Altersarmut

Immer mehr Senioren leben am Existenzminimum

07:38 Minuten
Eine alte Frau sammelt Pfandflaschen aus einem Mülleimer.
Kein ungewöhnlicher Anblick mehr in Deutschland: Eine Seniorin sammelt Pfandflaschen, um ihre Rente aufzubessern. © picture alliance / imageBroker / Joko
Von Felicitas Boeselager · 02.03.2020
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Steigende Mieten, der Niedriglohnsektor und die Rentenreform sorgen unter anderem dafür, dass immer mehr Senioren mit ihrer Rente nicht mehr auskommen. Vor allem Frauen sind von Altersarmut betroffen. Zukunftsprognosen sagen Düsteres voraus.
"Na komm. Ich mag die auch noch nicht drängen, dafür sind sie zu kurz bei mir. Ich weiß ja nicht, was die durchgemacht haben."
Zwei Wellensittiche sitzen auf Elvira Kösters Fernseher. "Engelchen" nennt sie die beiden. Köster hat sie vor wenigen Wochen in einem durchnässten Pappkarton auf dem Sperrmüll gefunden und mit nach Hause genommen.
"Samstag, Sonntag ist das ja wirklich manchmal ein bisschen langweilig, und dann spreche ich ja manchmal gar nicht. Aber jetzt ist das ja so, jetzt muss ich sprechen. Wir müssen uns ja 'Guten Morgen' sagen, und wenn ich weggehe, dann sage ich: Ich komme bald wieder. Und So ist das, wenn man alleine ist, man muss sich irgendwas suchen."

Vor allem Frauen sind von Altersarmut betroffen

Die Wellensittiche vertreiben Elvira Kösters Einsamkeit. Köster, die eigentlich anders heißt, wohnt in Gröpelingen, einem der ärmsten Stadtteile Bremens. Sie ist 66 Jahre alt, bezieht seit Januar Rente, gemeinsam mit der Witwenrente hat sie knapp 1050 Euro im Monat zu Verfügung, die Wohnung kostet 500 Euro, bleiben 550 für Strom, Wasser, den Fernseher und zum Leben. Köster hat kein Internet und besitzt ein kleines Nokia-Handy mit einer Prepaid-Karte.
"Ich kauf mir Karten. Wenn ich mal knapp bin, kann ich eben keine Karte kaufen, dann muss ich warten, weil ich das dann irgendwann wieder aufladen kann. Denn erreichbar bin ich ja immer, soweit muss man dann denken."
Köster hat als junge Frau zuerst eine Bäckerlehre und dann eine Lehre zur Bankkauffrau gemacht. Die Stelle in der Bank hat sie aber bald aufgegeben, weil ihr Sohn zur Welt kam und schließlich ihr Mann krank wurde, den sie alleine bis zu seinem Tod gepflegt hat. Um die Familie irgendwie über Wasser zu halten, hat sie gleichzeitig für 4,25 Euro bei Kick gearbeitet – oder bei der Nachbarschaftshilfe.
Eine typische Biografie für Menschen, die von Altersarmut bedroht sind, sagt Cornelius Peters von der Caritas Bremen. Aber Altersarmut hat viele Ursachen.
"Die Löhne sinken, die Menschen arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen. Insbesondere Frauen arbeiten in Teilzeit, viele arbeiten in Minijobs mit dem geringen Mindestlohn. Die gebrochenen Erwerbsbiografien spielen natürlich eine Rolle. Kindererziehungszeiten – natürlich werden die in der Rente angerechnet, aber trotzdem ist es zu gering. Der Großteil sind Frauen."
Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern sind Frauen in Deutschland besonders von Altersarmut bedroht, das zeigen Zahlen der OECD.

Aus Scham keine Hilfe beantragt

Frauen bekommen durchschnittlich 46 Prozent weniger Rente als Männer, Deutschland ist damit Schlusslicht im gesamteuropäischen Vergleich. Es sei ein großes Problem, Menschen, die in Altersarmut leben, zu erreichen, berichtet Sozialarbeiter Peters. Viele wollten sich aus Scham nicht helfen lassen und trauten sich zum Beispiel nicht, die Grundsicherung zu beantragen, die ihnen eigentlich zusteht. Auch Kösters versucht lieber, sich selbst zu helfen, als zum Amt zu gehen.
"Nie, nie, nie waren wir beim Amt. Ja, ist so." Auf die Frage, warum sie nie zum Amt gehen würde, hat sie keine rechte Antwort.
David Brazier von der AWO in Bremen beobachtet das gleiche Phänomen, er sieht aber nicht nur Scham als Grund.
"Es ist aber teilweise auch wirklich noch, das erlebe ich in der Generation, mit der ich heute zu tun habe, eine Frage der Haltung. Also die Haltung zu haben: Ich brauch das nicht und ich habe das noch nie gebraucht. Und bevor ich das annehme, muss aber noch was ganz anderes passieren."
Besonders schwer, Hilfe anzunehmen, sei es für diejenigen Rentner und Rentnerinnen, die ihr Leben lang erwerbstätig waren und deren Rente nun trotzdem kaum zum Leben reicht.

Immer mehr Rentner landen in der Überschuldung

Für sie ist es zum Beispiel auch eine große Hürde, zu einer Tafel zu gehen, um dort günstig Lebensmittel zu bekommen. Hans Meier, der seinen echten Namen auch nicht im Radio hören will, ist 67 und konnte sich erst vor knapp einem halben Jahr dazu überwinden, diese Hilfe anzunehmen. Meier hat 31 Jahre lang als Seemann gearbeitet, dann umgeschult und Gartenbau gemacht, allerdings als Ein-Euro-Jobber.
"Ja, ich habe ja eigentlich immer ganz gut gelebt, hab ja nicht schlecht verdient, aber mit fehlen zehn Jahre, wenn du so denkst, an Rente. Hätte ich weiterhin über 3000 verdient, dann hätte ich ein paar hundert Euro mehr an Rente gehabt."
Wenn Meier seine Fix-Kosten abgezogen hat, dann bleiben ihm im Monat rund 390 Euro, allerdings muss er auch noch Schulden abbezahlen, 150 Euro werden ihm dafür monatlich vom Konto abgezogen.
"Da kann man eigentlich nicht vernünftig leben, man kommt zwar einigermaßen über die Runden, aber da kann man keine großen Sachen kaufen oder mal öfters ausgehen."
Immer mehr von Armut bedrohte Rentner landen in der Überschuldung. Das hat der Schuldneratlas 2019 gezeigt.
Die Verschuldung von Menschen über 70 Jahren ist demnach im Vergleich zum Vorjahr um rund 45 Prozent gestiegen. Grund dafür seien die steigenden Mieten, der wachsende Niedriglohnsektor und die Rentenreform.

Sich im Alter noch etwas dazuverdienen

Zahlen, die die Beobachtungen der Sozialarbeiter stützen. David Brazier organisiert die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe der AWO und spricht von einer wachsenden Altersarmut.
"Wir haben viele Helferinnen und Helfer, die bei uns tätig sind, um ihr Einkommen ein bisschen aufzubessern. Und das sind auch Menschen, die schon in Rente sind, die einfach sagen, mit dem, was ich habe, komme ich nicht über die Runden."
So bessert sich auch Elvira Köster ihre Rente auf, geht für andere alte oder kranke Menschen einkaufen, unterhält sich mit ihnen, hilft, die Wohnung ordentlich zu halten. Ein Weg, der Einsamkeit zu entkommen, die häufig mit Armut einhergeht, sagt Brazier:
"Armut bringt das Risiko mit sich, dass man sozial abgeschnitten ist. Und da haben wir durchaus Kundinnen und Kunden, die sehen in der ganzen Woche nur ihren Nachbarschaftshelfer oder ihre Nachbarschaftshelferin oder vielleicht ihre Pflegeperson. Also da sind soziale Kontakte oft an Krankheit oder an Unterstützungsbedarf gekoppelt."

Prognosen zeichnen ein düsteres Bild

Um mehr Teilhabe zu ermöglichen, fordern Armutsverbände zum Beispiel eine altersgerechte Infrastruktur, höhere Löhne und höhere Renten. Außerdem geben die Zahlen keinen Grund für Optimismus: 2036 soll jeder fünfte Neu-Rentner von Altersarmut bedroht sein.
Köster verdient mit der Nachbarschaftshilfe rund 100 Euro zusätzlich, vor allem aber schätzt sie den Kontakt, den sie durch ihre Arbeit gewinnt. So hat sie hier zum Beispiel ihre "mütterliche Freundin" kennengelernt, wie sie die inzwischen verstorbene Frau nennt.
"Wir sind bis zum bitteren Ende zusammengeblieben. Ich habe ihr das ersetzt, was ihr fehlte: Kinder. Und sie hat mir gegeben, was ich nicht hatte: keine Eltern, keine Mutter, keinen Vater. Und das hat sich mit den Jahren wirklich alles wunderbar zusammengefügt. Wir haben alles zusammen gemacht."
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