Sterbehilfe

"Er fühlte sich wie ein aufgespießter Schmetterling"

Emmanuèle Bernheim
Emmanuèle Bernheim bei einer Lesung in Köln im März 2014 © dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Moderation: Frank Meyer |
Die französische Autorin Emmanuèle Bernheim hatte eine schwere Entscheidung zu treffen: "Ich erfülle meinem Vater diesen Wunsch, ich helfe ihm beim Freitod, Selbstmord, wie immer man sagen will". Es wäre ein Fortschritt, wenn wir über unseren Tod selbst bestimmen könnten, sagt die Schriftstellerin.
Frank Meyer: Der Pariser Kunsthändler André Bernheim war ein sehr vitaler, lebensfreudiger, sehr neugieriger und recht egozentrischer Mann. Nach einem schweren Schlaganfall lag er im Krankenhaus, mit 88 Jahren, und verlangte von seiner Tochter: Du musst mir helfen, Schluss zu machen! Emmanuèle Bernheim ist diese Tochter. Sie lebt als Drehbuchautorin in Paris und sie hat ein Buch geschrieben über das Sterben ihres Vaters und ihre Sterbehilfe für ihn. "Alles ist gutgegangen" heißt dieses Buch. Ich habe vor der Sendung mit Emmanuèle Bernheim gesprochen und sie zuerst gefragt: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben, warum wollten Sie öffentlich machen, dass Sie Ihrem Vater beim Sterben geholfen haben?
Emmanuèle Bernheim: Dieses Buch, "Alles ist gutgegangen", habe ich geschrieben wegen all dem, was sich zugetragen hat seit dem Moment, wo mein Vater mich darum gebeten hat, ihm zu helfen zu sterben. Für mich war klar: Ich wollte unbedingt dabei sein, in meinen Gedanken habe ich mich an seinem Bett gesehen, ich habe seine Hand gehalten. Letztendlich habe ich das Gefühl gehabt, man hat mir seinen Tod gestohlen. Und deshalb habe ich viele Jahre später dieses Buch schreiben müssen, in gewisser Weise habe ich mir mit diesem Buch seinen Tod zurückgeholt.
Meyer: Aber für Sie muss das doch eine absolute Zumutung gewesen sein – das Wort fällt auch einmal in dem Buch –, diese Forderung Ihres Vaters. Und es war ja wirklich eine Forderung, es war kein Wunsch oder keine Bitte, sondern eine Forderung: Du musst mir helfen, meine Tochter, du musst mir helfen zu sterben! War für Sie gleich klar, dass Sie das tun?
Bernheim: Also, ich kannte meinen Vater einfach zu gut, ich kannte sein Temperament, seine Gefühlswallungen. Und das, was ihm passierte im Krankenhaus, nach diesem Schlaganfall, bewegungsunfähig zu sein, ans Bett gefesselt zu sein, er fühlte sich wie ein aufgespießter Schmetterling an der Wand, das war wirklich das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
Ich habe sein Verlangen zu sterben wirklich verstanden. Er war sehr unabhängig, er war ein sehr lebendiger Mensch. Was man auch sagen muss: Ja, er war ein mittelmäßiger Vater, er war ein furchtbarer Egozentriker, er hat in keinem Moment daran gedacht, dass er uns eine Bürde aufhalst. Erst als ich die Reaktion meines Lebenspartners gesehen habe, auch des Rechtsanwaltes, habe ich gesehen, man kann es auch als Zumutung erleben. Für diese beiden Männer war es eine. Aber ich selber muss sagen, ich habe das nie so empfunden.
Meyer: Aber haben Sie nicht gehofft, dass es ihm doch wieder besser gehen könnte, dass er sich anders entscheidet, dass Ihnen diese Bürde, von der Sie gesprochen haben, wieder von den Schultern genommen wird, dass Sie nicht die Selbsttötung Ihres Vaters organisieren müssen?
Bernheim: Ich wusste von Anfang an, dass er seine Meinung nicht ändern würde, aber es ist schon so: Ich habe diese Hoffnung gehabt, dass er möglicherweise in der Zwischenzeit stürbe, dass es doch etwas schneller ging. Er wusste, es würde drei bis sechs Monate dauern, bis wir diesen Platz in der Schweiz gefunden hätten. Und ich dachte, wenn er das weiß, wird es vielleicht doch schneller gehen, dass er nach einem weiteren Schlaganfall verstürbe oder einfach an Schwäche im Bett.
Meyer: Das eine ist ja, die grundsätzliche Entscheidung zu treffen, ich erfülle meinem Vater diesen Wunsch, ich helfe ihm beim Freitod, Selbstmord, wie immer man sagen will. Was ich mir noch viel schwerer vorstelle, ist, das dann wirklich praktisch zu tun, die Details zu regeln, jemanden anzurufen, in der Schweiz eben, eine Sterbehilfeorganisation, einen Transport zu organisieren, ein Datum zu setzen, zu sagen, das ist der Tag, an dem mein Vater sterben wird, und das entscheide ich jetzt von heute aus, wann, gute 100 Tage von dem Zeitpunkt an, als Sie das entschieden hatten. Wie schwer war das für Sie, diesen Tod Ihres Vaters zu organisieren?
Bernheim: Meine Schwester und ich, wir haben uns merkwürdig gefühlt in dem Moment, wo wir mit der Sterbehilfeorganisation Kontakt aufgenommen hatten, denn es ging ja dann darum, wie Sie gesagt haben, ein Datum zu fixieren. Wir haben also unsere Kalender gezückt. Dann passiert so etwas, dass ich sage, Serge, mein Lebensgefährte, ist im Mai in Cannes beim Filmfestival, also, der Monat fällt aus. Meine Schwester schaut in ihren Kalender und sagt, nein, die Kinder sind in den Ferien, da muss ich bei ihnen sein.
Also, man schaut in den Kalender, fixiert ein Sterbedatum und man hat das Gefühl, es geht dabei um einen Wochenendausflug, den man da verabredet. Also, über eine ziemlich lange Zeit hinweg hatten wir beide, meine Schwester und ich, das Gefühl, dass die Vorbereitungen alles andere überwölben, auch die Trauer. Ja, wir waren von diesen Handlungen, die getan werden mussten, gewissermaßen aufgesogen.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, Emmanuèle Bernheim ist bei uns, wir reden über ihr Buch "Alles ist gutgegangen", ein Buch über das Sterben ihres Vaters und ihre Sterbehilfe für ihren 88-jährigen Vater. Was Sie getan haben, Frau Bernheim, in Frankreich kann das als illegal angesehen werden und kann einen bis zu fünf Jahre ins Gefängnis bringen, verbunden mit einer hohen Geldstrafe. Welche Rolle hat das für Sie gespielt, diese Gefahr?
Bernheim: Meinem Vater war all das ganz egal, er hat sich keine Gedanken gemacht über das juristische Risiko, dass meine Schwester und ich eingingen, und wir beide haben das auch vernachlässigt. Aber ein Rechtsanwalt hat uns dann doch geraten, eine Filmaufnahme zu machen. Das heißt, er hat erklärt, dass er bei vollem Verstand ist und dass er sterben möchte. Wir sind denunziert worden, das hatte dann zur Folge, dass wir beide uns im Polizeikommissariat einfinden mussten. Und wir sind getrennt verhört worden. Das hieß dann: Da kommen sie ja, die Schwestern Papin! Und man muss wissen, das sind zwei Frauen gewesen, die Hausangestellte waren und die die Hausherrin und ihre Tochter niedergemetzelt haben. So wurden wir empfangen! Und wir haben durchaus Angst gehabt.
"Kann ich Sie umarmen?"
Meyer: Sie hatten Angst, aber diese Szene bei der Polizei, die endet auf eine ganz andere Weise. Als Sie wieder gehen, werden Sie von einer der Polizistinnen, die Sie verhört haben, umarmt zum Abschied. Wie kam das?
Bernheim: Wir haben tatsächlich unerhörtes Glück gehabt, dieser jungen Frau auf dem Polizeikommissariat zu begegnen. Sie hat uns gleich zu Anfang gesagt, es ist schwierig für mich, diese Vernehmung durchzuführen, denn ich hatte einen Bruder, der furchtbar gelitten hat, dessen Sterben lange gedauert hat, und ich wäre froh gewesen, hätte ich ihm helfen können. Sie musste dann die Vernehmung vornehmen und zum Schluss hat sie uns gesagt: Tun Sie, was Ihnen Ihr Herz sagt! Und sie fragte uns: Kann ich Sie umarmen? Das hatte fast etwas Unwirkliches und auf jeden Fall Ergreifendes. Und ich muss so im Abstand dazu sagen: Ja, ich habe dieses Buch auch geschrieben, um an diese Frau zu erinnern.
Meyer: Die ganze juristische Lage in Frankreich hat ja dazu geführt, dass Sie nicht bei Ihrem Vater sein konnten im Moment seines Todes. Er war dann in der Schweiz in Bern, hat da das Todesmittel eingenommen. Was hat das für Sie bedeutet, dass Sie ihn da alleine lassen mussten?
Bernheim: Ja, es war seltsam. In dem Moment, als der Transport bereitstand, wir uns am Ambulanzwagen von meinem Vater verabschiedet haben, konnten wir sehen, er war durchaus zufrieden, allein auf die letzte Reise zu gehen. Er war vor allen Dingen im Frieden mit sich selbst. Ich war traurig, aber das betraf mich, das betraf mein Gefühl des Alleinseins. Meine Schwester, die nicht in die Schweiz fahren wollte – für sie war das von Anfang an klar –, hatte die Schweizer Bestatter darum gebeten, ein kleines Fenster im Sarg offenzulassen, sodass wir bei der Zurückführung des Sarges nach Paris die Chance hätten, sein Gesicht noch einmal zu sehen. Die Bestatter haben das nicht gemacht, das heißt, ich konnte ihn tatsächlich nicht noch einmal sehen. Und das ist der zweite Grund, weshalb ich das Buch geschrieben habe. Es ist meine Art, ihn noch mal vor meinem Auge erstehen zu lassen, ihn noch einmal zu sehen.
Meyer: Nach Ihren Erfahrungen mit dem Sterben Ihres Vaters, wie würden Sie sich eine Regelung für Sterbehilfe wünschen? Auch wenn Sie daran denken, dass man ja verhindern muss, dass Menschen diese Entscheidung aus einer momentanen Verzweiflung heraus treffen oder unter einem äußeren Druck treffen? Wie würden Sie sich wünschen, dass Sterbehilfe geregelt wird?
Bernheim: Ich glaube, dass man jeden Fall wirklich individuell betrachten muss, weil man auch die Verzweiflung der einzelnen Menschen nicht vergleichen kann. Es muss natürlich etwas geschehen, es sollte wirklich bald eine verbindliche Regelung getroffen werden, denn es gibt doch so viele Leute – und das betrifft sicherlich die Mehrheit –, die so sehr leiden und die so behindert sind in ihrem Leiden, dass sie sich selber gar nicht umbringen könnten. Sie haben gar nicht die Möglichkeiten dazu.
Worum es mir geht – und darauf bestehe ich dann doch –, dass wir die Freiheit haben müssen, unseren Tod zu wählen. Ich glaube, das ist wirklich ein Fortschritt, wenn wir dahin kommen, dass uns dieser Handlungsspielraum gegeben wird. Und für die Leidenden ist es einfach eine enorme Erleichterung zu wissen, dass sie sterben können.
Meyer: Emmanuèle Bernheim war bei uns, "Alles ist gutgegangen" heißt ihr Buch, aus dem Französischen übersetzt von Angela Sanmann, erschienen im Hanser Berlin-Verlag. Unser Gespräch hier hat Sigrid Brinkmann übersetzt, vielen Dank an sie, und Emmanuèle Bernheim, vielen Dank für das Gespräch, merci beaucoup!
Bernheim: Danke schön!
Meyer: Und noch ein Hinweis, heute Abend wird Emmanuèle Bernheim ihr Buch in Hamburg vorstellen, um 19 Uhr im Institut Français.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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