Strafvollzug

Häftlinge ab auf die Insel!

Häftlinge und Justizvollzugsbeamte stehen am 23.01.2014 in Berlin im Mittelbau der Justizvollzugsanstalt Moabit.
Der Jurist Bernd Maelicke wünscht sich mehr Alternativen zum klassischen Strafvollzug in den großen Haftanstalten © picture alliance / dpa / Marc Tirl
Bernd Maelicke im Gespräch mit Dieter Kassel  · 19.04.2016
Der Strafvollzugsexperte Bernd Maelicke hält viele Gefängnisse für eine Schule des Verbrechens. Ihm schwebt für die bessere Resozialisierung von Strafgefangenen eher eine einsame Insel nach norwegischem Vorbild vor.
Rund die Hälfte der Häftlinge gehöre eigentlich nicht ins Gefängnis, sagte der Strafvollzugsexperte Bernd Maelicke im Deutschlandradio Kultur. Sie könnten mit ambulanten Maßnahmen besser betreut werden, um die Rückfallquoten massiv zu reduzieren. "Eine große Erfolgsnummer ist in den letzten Jahrzehnten die Bewährungshilfe", sagte Maelike. Die Rückfallquoten fielen dort niedriger aus.

Erfolge in Norwegen

Maelicke verwies auf alternative Formen des Strafvollzugs, wie beispielsweise in Norwegen auf einer Insel. "In Norwegen auf dieser Insel sind die Rückfallquoten bis auf 17 Prozent herabgesenkt worden", sagte er. Das sei besser als die großen Haftanstalten mit ihren strengen Regeln, aber auch mit Gewalt, Erpressung und Drogenhandel. "Klassisch wird so etwas auch Schule des Verbrechens genannt."
Allerdings sehe er bei Tätern mit schweren Delikten kaum eine Alternative.

Eierdiebe und Schwarzfahrer

In den Gefängnissen säßen bis zu 40.000 Menschen im Jahr, die eigentlich zu Geldstrafen verurteilt seien, aber diese nicht bezahlt hätten, sagte der Jurist. Sie verbüßten "Ersatzfreiheitsstrafen": "Das sind Eierdiebe, das sind Schwarzfahrer zum Beispiel."
Bis zu 40 Prozent aller Inhaftierten säßen mit Freiheitsstrafen unter sechs Monaten oder unter einem Jahr im Gefängnis. "Da wissen alle Vollzugspraktiker, dass man in der Zeit wenig verändern kann." Viele Häftlinge seien Drogenabhängige und in den Anstalten werde mit Drogen gehandelt und es existiere eine entsprechende Subkultur.
Dieter Kassel: Bundesjustizminister Heiko Maas will durch eine Strafrechtsreform die zwingende lebenslange Haft für Täter, die wegen Mordes verurteilt werden, abschaffen. Das muss man so präzise formulieren, denn schon heute sitzt bei Weitem nicht jeder, der das Urteil Lebenslang erhält, auch bis zum Ende seines Lebens im Gefängnis. 15 Jahre müssen es mindestens sein, danach ist prinzipiell eine vorzeitige Entlassung möglich und es kommt dazu auch recht häufig. Maas will allerdings jetzt das Mindeststrafmaß für Mord auf fünf Jahre senken, was natürlich bei vielen – den üblichen Verdächtigen vor allem – zu Protesten geführt hat. Bei uns hat es dazu geführt, grundsätzlich die Frage nach Sinn und Unsinn von Haftstrafen zu stellen. An verschiedene Personen richten wir diese Frage, jetzt an Bernd Maelicke, Direktor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft und unter anderem von 1990 bis 2005 als Ministerialdirigent im schleswig-holsteinischen Justizministerium zuständig für den Strafvollzug. Schönen guten Morgen, Herr Maelicke!

Das Interview im Wortlaut:

Bernd Maelicke: Guten Morgen, lieber Herr Kassel!
Kassel: Sie haben mal vor nicht allzu langer Zeit in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" gesagt, ungefähr die Hälfte der Menschen, die in Deutschland im Gefängnis sitzen, gehörte da gar nicht hin. Wenn wir von ungefähr 60.000 im Gefängnis ausgehen, heißt das, wir haben 30.000 Justizirrtümer?
Maelicke: Ja, nicht Justizirrtümer, weil, das ist ja alles nach Recht und Gesetz gut geregelt gewesen und hat auch entsprechend stattgefunden. Aber wenn wir uns genauer anschauen, wer sind diese 60.000, dann sehen wir, dass dort zu großem Teil Ersatzfreiheitsstrafer sitzen. Bis zu 40.000 pro Jahr verbüßen Ersatzfreiheitsstrafen, das heißt solche Strafen, die ursprünglich Geldstrafen gewesen sind und die dann nicht bezahlt werden können. Das sind Eierdiebe, das sind Schwarzfahrer zum Beispiel.
Dann finden wir bis zu 40 Prozent aller Inhaftierten mit Freiheitsstrafen unter sechs Monaten oder unter einem Jahr. Da wissen alle Vollzugspraktiker, dass man in der Zeit wenig verändern kann, da ziehen im Grunde die Behandlungsprogramme nicht. Dann haben wir einen großen Teil Drogenabhängige, wo wir auch wissen, der Strafvollzug fördert nicht die Abwendung von den Drogen, im Gegenteil, wir wissen, dass in den Anstalten mit Drogen gehandelt wird, wir wissen, dass dort Subkultur stattfindet. Also, das ist noch sehr konservativ geschätzt, dass die Hälfte besser durch ambulante Maßnahmen betreut werden könnte. Man könnte die Rückfallquoten tatsächlich entsprechend massiv reduzieren.
Kassel: Durch was? Also, man kann doch vermutlich nicht einfach sagen, dann bestraft man sie halt nicht?
Maelicke: Nein, wir haben zum Beispiel … Eine große Erfolgsnummer ist ja in den letzten Jahrzehnten die Bewährungshilfe. Das sind perfekt ausgebaute soziale Dienste, die gerade mit den Probanden, wie sie es nennen, sehr erfolgreich arbeiten, auch die Rückfallquoten entsprechend absenken, die sonst eben diese kurzen Freiheitsstrafen bekommen. Der größte Teil dieser Täter sind ja Wiederholungstäter. Das heißt, sie sind vorher schon ab 14 Jahre, als Jugendliche immer wieder auffällig geworden, haben Straftaten begangen, aber es sind keine Gefährlichen. Die Gefährlichen sind vielleicht bei 10, 20, 30 Prozent maximal, die wirklich mit Mord und Totschlag und Körperverletzung und solchen Delikten dann zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden.

Alternative Formen des Strafvollzugs

Kassel: Nun sind auch nicht alle Mörder für die Allgemeinheit gefährlich. Die Rückfallquote, die Wiederholungstatquote bei Mord ist nicht besonders hoch generell. Würden Sie auch bei schweren Straftaten, also Mord und Totschlag Alternativen zum Gefängnis zumindest ins Auge fassen wollen?
Maelicke: Ja, es gibt auch alternative Formen. Zum Beispiel in Norwegen gibt es eine Insel, auf der solche Täter dann ihre Freiheitsstrafen verbüßen, auch bis zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Aber nicht in dieser Form von Gefängnissen, wie wir es haben. Unsere Gefängnisse fördern halt diese Subkultur, das sind totale Institutionen, haben diese hohen Rückfallquoten. In Norwegen auf dieser Insel sind diese Rückfallquoten bis auf 17 Prozent herabgesenkt worden. Also, man muss auch über alternative Formen des Strafvollzugs nachdenken.
Kassel: Aber machen Sie das doch bitte mal ganz, ganz konkret: Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, der wirklich einen anderen umgebracht hat. Egal, ob der Richter das dann als Totschlag oder Mord gewertet hat, das ist für Laien oft nicht nachvollziehbar, aber jemand, der wegen der Tötung eines anderen Menschen im Gefängnis sitzt, wie kann man den denn sinnvoller behandeln in Ihren Augen, als es jetzt in Deutschland geschieht?
Maelicke: Ja, jetzt habe Sie diese großen Anstalten. Sie kennen das ja, wie das dann aussieht in den Anstalten mit diesen Hunderten von Gefangenen in einem Hafthaus mit strengen Regelungen, sowohl tagsüber, wie was das Wochenende, wie was die Freizeit betrifft, inklusive – wie ich schon sagte – Gewalt, Erpressung, Drogenhandel. Klassisch wird so was auch Schule des Verbrechens genannt.
Und natürlich gerade bei Tätern, die schwer Delikte begehen, sehe ich auch keine Alternative zur Freiheitsstrafe, auch vom Wertebewusstsein der Gesellschaft her. Das mag sich vielleicht in vielen Jahren oder Jahrzehnten mal ändern, aber wir brauchen so etwas als Ultima Ratio. Aber die Form, wie wir dieses vollstrecken, diese Form ist überholt und sie führt eben auch zu einer nach wie vor relativ hohen Rückfallquote.

Dorfcharakter auf der Insel in Norwegen

Kassel: Aber ganz konkret, wie sollen wir es denn sonst vollstrecken?
Maelicke: Ja, ich sage Ihnen ja gerade, diese Insel in Norwegen: Das ist wie ein Dorf, das hat Dorfcharakter. Wir haben technisch heute die Möglichkeiten, nach außen alles absolut sicher abzudecken. Also, das heißt, die Bevölkerung braucht keine Angst zu haben, dass da nun Ausbrüche geschehen und neue Gewalttaten entstehen, sodass nach außen hin während der Freiheitsentziehung absolute Sicherheit besteht.
Aber nach innen, da können wir mit Bungalowsystemen arbeiten, mit Dorfcharakter, auch in einer Art von Selbstverwaltung mit Selbstzubereitung, was Essen betrifft, mit anderen Besuchsregelungen, auch mit anderen Schulungs- und Arbeitsprogrammen, mit anderen Therapien. Das ist alles nicht optimal in diesen Riesenanstalten, wie wir sie zurzeit in Deutschland haben.
Kassel: Aber verstehen Sie denn das Argument, das dann oft kommt, wenn solche Gespräche, wie wir beide sie gerade führen, geführt werden, das Argument, das oft kommt, das da lautet: Na ja, das wird alles in Deutschland immer ganz stark aus der Täterperspektive gedacht, keiner denkt an die Opferperspektive. Können Sie zum Beispiel bei einem Tötungsdelikt auch verstehen, dass Angehörige, Menschen aus dem nahen Umfeld einfach das Bedürfnis haben: Der soll jetzt aber auch wirklich bestraft werden, der soll nicht in so einer Art Dorfcamp einfach nur resozialisiert werden?
Maelicke: Ich habe mit vielen Opfern gesprochen in der Funktion, die Sie angesprochen haben. 15 Jahre lang war ich in Schleswig-Holstein für den Strafvollzug zuständig und ich kann das gut verstehen und ich habe das Leid gesehen, was diese Täter angerichtet haben. Aber auf Dauer, wenn Sie mit den Opfern reden … Erst mal müssen wir die Stellung der Opfer verbessern, die Opfer werden ja sehr vernachlässigt in der Art und Weise, wie zurzeit die Strafverfahren ablaufen.
Wir brauchen einen viel stärkeren Ausbau der Opferhilfe und der Opferberatung, auch eine Stärkung der Position der Opfer im Strafverfahren. Damit kann man schon ihre Position und ihre Verarbeitung des Schadens, den sie erlitten haben, ganz anders angehen. Und das andere ist: Resozialisierung ist der beste Opferschutz. Das heißt, je mehr wir Erfolgsquoten haben in der Resozialisierung, umso weniger finden Rückfalltaten statt.

Resozialisierung als bester Opferschutz

Kassel: Aber der Wunsch nach – jetzt benutze ich bewusst dieses Wort –, der Wunsch nach Rache, nach Vergeltung, der mag menschlich nicht besonders großherzig sein, aber er ist doch da?
Maelicke: Ja, aber da können wir ins Grundgesetz reinschauen, da können wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts uns anschauen, da können wir die Länderstrafvollzugsgesetze anschauen. Der Strafvollzug hat nur zwei Ziele, nämlich die äußere Sicherheit gewähren – das heißt, wenn jemand im Strafvollzug ist, dass er in der Zeit draußen keine Straftaten begeht – und zweitens Resozialisierung. Das heißt, er soll nicht erneut wieder straffällig werden. Und das heißt, das ist der beste Opferschutz. Dass man damit nicht individuell den Nöten gerecht werden kann, das liegt auf der Hand. Das Strafrecht ist dazu nicht geeignet. Und deshalb muss man begleitende Maßnahmen haben. Ich sage ja, Opferhilfe, Opferschutz, Weißer Ring, da gibt es viele Angebote, die viel zu wenig gefördert werden.
Kassel: Herzlichen Dank. Der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke war das über den Sinn und vor allem auch den Unsinn von Haftstrafen. Wir setzen unsere Gespräche zu diesem Thema fort, zum Beispiel heute Nachmittag in der Nachmittagsausgabe von "Studio 9", mit dem Richter Tonio Walter werden wir über das gesellschaftliche Bedürfnis nach Vergeltung noch vertiefend reden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Die Debatte über Sinn und Unsinn von Haftstrafen geht weiter: Wir sprechen am heutigen Dienstag um 17.38 Uhr in "Studio 9" mit dem Richter Tonio Walter über das gesellschaftliche Bedürfnis nach Vergeltung.

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