Ursprung der Sprachen
Die Schrift wurde vor etwa 5.000 Jahren in Mesopotamien von Menschen erfunden, ihre Aneignung durch indogermanische Sprecher erfolgte etwas später, sagt die Autorin Laura Spinney. © Imago / Richard Wareham
Wie sich das Indoeuropäische verbreitete

Beim Indoeuropäischen handelt es sich um eine riesige Sprachfamilie, die mehr als drei Milliarden Menschen auf der Welt sprechen. Welchen Anteil Migration an ihrer Entwicklung hat, zeigt Laura Spinney in "Der Urknall unserer Sprache".
Zwei von fünf Menschen auf der Erde sprechen eine Sprache, die der Familie der indoeuropäischen Sprachen zugerechnet wird. Zu dieser Sprachfamilie gehört eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Sprachen – angefangen bei den meisten europäischen Sprachen bis hin zu Hindi und ausgestorbenen Sprachen wie Sanskrit, Latein oder Altgriechisch.
Doch wo liegt der Ursprung der indoeuropäischen Sprachfamilie? Dazu kursierten bislang zwei miteinander konkurrierende Hypothesen: die Verbreitung durch das Steppenvolk der Yamnaya oder durch frühe Ackerbauern aus Anatolien. Mithilfe von DNA-Analysen haben US-amerikanische Forscherteams kürzlich herausgefunden, dass beide Kulturen zumindest teilweise gemeinsame Wurzeln haben.
In “Der Urknall unserer Sprache” erklärt die Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney, wie Linguistik, Archäologie und Genetik die Geschichte des Indoeuropäischen neu erzählen. Sprachentwicklung schildert sie als eine Geschichte ständiger Vermischung, Migration und Veränderung.
Inhalt
- Wo liegt der Ursprung unserer heutigen Sprachen?
- Wann begann die Menschheit zu schreiben?
- Wann begannen die Menschen zu sprechen?
- Wodurch entwickelten sich Sprachen und Dialekte?
- Wie hängen Sprache und Landschaft zusammen?
- Welche Rolle spielt das Geschichtenerzählen?
- Welche Rolle spielte Migration bei der Entwicklung von Sprache?
- Lässt sich Sprache bewahren?
Wo liegt der Ursprung unserer heutigen Sprachen?
Erst im 19. Jahrhundert erkannten Sprachwissenschaftler, dass sehr unterschiedliche Sprachen - von Sanskrit über Latein und Griechisch bis zu den keltischen, germanischen, baltischen und slawischen Sprachen sowie den Nachkommen des Lateinischen – miteinander verwandt sind und eine große Familie bilden. Wir bezeichnen sie als das „Indoeuropäische“, sagt die Wissenschaftsjournalistin Spinney. Seitdem versuchen Forscherinnen und Forscher, die Entstehungsgeschichte der indoeuropäischen Sprachfamilie zusammenzusetzen.
Nach aktuellen Erkenntnissen US-amerikanischer Forscherteams, die auch im Nature-Magazin veröffentlicht wurden, vermischten sich Nomaden der Kaukasus-Wolga-Region vor rund 6.000 Jahren im Westen der heutigen Ukraine mit Jägern und Sammlern entlang des Flusses Dnipro. Daraus entstand etwa 300 Jahre später die Yamnaya-Kultur. Zuerst war es nur eine kleine Gruppe, die anwuchs und vor etwa 5.300 Jahren neue Gebiete über Tausende Kilometer hinweg besiedelte. Dabei verbreitete sie auch ihre Sprachen.
Die Forscherteams stützen sich auf die Annahme, dass die Expansion der Yamnaya-Nomaden vor rund 5.300 Jahren zur selben Zeit stattfand wie die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen in Europa.
Wann begann die Menschheit zu schreiben?
Die Schrift wurde vor etwa 5.000 Jahren in Mesopotamien erfunden. Die Menschen dort sprachen keine indoeuropäischen Sprachen. Die Aneignung der Schrift durch indogermanische Sprecher erfolgte etwas später. Die allerersten Hinweise auf eine indoeuropäische Sprache, die schriftlich festgehalten wurde, ist Hethitisch, eine anatolische Sprache, die einst in der heutigen Türkei gesprochen wurde, aber längst ausgestorben ist, erklärt Laura Spinney.
Bis es die ersten bedeutenden Schriften in Sanskrit oder Altgriechisch gab, vergingen weitere 500 Jahre. Noch einmal 1000 Jahre – bis 500 vor Christus – dauerte es, bis das erste Mal Latein niedergeschrieben wurde.
Wann begannen die Menschen zu sprechen?
Es gibt unterschiedliche Theorien zum Ursprung der Sprache. Eine von ihnen besagt, dass die Sprache so alt ist wie wir Menschen und wir schon immer gesprochen oder gebärdet haben, am Anfang vielleicht nur mit einer Geste. Eine andere Theorie besagt, dass die Sprache eher ein jüngeres Phänomen ist und sich vielleicht erst in den letzten 100.000 Jahren entwickelte.
Wie die Sprache entstanden ist, werden wir aber nie wirklich wissen, aus dem einfachen Grund, dass die Schrift erst vor etwa 5.000 Jahren erfunden wurde, erklärt Laura Spinney. Unsere Spezies, der Homo sapiens, ist aber etwa 300.000 Jahre alt. Der größte Teil unserer Geschichte ist also ungeschrieben - und es lässt sich deswegen nur wenig über die damals gesprochenen Sprachen sagen. Immerhin lässt sich einiges anhand menschlicher Überreste rekonstruieren, dem Schädel und dem Sprechapparat beispielsweise.
Einig ist sich die Wissenschaft jedenfalls darin, dass vor 60.000 Jahren, als die Menschen Afrika verließen, um den Rest der Welt zu besiedeln, eine Sprache in dem Sinne benutzt wurde, wie wir sie heute verstehen, auch wenn sie etwas simpler gewesen sein mag.
Wodurch entwickelten sich Sprachen und Dialekte?
Dazu müssen wir in die Zeit der Jäger und Sammler vor etwa 10.000 Jahren zurückkehren, als die Menschen in kleinen Gruppen lebten und sehr mobil waren, sagt Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney. Jede Sprache hatte zu dieser Zeit tausend bis maximal zweitausend Sprecher. Partner zur Familiengründung wurden außerhalb der Gruppe gewählt. Sie brachten ihre Sprache mit in die Gruppe, ihre Kinder wuchsen daher mehrsprachig auf. Mehrsprachigkeit ist also unser natürlicher Zustand, bilanziert Spinney.
Als die Bevölkerung mit der Erfindung des Ackerbaus wuchs und sich auch die Sprachen rasch ausbreiteten, teilten sie sich in Dialekte auf. Diese vermischten sich wiederum, wanderten, trennten sich.
Wie hängen Sprache und Landschaft zusammen?
Aus Spinneys Sicht ist die Tatsache, dass sich Sprache an die bewohnbare Landschaft anpasst, einer der reizvollsten Aspekte von Sprache, die sie bei ihren Recherchen entdeckt hat. Dort, wo Menschen als Populationen leben, schließen sich Sprachen zusammen.
So gab es in der Antike ein Insel-Archipel, in dem jede Insel ihren eigenen Dialekt oder ihre eigene Sprache hatte, die sich von der auf der nächsten Insel gesprochenen Sprache unterschied. Auch in den Bergen wurden von Tal zu Tal verschiedene Sprachen oder Dialekte gesprochen. Das eurasische Hochgebirge Kaukasus beispielsweise hat ein arabischer Geograf des 10. Jahrhunderts als „Berg der Sprachen“ bezeichnet, weil dort viele verschiedene Sprachen gesprochen wurden. Sogar die Schwerkraft beeinflusst Sprachen: Menschen, die weiter oben am Berg lebten, sprachen eher die Sprache der Menschen weiter unten als umgekehrt, sagt Laura Spinney. Denn vermutlich mussten die Bergbewohner häufiger ins Tal kommen, während die Talbewohner nicht unbedingt auf die Berge hinaufsteigen mussten.
Welche Rolle spielt das Geschichtenerzählen?
Das Erzählen von Geschichten war von Anfang an eine der Hauptfunktionen der Sprache. Eine der grundlegendsten Anforderungen an die Sprache ist, dass sie uns die Möglichkeit gibt, über das Hypothetische bzw. das Fiktive zu sprechen, d. h. über Dinge, die noch nicht geschehen sind oder die wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können. „Das ist im Prinzip die Definition des Geschichtenerzählens“, sagt Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney. Sie ist der Meinung, dass darin nicht nur eine Überlebensfähigkeit liegt, sondern dass das Erzählen von Geschichten auch dem Kern des Menschseins nahekommt.
Geschichtenerzählen ist aber auch ein Werkzeug, das Linguisten verwenden, um ausgestorbene Sprachen zu rekonstruieren. Denn nicht nur die Wörter, Laute oder grammatische Strukturen alter Sprachen finden sich in heutigen Sprachen wieder, sondern auch die Geschichten, die Menschen erzählt haben. Linguisten nehmen kleinere Einheiten dieser Geschichten und verfolgen sie durch die Zeit zurück.
Welche Rolle spielte Migration bei der Entwicklung von Sprache?
Migration war wahrscheinlich die wichtigste Triebkraft für die Verbreitung und Veränderung von Sprache in der Vorgeschichte, sagt die Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney. Mit der Erfindung der Schrift vor rund 5.000 Jahren und der Entstehung größerer, komplexerer Gesellschaften änderte sich auch die Dynamik der Sprache. Nun boten sich neue Möglichkeiten, weit entfernt lebenden Menschen die eigene Sprache mitzuteilen oder diese durchzusetzen, nicht zuletzt durch Regierungen.
Migration spielte aber auch danach für den Sprachwandel noch eine wichtige Rolle. Wenn Sprachen mit neuen Sprachen oder Dialekten in Kontakt kommen, verändern sie sich. Das lässt sich am Beispiel der englischen Wörter Sugar, Zero und Artichoke (auf Deutsch: Zucker, Null, Artischocke) aufzeigen. Sie stammen aus dem Arabischen und gelangten über die Lingua franca, die Handelssprache rund ums Mittelmeer, ins Englische. Anhand dieser Lehnwörter können Forscherinnen und Forscher Aussagen darüber treffen, wer mit wem in Kontakt kam, Handel trieb oder heiratete.
Lässt sich Sprache bewahren?
Sprache ist ein Teil unseres Identitätsgefühls, wenn auch nicht der einzige, erläutert Buchautorin Laura Spinney. Daher ist der Drang, sie zu bewahren, ein Stück weit natürlich. Doch wir sollten uns auch mit dem Gedanken anfreunden, dass Sprache nicht stillstehen kann, sonst stirbt sie aus. Die Spur der toten Sprachen in der Geschichte der indoeuropäischen Sprachfamilie - von Hethitisch über Sanskrit und Altgriechisch bis zu Latein, beweist das.
Die erfolgreichsten Sprachen waren immer eine Mischform, die von Migranten verbreitet wurden. Nur weil sich die indoeuropäischen Sprachen immer wieder angepasst haben, stellen sie heute die größte Sprachfamilie der Welt dar, die fast von der Hälfte der Menschheit gesprochen wird.
Laura Spinney "Der Urknall unserer Sprache" Aus dem Englischen von Stephanie Singh, Hanser Verlag, München 2025, 336 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-446-28245-2
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