Der Staat und die Grundrechte

Vom Schiedsrichter zum Spielmacher?

29:15 Minuten
Im Foyer des Bundesverfassungsgerichts liegen zur Mitnahme Miniaturausgaben des Grundgesetzes aus.
Das Grundgesetz zum Mitnehmen: Jedes Gesetz und jedes Gerichtsurteil muss sich hierzulande am Maßstab der Grundrechte und der Verfassung messen lassen. © picture alliance/dpa / Uli Deck
Von Ulrike Köppchen · 17.04.2023
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Die Verrechtlichung gesellschaftlicher Konflikte ist unübersehbar. Viele zivilgesellschaftliche Akteure ziehen vor Gericht. Aber was heißt es, wenn aus Politik Recht wird und die Richter dem Staat immer mehr Aufgaben übertragen?
Wir sehen uns vor Gericht – was man früher auf der Straße oder im Parlament ausgefochten hat, landet heute vor dem Richter. War das Recht in der Vergangenheit oft ein Mittel des Staates, um die Gesellschaft zu disziplinieren, wird es heute oft von den Bürgern als Mittel eingesetzt, um den Staat in die Schranken zu weisen – vor allem, wenn es um Grundrechte geht. Und dazu sind sie ja auch – oder waren es zumindest ursprünglich einmal.

„Am 23. Mai beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes …“

Vier Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur verkündet der Präsident des Parlamentarischen Rates und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) feierlich die Unterzeichnung und Annahme des Grundgesetzes. Die Versammlung hatte es sich nicht einfach gemacht, wie der Vorsitzende des Verfassungskonventes Anton Pfeiffer ausführte.

„Wir haben uns innerlich darauf vorbereitet, indem wir uns aufs tiefste hineinversenkten, was der Begriff eines Rechtsstaates bedeutet, was insbesondere aber Grundrechte und Menschenrechte in unserer Zeit bedeuten.“

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes

"Die Väter und Mütter des Grundgesetzes standen bei ihren Beratungen stark unter dem Eindruck der jüngsten Vergangenheit, also des nationalsozialistischen Regimes und des Totalitarismus in der entstehenden DDR", sagt der Verfassungsrechtler Christoph Gusy, Professor an der Universität Bielefeld.

"Sie haben die Grundrechte als zentral gegen den Staat, gegen von ihnen wahrgenommenes staatliches Unrecht gesehen. Grundrechte sollten die Menschen vor staatlicher Willkür schützen, das heißt im Klartext, sie galten primär als sogenannte Abwehrrechte gegen den Staat. Das Beste, was der Staat nach diesem Grundrechtsverständnis tun konnte, war, nichts zu machen. Denn dann griff er auch in keine Rechte ein und die Freiheit blieb gewahrt."
Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949
Vier Jahre nach Kriegsende: Konrad Adenauer unterzeichnet - als damaliger Präsident des Parlamentarischen Rates - am 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Schrankenlos sollten – und sollen – die Grundrechte zwar nicht gelten, sondern sie konnten unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Dennoch stand dahinter das Idealbild einer Gesellschaft aus freien Individuen, denen die Rechte nicht durch den Staat zugeteilt werden, sondern die ihnen von Natur aus zustehen.

Sozialeres Verständnis von Grundrechten

Unumstritten war dieses Verständnis von Grundrechten und der Rolle des Staates allerdings nie. Die Weimarer Nationalversammlung etwa hatte versucht, ein sozialeres und weniger idealistisches Verständnis von Grundrechten zu etablieren, wie Christoph Gusy berichtet.

"Damals hatte man – übrigens ebenso wie in der Nationalversammlung von 1848/49 – politisch den Eindruck, dass Freiheit etwas ist, das nicht von selber entsteht, wenn der Staat sich aus der Gesellschaft heraushält. Man ging davon aus, dass die Grundrechte beispielsweise ein Grundrecht auf gerechten Lohn, auf menschenwürdige Existenz oder Freiheit von willkürlichen Vertragsbedingungen seien. Das sind keine Dinge, die sich einfach von selbst einstellen, wenn der Staat nichts tut, das sind Dinge, die der Staat durch Recht überhaupt erst herstellen soll."

Durchgesetzt hat sich diese Sichtweise allerdings nicht – weder in der Weimarer noch in der jungen Bonner Republik. Ein aktiver Grundrechtsschutz durch den Staat ist jenseits des Bundesverfassungsgerichts nicht vorgesehen. Das allerdings bemüht sich schon in den Fünfzigerjahren sehr darum, den Geltungsbereich der Grundrechte auszuweiten.

Der Regisseur Veit Harlan hatte sich bereits 1933 zum Nationalsozialismus bekannt. Im Dritten Reich machte er Karriere mit Unterhaltungsfilmen, aber auch mit Propaganda. Etwa dem antisemitischen „Jud Süß“ von 1940. Vor allem wegen dieses Films wird er nach 1945 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, aber von zwei deutschen Gerichten freigesprochen. 1950 will er mit dem Film „Unsterbliche Geliebte“ in der Bundesrepublik ein Comeback starten. Der Hamburger Senatsdirektor und Pressechef Erich Lüth ruft öffentlich zum Boykott des Films auf.

"Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muß kaum vernarbte Wunden wiederaufreißen und abklingendes Mißtrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaus furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten."

Geltungsbereich der Grundrechte

Im restaurativen Klima der jungen Bundesrepublik sind das harte und mutige Worte. Prompt verklagt die Filmfirma Lüth auf Unterlassung und Schadenersatz – und gewinnt. Der wiederum sieht sich in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt und zieht vor das Bundesverfassungsgericht. Das gibt Lüth im Januar 1958 nicht nur recht, sondern schreibt darüber hinaus auch Grundsätzliches zum Geltungsbereich der Grundrechte fest:

"Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt."

Jedes Gesetz und jedes Gerichtsurteil muss sich also am Maßstab der Grundrechte und der Verfassung messen lassen.

"Die Entscheidung in den 50er-Jahren war schon eine wichtige Entscheidung mit Blick darauf, dass es eben die war, die dieses Verständnis eingeführt hat, dass Grundrechte eine objektive Werteordnung darstellen und deswegen Ausstrahlungswirkung entfalten für die ganze Rechtsordnung", sagt Michaela Hailbronner. Die Professorin für Öffentliches Recht und Menschenrechte an der Universität Gießen betont, dass das Verfassungsgericht damit eine Denkwende eingeleitet habe.

"Und diese Denkwende, die ist uns auch geblieben, eben dieses Verständnis von Grundrechten als objektive Werte, die irgendwie durchgesetzt werden müssen. Unser Verständnis verändert sich eben auch. Und während die Gerichte sozusagen nicht alles immer vorschreiben sollen, müssen sie ja auch Schritt halten. Insofern ist es, glaube ich, ein gegenseitiger Austausch.“

Gesellschafte Entwicklung spiegelt sich im Recht

Die Entwicklung des Rechts spiegelt immer auch die gesellschaftliche Entwicklung wider, unterstreicht Michaela Hailbronner. Wer hätte sich vor einigen Jahrzehnten zum Beispiel vorstellen können, dass Verfassungsgerichte einmal so etwas wie ein Grundrecht auf eine Ehe unter Gleichgeschlechtlichen anerkennen würden?

"Umgekehrt, es ist, glaube ich, auch so, dass Gerichte, die sich zu weit vorwagen und sozusagen Dinge entscheiden, für die die Gesellschaft nicht bereit ist, die können sich nicht unbedingt immer sicher sein, dass die Umsetzung auch gelingt."

Etwa was die Gleichberechtigung angeht: Zwar steht bereits seit 1949 im Grundgesetz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, die juristische Praxis sah allerdings anders aus. Das Scheidungsrecht benachteiligte Frauen, als Ehename war der Name des Mannes vorgeschrieben, und eine Frau durfte nur mit Zustimmung ihres Ehemannes ein Konto eröffnen. Eine Änderung dieser verfassungswidrigen Gesetze war wiederholt vom Bundesverfassungsgericht angemahnt worden, aber erst unter der sozialliberalen Koalition gelang es dem Gesetzgeber, dafür Mehrheiten zu finden.

Auch die soziale Dimension der Grundrechte und die Verpflichtung des Staates, aktiv etwas zu deren Schutz zu tun, wird jetzt stärker betont.

"Der Urknall dieser Situation war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, etwa von 1973, in dem es um den Numerus Clausus ging", sagt der Verfassungsrechtler Christoph Gusy. Im Urteil hieß es: "Aus dem in Artikel 12 Absatz 1 Satz Grundgesetz gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium."

Staat als Dienstleister in Sachen Grundrechte

Damit das Grundrecht der Berufsfreiheit gewährleistet ist, reicht es also nicht länger, dass der Staat niemandem verbietet, einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Sondern er muss auch Vorsorge treffen, dass Menschen die Möglichkeiten haben, den Beruf ihrer Wahl zu erlernen.
Christoph Gusy erläutert, „hier wurde Freiheit vom Bundesverfassungsgericht verstanden als Teilhabe, als Teilhabe an staatlichen Leistungen. Freiheit ist so also immer ein Prozess, der sich im Rahmen des staatlichen Rechts abspielt, das Recht darf nicht nur Eingriffe unterlassen, sondern muss auch Teilhabe ermöglichen und zwar gleiche und gerechte Teilhabe, dieser Gedanke war damals neu und hält bis zum heutigen Tage an, von daher ist es so, dass wir noch heute an der Stelle sind: Freiheit ist ein Ressourcenproblem, Freiheit ist ein Teilhabeproblem, Freiheit ist ein Verteilungsproblem und diese Verteilung kann letztlich nur der Staat organisieren."

Damit kommt dem Staat in Sachen Grundrechte eine neue Aufgabe zu. Statt sich möglichst wenig einzumischen, wird er immer mehr auch als Dienstleister in Sachen Grundrechte verstanden.

Kampf für Geschlechterparität in den Parlamenten

"Wir haben doch die Gleichberechtigung, die ist doch im Grundgesetz, das liegt doch an den Frauen, dass sie nicht gewählt werden oder: Frauen wollen nicht in politische Ämter – das waren so die Standardargumente. Aber dass es hier ein strukturelles Problem ist, eine strukturelle Benachteiligung von Frauen, das war noch nicht wahrgenommen worden, und das war unser Anliegen, dass sich das ändert."

Christa Weigl-Schneider ist Rechtsanwältin und kämpft seit zehn Jahren für Geschlechterparität in den Parlamenten – genauso wie zahlreiche Initiativen, Aktionsbündnisse und Frauenräte.

"Wir haben ja erst seit 1983 einen Frauenanteil im Bundestag von über zehn Prozent. Das muss man sich mal vorstellen."

Auch heute noch sind Frauen in den deutschen Parlamenten deutlich unterrepräsentiert. Im Bundestag etwa sind sie in allen Fraktionen außer denen der Grünen und der Linkspartei in der Minderheit. Insgesamt sind 34,8 Prozent der Bundestagsabgeordneten weiblich, 2017 waren es sogar nur 30,9 Prozent. Ein Skandal, finden Christa Weigl-Schneider und ihre Mitstreiterinnen und haben deshalb beim Deutschen Bundestag Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt. Denn der niedrige Frauenanteil komme dadurch zustande, dass Frauen schon bei der Vergabe aussichtsreicher Plätze auf den Kandidatenlisten der Parteien systematisch benachteiligt würden.

Gleichberechtigte Teilhabe per Gesetz?

"Die gleichberechtigte Teilhabe ist eben nicht gewährleistet, wenn sie immer nur bis zu 30 Prozent in den politischen Entscheidungsgremien aufschlagen. Ein Staat hat die Pflicht darauf hinzuwirken, dass Frauen nicht benachteiligt sind."

So steht es seit 1994 im Grundgesetz. Doch heißt das auch, dass der Staat verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass die Hälfte der Abgeordneten in den Parlamenten Frauen sind? So sehen es Aktivistinnen wie Christa Weigl-Schneider und leiten daraus die Forderung ab, der Gesetzgeber müsse ein Gesetz beschließen, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen sicherstellt

"Ein Gesetz braucht es deshalb, weil mit Selbstverpflichtung kommt man nicht weiter. Wenn jetzt die CDU oder die CSU es so toll finden würden, dass Frauen einfach besser vertreten sind, dann könnten sie es einfach festschreiben. Der Frauenanteil in den Parteien ist schon gering genug. Das ist eben das Problem, dass man diese Parteien nicht für eine Selbstverpflichtung gewinnen kann. Das ist meine feste Überzeugung, wenn man so festgefahrene Strukturen ändern will, dann braucht man gesetzliche Regelungen."

Juristisch und politisch ist ein solches Paritätsgesetz auch unter dem französisch geprägten Begriff Paritégesetz geläufig, allerdings hoch umstritten: 2019 verabschiedeten die Parlamente von Brandenburg und Thüringen zwar entsprechende Gesetze, doch lange währt die Freude über den Meilenstein der Gleichstellung nicht.

"Das Thüringer Paritätsgesetz, das den Parteien starre paritätische Quoten für die Landeslisten vorgibt, verstößt gegen die Thüringer Verfassung und ist deshalb nichtig." So der thüringische Verfassungsgerichtshof am 15. Juli 2020. Geklagt hatte die AfD.

"Die Vorgabe einer paritätischen Besetzung von Landeslisten für Wahlen zum Landtag Brandenburg verletzt die Parteienfreiheit, Wahlvorschlagsfreiheit und Chancengleichheit der politischen Parteien im Land Brandenburg." So das brandenburgische Verfassungsgericht am 23. Oktober 2020.
Demonstrantinnen für eine Paritätsregelung stehen vor der Urteilsverkündung mit Plakaten wie "Parité tut nicht weh" vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof.
Demonstrantinnen für eine Paritätsregelung vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof: Der kippte das Paritätsgesetz.© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Auch die Wahlprüfungsbeschwerde, die unter anderem Christa Weigl-Schneider gegen die Bundestagswahl 2017 eingereicht hatte, wird vom Bundestag zurückgewiesen. Eine aus dem Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes abgeleitete Verpflichtung zur Verabschiedung eines Paritégesetzes vermag man dort nicht zu erkennen.

Dagegen legten die Frauen Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Das wies die Klage im Dezember 2020 als unzulässig ab, da die Beschwerdeführerinnen nicht hinreichend begründet hätten, inwieweit hier ein auf ein Fehlen eines Paritätsgesetzes zurückgehender Wahlfehler vorliege. Mit dem gleichen Argument erklärte es im Januar 2022 auch eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Thüringischen Verfassungsgerichtshofs für unzulässig, mit dem dieser das Landes-Paritätsgesetz gekippt hatte.

Inhaltlich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner ausführlichen Begründung der Klageabweisung zwar nicht über ein Paritätsgesetz entschieden, aber doch eine gewisse Skepsis ausgedrückt.

Abbau von Ungleichheiten durch Gesetzgeber

Michaele Hailbronner teilt einige der Bedenken: "Wo man kritisch sein muss, ist das Argument, dass das Parlament die Gesellschaft als solche abbilden muss. Das ist auch das Argument - so würde ich jedenfalls die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lesen, es waren ja nur Entscheidungen der Zulässigkeit -, dass solche Argumente doch eher skeptisch zu beurteilen sind und dass es darum eigentlich nicht gehen kann. Das Parlament muss nicht eine Abbildung der gesamten Gesellschaft als solche darstellen."

Zumal dann möglicherweise auch andere, in Artikel 3 des Grundgesetzes genannte Gruppen der Gesellschaft – Menschen einer bestimmten sozialen Herkunft, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationshintergrund – eine Repräsentation im Parlament gemäß ihres Bevölkerungsanteils beanspruchen könnten. Damit würde der Bundestag zu einer Art Ständevertretung. Und eigentlich solle es bei Geschlechterparität im Parlament doch um etwas anderes gehen, sagt Michaela Hailbronner: den Abbau von strukturellen Ungleichheiten, der Frauen benachteiligt.

"Das ist, glaube ich, das überzeugendere Argument für eine Parität. Ob man das jetzt mit einer Quote macht auf den Listen oder ob man es in anderer Weise tut. Ich würde argumentieren, da hat der Gesetzgeber viel Freiheit. Aber was ich mir schon wünschen würde, ist, dass sich der Gesetzgeber ein bisschen was überlegt. Wie er das Problem angeht."

Trotz der negativen Signale des Bundesverfassungsgerichts - aufgeben wollen Paritätsaktivistinnen wie Christa Weigl-Schneider nicht.

"Ich darf Sie überraschen – wir haben gegen die letzte Bundestagswahl wieder das Wahlprüfungsverfahren eingeleitet. Wir haben wieder beim Bundestag Einspruch eingelegt, und dieses Mal waren es immerhin 200 Bürgerinnen und Bürger."

Knapp 5200 Verfassungsbeschwerden 2020

Etwa eine Viertelmillion Verfahren waren zwischen 1951 und 2020 beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Davon etwa 95 Prozent Verfassungsbeschwerden. Den bisher absoluten Höchststand erreichte die Zahl der Verfahrenseingänge 2014 mit 6800. Seitdem gehen die Zahlen wieder etwas zurück, aber 2020 wurden immerhin noch knapp 5200 Verfassungsbeschwerden eingereicht.

Der gewaltige Trend zur Verrechtlichung gesellschaftlicher Konflikte bereitet inzwischen auch einigen Juristinnen und Juristen Bauchschmerzen, meint Michaela Hailbronner. „Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir sozusagen nicht zu viel dem Gericht anvertrauen, sondern auch sozusagen uns als Bürgerinnen und Bürger. Wenn es eben ein politisches Anliegen gibt, was wir durchsetzen, uns nicht immer in erster Linie ans Gericht zu wenden, sondern zu versuchen, das mit politischen Mitteln zu tun."

Die Klage ist im Grunde alt, aber etwas hat sich verändert: Früher ging die Verrechtlichung oft vom Staat aus, etwa wenn es darum ging, Arbeitskämpfe der Arbeiterbewegung zu disziplinieren, sind es heute oft zivilgesellschaftliche Akteure, die sich an die Gerichte wenden oder die zumindest mit rechtlichen Positionen argumentieren.

"Was Sie jetzt ansprechen, hat ja auch viel mit einer Diagnose der Moralisierung von Interessenkonflikten zu tun. Jetzt könnte man sagen, Grundrechte sind gewissermaßen näher am Pol der Moral als gewöhnliche Interessen, die dann etwa privatrechtlich ausgeglichen werden. bei Grundrechtsbehauptungen ist dann schnell die Annahme im Spiel, dass zum Beispiel etwas für die Menschenwürde Relevantes zur Debatte steht", sagt der Politikwissenschaftler Bernd Ladwig, Professor für politische Theorie an der Freien Universität Berlin.

Kritiker der Verrechtlichung

Was macht das mit dem demokratischen Prozess, wenn immer mehr gesellschaftliche Konflikte auf dem Feld des Rechts entschieden werden?

"Viele Kritiker der Verrechtlichung, auch zum Beispiel aus dem Umfeld der neueren Frankfurter Schule, Leute wie Christoph Menke, argumentieren, dass das Recht zum Beispiel Kommunikation unterbricht und damit die Art von argumentativer und ergebnisoffener Auseinandersetzung, die für die demokratische Politik unverzichtbar ist. In gewisser Weise ist das sozusagen nach dieser Kritik eine Art von Kommunikationsabbruch, wenn man ein Gerichtsurteil hat, hat man damit in gewisser Weise die Schließung eines Debattenraums."

Ganz mag sich der Politikwissenschaftler dieser Kritik nicht anschließen, da sie seiner Ansicht nach unterschätzt, wie sehr auch die Rechtsentwicklung in größere gesellschaftliche Veränderungsprozesse eingebettet ist.
Und dennoch: "Natürlich hat das Recht auch diese Funktion, dass es gewissermaßen Zäsuren setzt, dass es bestimmte Dinge unmöglich macht in einem normativen Sinn. Also wenn etwas verboten ist, dann ist es verboten, dann kann ich zwar weiterhin dagegen vorgehen, aber dann mache ich mich strafbar und wohl etwas Illegales“, sagt Bernd Ladwig.
„In diesem Sinne ist es natürlich zweierlei, ob ich sage, ich bewege mich in einem Raum des ergebnisoffenen demokratischen Streits, der durch Gesetzgebung nur vorläufig geregelt ist, aber im Prinzip immer wieder neu geöffnet werden kann oder ob ich denke, dass ich mit den Mitteln des Rechts etwas als illegal ausschließen kann, insbesondere wenn es um Grundrechtsbehauptungen geht, denn die sind ja dagegen geschützt, dass ich sie mit einfacher Mehrheit wieder ändere."
Ein Plakat für Klimapolitikwandel ist bei einer Kundgebung von Fridays For Future und einem großen NGO-Bündnis am 29.11.2019 am Brandenburger Tor zum globalen Aktionstag für mehr Klimaschutz zu sehen.
Mehrere Klimaaktivisten und Umweltverbände hatten Verfassungsklagen in Karlsruhe eingereicht, weil sie im Klimagesetz das Grundgesetz verletzt sahen.© dpa / picture alliance / Christoph Soeder
„Epochal“ war der nahezu einhellige Tenor in der Öffentlichkeit, als das Bundesverfassungsgericht am 29. April 2021 einer Reihe von Verfassungsbeschwerden in Teilen recht gab und das Klimaschutzgesetz von 2019 für verfassungswidrig erklärte.
Geklagt hatten Klimaschützerinnen und Klimaschützer, Umweltverbände und sogar Menschen aus Bangladesch und Nepal. Ihr Hauptargument: Durch die ihrer Ansicht nach unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen würden sie in ihren Grundrechten auf Leben, Gesundheit, Berufsfreiheit und Eigentum verletzt. Insofern steckt in diesen Verfassungsbeschwerden auch ein Versuch, eine radikale Ausweitung des Grundrechtsschutzes und der staatlichen Schutzpflicht durch das Bundesverfassungsgericht durchzusetzen. Mit Erfolg?

Versuch derAusweitung staatlicher Schutzpflicht

„Teils ja, teils nein“ meint der Verfassungsrechtler Christoph Gusy, „einerseits hat es gesagt, nein ein individuelles Grundrecht auf bestimmte Maßnahmen des Klimaschutzes gibt es nicht, aber auf der anderen Seite hat es gesagt, die Kläger, die da waren, durften immerhin klagen, und das darf man nur, wenn man ein Grundrecht auf seiner Seite hat."

Aber eine konkrete Verletzung der Schutzpflicht des Staates, etwa hinsichtlich des Grundrechts auf Leben stellte das Bundesverfassungsgericht nicht fest. Beziehungsweise es stellte klar, dass der Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung seiner Schutzpflichten hat und dass es nicht die Aufgabe des Gerichts sei, die Maßnahmen im Einzelnen zu überprüfen.

"Letztlich ist das Bundesverfassungsgericht in der Sache ja nicht so weit gegangen. Sie haben ja nicht dem Gesetzgeber jetzt so wahnsinnig viel vorgeschrieben, was nicht ohnehin schon geplant war, sondern sie haben gesagt, ihr müsst eben über den Zeitraum, zu dem ihr jetzt geplant habt, hinaus hin weiter planen, um sicherzustellen, dass sozusagen nicht diese Freiheitsbeschränkungen, die dann nötig sein werden, dass die nicht ungerecht verteilt werden", so Michaela Hailbronner, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Gießen.

Krasses Fehlurteil beim Klimaschutzgesetz?

Der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler hingegen sagt: Ein krasses Fehlurteil: "Die Argumentation des Gerichts ist folgende: Wenn wir jetzt bis 2030 zu wenig CO2 einsparen, müssen wir ab 2030 umso mehr CO2 einsparen, und das heißt mit anderen Worten, die Freiheiten der Bürger ab 2030 sind stark bedroht, weil wir jetzt bis 2030 zu wenig einsparen – und da sagt das Bundesverfassungsgericht, das ist sozusagen ein intertemporales Grundrecht. Sie erfinden ein neues Grundrecht nämlich ein intertemporales Grundrecht, dass die Freiheitseinschränkungen ab 2030 Auswirkungen auf unsere Lebensweise jetzt haben, da hat es ja recht… der Punkt ist aber, dass das ein politisches Argument ist und kein juristisches, verfassungsrechtliches Argument."

Es gehe ihm nicht um Kritik an Klimapolitik, betont der Verfassungsrechtler – Klimaschutz sei ein wichtiges Anliegen. Aber das Verfassungsgericht mische sich immer stärker in Politik ein und entscheide nach politischen Kriterien.

"Und das halte ich für gefährlich. Weil das Bundesverfassungsgericht eine Institution ist, die mit am meisten Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Das hängt aber damit zusammen, dass die Bürger das Bundesverfassungsgericht wahrnehmen als unabhängigen, einigermaßen unparteiischen Schiedsrichter im politischen Kampf. Und weil das Vertrauen sich darauf stützt, ist es gefährlich, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Rolle verlässt, und das ist das, was ich im Moment beobachte."

Diese Nähe zur Politik sieht Boehme-Neßler nicht nur beim Klimaurteil, wo es um die Ausweitung von grundrechtlichen Schutzpflichten ging. Er sieht sie auch bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der Coronakrise. Da ging es aber darum, inwieweit Freiheitsrechte eingeschränkt werden können.

"Das Bundesverfassungsgericht hat ganz viele Entscheidungen getroffen zu allen möglichen Einschränkungen, staatlichen Einschränkungen in der Coronakrise, Bundesnotbremse, Ausgangsbeschränkungen und so weiter. Und das Entscheidende ist, dass das Bundesverfassungsgericht verhältnismäßig undifferenziert, aus meiner Sicht erschreckend undifferenziert, alle diese Maßnahmen mehr oder weniger abgenickt hat. Und das erschüttert auch das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, bestimmte Politiken zu fördern, sondern die Aufgabe ist es aufzupassen, dass die Verfassung nicht verletzt wird", sagt Boehme-Neßler.

"Zum Beispiel kann man empirisch zeigen, dass dieselben Leute, die bei Corona abwehrend auf den Staat reagieren, auch auf staatliche Klimaschutzpolitik abwehrend reagieren. Andersherum gesagt: Es gibt zum Beispiel eine starke Korrelation zwischen Marktvertrauen und der Ablehnung nicht nur staatlicher Eingriffe zugunsten des Klimas, sondern auch des Gesundheitsschutzes“, sagt der Politikwissenschaftler Bernd Ladwig. „Das lässt sich verallgemeinern, und man kann das an den vagabundierenden Themen der Rechtspopulisten erkennen. Die AfD wandert sozusagen von Kritik an Flüchtlingsbewegungen über den Euro über die Klimaschutzmaßnahmen, bis hin in die Querdenkerszene, die sich jetzt gegen die Coronamaßnahmen wendet. Man sieht auf den ersten Blick überhaupt keinen Zusammenhang zwischen diesen Themen, aber wenn man das auf der Folie eines verallgemeinerten Misstrauens gegen die Eliten und den Staat betrachtet, dann ergibt sich eine Art von Zusammenhang."

Gestiegenes Staatsvertrauen

Auch viele von denen, die gegen die Coronamaßnahmen auf die Straße gehen, beziehen sich aufs Grundgesetz, um ihrer Position Geltung zu verschaffen. Aber für sie ist es eine Waffe gegen den Staat und Grundrechte sind ihnen ein Mittel, um ihn sich vom Leib zu halten. Andere haben sich dagegen mit dem Staat angefreundet.

"Ich selber war, als ich viel jünger war, in Initiativen gegen die Volkszählung aktiv, auf die unter anderem das Bundesverfassungsgericht mit diesem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geantwortet hat, da hatten wir die Vorstellung, der Staat ist letztlich Gegner und man muss ihm zutiefst misstrauen, wenn er uns Informationen abgewinnen will. Ich glaube da hat sich massiv etwas verändert und das zeigt im Grunde auch eine bestimmte Vorstellung von gesellschaftlicher Selbstregulation, die nicht nur neoliberal war, sondern die auch etwas mit einer eher anarchistischen Vision zu tun hat, dass die jedenfalls naiv war, was die aus der Gesellschaft selbst hervorgehenden Gefahren für die Rechte und Freiheiten des Einzelnen und für ein annäherndes Kräftegleichgewicht bedeutet."

Und vielleicht kommt zum gestiegenen Staatsvertrauen noch etwas anderes hinzu: dass nach dem gescheiterten neoliberalen Experiment der Neunziger und Nullerjahre die Gesellschaft sich viel weniger zutraut, Dinge selbst zu regeln.

"Das sind ja zwei Seiten einer Medaille. Wahrscheinlich, wenn man das jetzt wiederum in 20 Jahren rückblickend betrachtet, werden dann wieder die Stimmen gestärkt, die sagen, unser Glaube an die neutrale Schiedsrichterrolle des Staates und seine Fähigkeit und Bereitschaft zur Gemeinwohlverwirklichung war naiv. Das ist so ein Pendelschlag. Aber im Moment, glaube ich, sind diejenigen in der Defensive, die sagen, man muss den Staat schwach halten, weil er letztlich immer oder vor allem auch nutzenmaximierend in eigener Sache agiert, rent-seeking betreibt, also die ganze Litanei neoliberaler Kritik, die ist im Moment, glaube ich, ziemlich verstummt. Das ist kein Grund, naiv gegenüber dem Staat zu sein und zu sagen, die Funktion von Grundrechten als Abwehrrechte gegen den Staat hat jede Bedeutung verloren, das wäre natürlich fatal falsch, aber dass im Moment eher die Gesellschaft als Gefährdungsgrund unserer Rechte und Freiheiten wahrgenommen wird, hat eben auch gute Gründe."

Es sprachen: Nina West und Philipp Engelhardt
Ton: Ralf Perz
Redaktion: Martin Hartwig
Regie: Beatrix Ackers

Dieses Feature wurde erstmals am 21. März 2022 ausgestrahlt.

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