für den eigenen Körper. Und dass man nicht mehr so viel erwartet vom Leben als armer Mensch. Keine Ahnung."
Er hofft, dass er seinen Job vielleicht mal als Teilzeitstelle ausfüllen kann. Dadurch würde er finanziell auch nicht viel besser dastehen, aber er wäre wenigstens weg vom Jobcenter. Dass er sich da so entblößen muss, hat wenig mit Würde zu tun. Viel mehr wird es aber nicht werden, meint er. Sein Leben am Existenzminimum ist ein Dauerzustand.
"Ja, damit habe ich mich ein Stück weit abgefunden, also sowohl, dass ich meine Krankheit lebenslänglich habe und dass ich wahrscheinlich nie über ein größeres Einkommen verfügen werde. Ja, lebenslänglich, klar, das ist unter Umständen länger als 15 Jahre."

Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 26.10.2020.

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