SPD-Politikerin Franziska Giffey

Die Frau der klaren Worte

29:46 Minuten
Porträt der ehemaligen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey
Am 31. Oktober will sich Franziska Giffey von den Berliner Sozialdemokraten zur Landesvorsitzenden wählen lassen. © picture alliance/Tagesspiege/Doris Spiekermann-Klaas
Von Wolf-Sören Treusch · 25.10.2020
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Familienministerin Franziska Giffey gilt als bürgernah. Ihr nächstes Ziel: Die SPD-Politikerin will Regierende Bürgermeisterin in Berlin werden. Laut Umfragen kann sie mit 51 Prozent Zustimmung rechnen. Doch es gibt auch neidische Genossen.
Franziska Giffey beugt sich tief hinunter. Lukas und vier weitere Jungen und Mädchen stehen wie auf einer Perlenkette aufgereiht vor ihr. Ort des Geschehens: eine kleine Wiese mitten zwischen achtgeschossigen Plattenbauten im Berliner Bezirk Spandau. Die Wiese gehört zur Kita, die die Kinder besuchen.
"Na, wie heißt Ihr denn?" "Lukas." "Hallo Lukas, ich bin die Franziska. Und wie heißt du?"
Dann erzählen die Kinder vom Rutschen und Verstecken spielen, und was sie sonst noch so im Garten der Kita treiben. Die Bundesfamilienministerin trägt ein Kissen. Darauf liegen fünf Medaillen. Die hängt sie den Kindern nun um den Hals.
"Sieht cool aus", findet Lukas und Franziska Giffey fragt weiter und erfährt, dass Lukas bald in die Schule kommt: "Du wirst Klassensprecher später, nicht?"
Die launige Zeremonie bildet den Abschluss einer kleinen, einstündigen Feier im Rahmen des Deutschen Kita-Preises. Ausgezeichnet wird ein Bündnis mit dem sperrigen Namen "Bildungsnetz Heerstraße Nord – AG Frühe Förderung". Die Bundesfamilienministerin lässt es sich nicht nehmen, auch den Erwachsenen ihre Auszeichnungen zu überreichen: Urkunde und Scheck.
"So passt mal auf, jetzt kommt hier noch das Geld. Schau mal, es gibt nicht nur 'ne Urkunde und 'ne Plakette, sondern es gibt auch 10.000 Euro, und ich hoffe, Sie können damit was Gutes anfangen. Haben Sie für sich schon überlegt, was Sie damit machen?"

Von hinten tönt es: "Es fließt ins Projekt." Das gefällt der Ministerin: "Es fließt ins Projekt. Wunderbar."

Jedes Kind soll es packen

In dem Projekt kooperieren Kitas, Grundschule und Jugendamt, Sozialarbeiter, Kinderärzte und Familienzentren, alle aus einem sozialen Berliner Brennpunkt. Sie wollen die Lebenschancen der Kinder im Quartier verbessern und vor allem die Eltern aktiv in die Bildungsarbeit einbeziehen. Ein Projekt ganz nach den Wünschen der Bundesfamilienministerin. Das unterstreicht sie in ihrer kurzen Rede.
"Wir haben ja im Ministerium einen großen Leitsatz: ‚Wir arbeiten für starke Familien, für ein starkes Land‘. Das passt wunderbar, finde ich, hierher, auch zu Ihrem Motto, und: Ich habe gesagt, unser Motto für die Kinder- und Jugendpolitik ist: Wir arbeiten dafür, dass es jedes Kind packt. Und es ist uns egal, ob dieses Kind ins wohlbehütete Wohlstandsnest geboren ist oder ob zuhause wenig Geld da ist. Ob da zu Hause deutsch gesprochen wird oder nicht. Wir wollen für jedes Kind die besten Chancen."
Franziska Giffey redet frei. Das macht sie oft. In der rechten Hand das Mikrofon, in der linken der Mundnasenschutz. Jedes Kind kann es packen: Das ist ihre Kernthese, seitdem sie im März 2018 das Amt der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übernommen hat.

Es ist schon der dritte Termin heute für die Ministerin, zu deren Aufgabengebiet auch Frauen, Senioren und Jugend gehören. Morgens war der Ausbau der Berliner U-Bahn dran, danach ging es um das Sicherheitsbedürfnis alter Menschen. Jetzt um Vorschulkinder. Ständig wechselt sie das Fachgebiet – Franziska Giffey findet nichts dabei.
Eine Frau steht vor einer Plakatwand und spricht in ein Mikrofon.
"Hallo Lukas, ich bin die Franziska. Und wie heißt du?" Franziska Giffey bei der KiTa-Preis-Verleihung.© Deutschlandradio/Wolf-Sören Treusch
"Ach, mir kommt das gar nicht so vor. Wissen Sie, das sind doch alles Themen, die mich unheimlich interessieren und mich auch vom Herzen bewegen. Weil ich gerne meinen Beitrag dazu leisten will, dass da was vorangeht. Natürlich ist so ein Tag immer voll. Langweilig wirds nie, und das ist ja auch gut so. Am Abend ist man dann schon auch manchmal erschöpft, aber das ist ja 'ne positive Erschöpfung. Weil man ja merkt, dass man den Unterschied machen kann. Das ist toll."
"Den Unterschied machen." Die Ministerin nutzt ein Vokabular, das aus dem Mannschaftssport kommt. Wenn zwei gleich starke Teams gegeneinander antreten und das Team mit den besseren Individualisten gewinnt.
"Wissen Sie, diese Zeit, die wir haben als Politiker, die ist doch immer begrenzt, das ist doch jedem klar. Man hat eine gewisse Zeit, eine Chance, zu gestalten, so habe ich das immer gesehen. Als ich Bundesministerin wurde, war das doch nicht geplant. Ich habe damit ja nicht gerechnet. Aber ich habe gesagt: Wenn ich das jetzt mache, dann will ich diese Zeit jeden einzelnen Tag nutzen, um einen positiven Unterschied zu machen.
Gerade auch im Brennpunkt, bei den Familien und Kindern, denen es nicht so gut geht. Und wenn ich damit andere ermutigen kann, auch zu sagen: ´lass mal nicht Bedenkenträger sein, sondern lass mal gucken, was geht`, dann freut mich das total. Es geht aber immer darum, dass man sein Leben nutzen muss, einen Unterschied zu machen und was Gutes zu bewegen. Und darum gehts mir."

Vom Bezirksamt Neukölln in die Bundesregierung

Steckbrief: Dr. Franziska Giffey. Geboren 1978 in Frankfurt an der Oder. Aufgewachsen in Fürstenwalde an der Spree, 1997 Umzug nach Berlin. Studium der Verwaltungswirtschaft. Eintritt in die SPD. Promotion in Politikwissenschaft. Von 2002 bis 2010 Europabeauftragte von Neukölln. Bis 2015 Schulstadträtin, dann Bürgermeisterin von Neukölln. Seit März 2018 Bundesfamilienministerin. Lebt mit Mann und Sohn in Berlin.
Von Berlin-Neukölln ins Bundesministerinnenamt – eine solche Politikkarriere können nicht viele vorweisen. Geholfen hat dabei der "Giffey-Style", wie sie ihn selbst nennt: ein bürgernaher Politikstil, eine einfache Sprache, die von allen verstanden wird. Das Gute-KiTa-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz zum Beispiel. Unmissverständlich und klar im Ausdruck. Sie wird oft belächelt dafür, gerne von Männern. Das ist ihr egal.


Seit 2007 ist Franziska Giffey Mitglied der SPD. Am 31. Oktober will sie sich von den Berliner Sozialdemokraten zur Landesvorsitzenden wählen lassen – in einer Doppelspitze mit Raed Saleh, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im Abgeordnetenhaus. Später dann will sie Regierende Bürgermeisterin in der Hauptstadt werden.
4. September 2020, die SPD Berlin lädt ein zum digitalen Mitgliederforum. 30 Genossinnen und Genossen und eine Handvoll Journalisten verteilen sich in einem riesigen Saal des Willy-Brandt-Hauses. Die Kandidaten für den Landesvorstand stellen sich den Fragen der Parteibasis – wegen der Coronapandemie per Livestream. Auf der Bühne drei Stehtische, eingehüllt in rote Hussen. Franziska Giffey, wie immer akkurat in Kleid und Blazer, ebenfalls rot, wartet, bis sie an der Reihe ist. Aufgeregt?
"Nö, positiv gut gestimmt. Alles gut. Ich meine, schlimmer als eine Regierungsbefragung im Bundestag wird es jetzt auch nicht werden. Sind ja alles Genossinnen und Genossen. Nö, ich freue mich drauf."
Noch-Parteichef und Regierender Bürgermeister Michael Müller eröffnet den Abend. Er hat nicht das Temperament von Franziska Giffey, macht in der Corona-Krise aber eine gute Figur. In gleichförmiger Tonlage zählt er die Erfolge sozialdemokratischer Regierungspolitik auf. Einmal erhebt er die Stimme, als er zum gemeinsamen Kampf aufruft, führende Kraft in der Stadt zu bleiben. Dann tritt er ab, die Parteisprecherin übernimmt.
"Franziska, Raed, bevor wir zu den Mitgliederfragen kommen, erzählt doch zunächst erst einmal etwas über euch. Warum seid Ihr in die Politik gegangen? Franziska, vielleicht fängst du an."

Klare Ansagen, einfache Worte

Und dann erzählt Franziska, wie der soziale Brennpunktbezirk Neukölln sie politisiert hat. Dass sie dafür arbeiten will, dass es jedes Kind packt. Und sie immer wieder die eine Frage beschäftigt: Wie kann Politik so gestaltet werden, dass sie bei den Menschen ankommt, gerade bei den Armen und sozial Schwachen?
"Und dafür ist eben auch sehr wichtig, dass auch die Sozialdemokratie, das ist meine Überzeugung, das wird euch nicht überraschen, dass auch die Sozialdemokratie für Sicherheit und Ordnung steht."
Mit klaren Ansagen wie dieser, vorgetragen mit sanfter Stimme und einem charmanten, manchmal gar verschmitzten Lächeln nutzt sie den Abend, um für sich und ihre Politik zu werben. Aber auch um die traditionell eher linke Berliner SPD in die Mitte zu rücken. Mehrmals betont sie, wie wichtig die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und das Einhalten von Regeln für die Stadtgesellschaft sind. Vorbilder? Na klar, die frühere brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt.
"Sie hat ja mal den schönen Spruch geprägt: ‚Erzählt mir doch nicht, dass es nicht geht, sondern wie es geht‘."
Natürlich hätten ihr die Reaktionen aus dem Publikum gefehlt, sagt Franziska Giffey hinterher. Um spüren zu können, wie ihre Botschaften ankommen. Andererseits habe man durch das digitale Format mehr Parteimitglieder erreicht als üblich. 700 hatten sich in den Livestream eingeloggt. Echte Kontroversen jedoch: Fehlanzeige.
"Fand ich nicht, und wissen Sie, ich bin generell nicht so ein Typ, der ausweicht. Wenn mir einer 'ne Frage stellt, versuche ich, die so gut es geht, zu beantworten und natürlich auch dazu zu stehen, was ich sage. Und vor allen Dingen ist wichtig, dass man nicht überall was anderes sagt. Sondern dass das, wofür man selber die eigene Überzeugung hat, auch in jedem Raum und vor jedem Podium gilt, egal ob digital oder sonst wo, und insofern: Wenn man selber den Kompass hat, dann geht das schon."

Berliner Jusos sind keine Fans

Peter Maaß ist Juso und Teil der neuen Doppelspitze der Berliner Jungsozialisten. Über Franziska Giffey bricht er nicht in Jubelstürme aus. Er findet sie allerdings authentisch.

"Sehr offenes Visier, sagt, was sie denkt, jetzt nicht im naiven Sinne, sondern tatsächlich im überzeugenden Sinne, und wirbt für ihre Position. Die kann man gut und schlecht finden, aber zumindest ist sie eine Person, die geradeaus sagt, wofür sie eintreten will und versucht, dafür auch zu werben."
Der andere Teil der Juso-Doppelspitze ist Sinem Tasan-Funke. "Ich habe jetzt kein Poster von Franziska Giffey über meinem Bett, ehrlich gesagt." Sie ist kein Fan, aber dass eine Frau die SPD wahrscheinlich als Spitzenkandidatin in die nächsten Wahlen führen wird, das gefällt ihr. Gerade nach den unrühmlichen Vorgängen um den Abgang von Andrea Nahles.
"Wie wir unsere erste weibliche Parteivorsitzende beispielsweise behandelt haben, hat auf jeden Fall gezeigt, dass Sexismus in der Politik immer noch allgegenwärtig ist, und da auch ne starke Frau auch nach vorne zu stellen, finde ich auf jeden Fall begrüßenswert, ich weiß, dass das auch für ganz viele jüngere Mädchen, junge Frauen ein Vorbild ist, und dass die SPD Berlin auch endlich mal wegkommt von diesem Altherrenverein, finde ich auch sehr begrüßenswert."


Die beiden Juso-Chefs denken immer kurz nach, bevor sie antworten. Es macht den Eindruck, als würden sie mit sich selbst ringen: hier ihre Grund-Sympathie für die designierte Landesvorsitzende, dort ihre Grundskepsis über manche ihrer politischen Positionen. Sinem Tasan-Funke erwähnt, dass sie mit Franziska Giffey vor geraumer Zeit einen harten Schlagabtausch geführt habe über Sinn und Unsinn von Hartz-IV-Sanktionen.

Und Peter Maaß findet, das Mitgliederforum und darin der Auftritt der kommenden Frau an der Spitze sei ein guter Start in die inhaltliche Debatte gewesen, mehr aber auch nicht.
Zwei junge Menschen stehen vor einer Plakatwand.
Peter Maaß und Sinem Tasan-Funke: "Wir machen ja Wahlkampf für die SPD und nicht für Franziska Giffey."© Deutschlandradio/Wolf-Sören Treusch
"Wir machen ja Wahlkampf für die SPD und nicht für Franziska Giffey. Klar machen wir für Franziska Giffey in der Position wahrscheinlich dann Wahlkampf, als Spitzenkandidatin, trotzdem müssen wir gucken, dass wir ein Gesamtbild von der Stadt zeichnen, und dafür haben wir zwölf Kreisverbände, und die werden ihr Möglichstes tun, auch ihre Perspektiven mit einzubringen."
Und Tasan-Funke erinnert sich mit Schrecken an frühere Zeiten, die noch gar nicht so lange her sind.

"Wenn wir uns zum Beispiel ansehen, wie es damals mit Martin Schulz gelaufen ist, das ist ne Sache, die dieser Jugendverband auch noch sehr traumatisch in Erinnerung hat: Ein riesen Personenhype, und danach verpuffte es ein bisschen, weil auch die Inhalte gefehlt hatten. Die dazu gepasst haben oder die einen klar abgegrenzt haben, und das heißt, für mich, dass ich klar den Auftrag damit verbinde, dass wir sehr klar werden müssen, was wir uns eigentlich für eine Stadt vorstellen."

Sagenhafte 51 Prozent würden für Giffey stimmen

Wenn es nach dem Leitantrag der Jusos geht, dann wollen sie eine "sozialistische Stadtpolitik". 5500 Mitglieder haben die Berliner Jusos, 20.000 der SPD-Landesverband. Die Linke in der Berliner Sozialdemokratie ist traditionell sehr stark. Franziska Giffey will sich nicht einordnen lassen. Rot-rot-grün ist ihr zu ideologisch, sie argumentiert pragmatisch und bürgernah. Die Menschen wollen, dass Berlin funktioniert, sagt sie. Dass die Stadt sicher ist und sie im Dunkeln keine Angst haben müssen.
Laut letzten Umfragen würden 51 Prozent der Berlinerinnen und Berliner ihr die Stimme geben, aber nur 15 Prozent ihrer Partei. Die Schere geht weit auseinander. Sie ist der letzte Strohhalm, den die Sozialdemokraten in Berlin noch haben.
"Das wissen alle. Dass wir nicht mehr so viele Möglichkeiten und Chancen haben. Sondern es geht jetzt darum, dass wir das gemeinsam machen. Für die Stadt. Und da spüre ich in der Berliner SPD eine große Bereitschaft, einen starken Rückenwind, sich hinter dieser Linie auch zu versammeln. Ich hoffe, dass es so bleibt."

Beginn der politischen Karriere in Neukölln

Das Rathaus in Berlin-Neukölln. Ein altehrwürdiges Gebäude, erbaut in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, heute unter Denkmalschutz. Hier beginnt die politische Karriere von Franziska Giffey. Hier erwirbt sie sich den Ruf, der sie heute für viele zur Hoffnungsträgerin macht. Fünf Jahre als Schulstadträtin, dann von 2015 bis 2018 drei Jahre als Bezirksbürgermeisterin, erleben die Menschen, wie volksnah Politik sein kann.
Sie ist ständig draußen, geht auf Streife mit dem Ordnungsdienst, verwarnt Müllsünder höchst persönlich und geht zum Praxischeck ins Ordnungsamt, um zu hören, warum die Schlangen da so lang sind. In den Neuköllner Jahren wird klar: Sie hat und sie ist ein politisches Talent.
Ihr Kontrahent in jener Zeit ist Falko Liecke von der CDU, in der Coronakrise viel gefragter Gesundheitsstadtrat und stellvertretender Bürgermeister von Neukölln. Das war er auch schon, als Heinz Buschkowsky die Amtsgeschäfte führte, der populäre Vorgänger von Franziska Giffey. Mit ihr habe er gut kooperiert, erzählt Falko Liecke, erst als sie 2015 die Nachfolge von Buschkowsky antrat, habe sich ihr Verhältnis abgekühlt.
"Mich stört, ehrlich gesagt, an ihr, dass sie es sehr gut versteht, Themen zu setzen, medial, auf die Titelseiten zu kommen, aber das, was dann hinten bei rauskommt, das Ergebnis, die eigentliche Arbeit, sich hinterzuklemmen, die Themen zu beackern, das ist dann nicht in ihrem Fokus, das müssen dann andere tun, und da habe ich eine andere Auffassung von Politik."

Er nennt als Beispiel: das Gute-KiTa-Gesetz, das Franziska Giffey als Bundesfamilienministerin 2019 auf den Weg gebracht hat. 5,5 Milliarden Euro stellt der Bund bereit, um die KiTa-Qualität in den Ländern zu verbessern.
Ein Mann steht in einem Büro angelehnt an einen Schrank.
Falko Liecke von der CDU war einst Kontrahent von Franziska Giffey im Berliner Bezirk Neukölln.© Deutschlandradio/Wolf-Sören Treusch
"Die Frage ist nur, was das sogenannte Gute-Kita-Gesetz am Ende bringt, im Ergebnis ist es eine Kostenbefreiung der Eltern von den Kitagebühren, und das reicht mir ehrlich gesagt nicht, unser Problem ist nicht die Kostenbeteiligung, unser Problem ist, dass wir zu wenig Plätze haben."
Falko Liecke hat sich vorbereitet auf das Gespräch. Immer wieder huscht sein Blick über den Stichwortzettel, der vor ihm liegt.
"Wir haben jetzt schon kein Geld mehr in diesem Jahr, um über 100 Projekte, die bei uns auf der Warteliste stehen, zu finanzieren. Jetzt kommt vom Bund noch mal Geld, das ist richtig, im nächsten Jahr 48 Millionen Euro, das hilft auch, das eine oder andere Projekt in Neukölln auch zu realisieren, aber das ändert nichts an dem Grundproblem, dass wir zu wenig Erzieher und Erzieherinnen haben und die entsprechenden Platzkapazitäten den Eltern nicht anbieten können. Das wäre eine großartige Aufgabe, und da ist sie aus meiner Sicht nicht wirklich vorangekommen."

Die Doktorarbeit – ein Makel in der Biografie

Am Ende spricht er noch einen Makel in der Biografie von Franziska Giffey an, der tatsächlich das Potenzial hat, ihren politischen Ambitionen im Weg zu stehen: Die Plagiatsaffäre um ihre Doktorarbeit. Klar ist: Franziska Giffey hat an 27 Textstellen objektiv getäuscht. Ebenso klar ist: Die Freie Universität Berlin, bei der sie ihre Dissertation eingereicht hat, hat ihr eine Rüge erteilt, den Doktortitel aber nicht entzogen.
"Halte ich auch für schwierig, dass da so blauäugig hinweggeschaut wird, nach dem Motto: ‚na ja, ist alles gar nicht so schlimm, gibt zwar ne ‚lex spezialis‘ für Doktor Rüge Giffey, aber ansonsten ist alles gut‘, ich finde, im Vergleich zu CDU-Politikern, mit denen wirklich hart ins Gericht gegangen wurde, habe ich den Eindruck, hier wird mit zweierlei Maß gemessen, und das finde ich einfach nicht in Ordnung."
"Wie erklären Sie sich das?"
"Ist ein Phänomen bei ihr, das ist einfach so. Kann ich mir nicht erklären."

Unterstützung von dem Projekt "Stadtteilmütter"

Auf einem Spielplatz im Neuköllner Kiez haben die sogenannten "Stadtteilmütter" einen mobilen Infostand aufgebaut. Drei Luftballons, zwei Klapptische, ein paar Spiele und jede Menge Infomaterial. Die Stadtteilmütter: Das ist ein Projekt, das ganz klein in Berlin-Neukölln.

Ein Frauenprojekt. Alle sind nicht-deutscher Herkunft. Sie haben türkische, arabische oder rumänische Wurzeln. Ihr Erkennungszeichen: ein roter Schal. Ihr Auftrag: anderen Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag zu helfen und die Regeln in Deutschland zu erklären. Das geht nur im persönlichen Kontakt. Man duzt sich. Nuriye beugt sich mit einem Vater über eine Spielekiste.

"Und welche von diesen Spielen hast du mal mit deinem Kind gespielt?"

"Noch gar keine." "Dann wird es Zeit jetzt. Ab heute." "Ja, du hast Recht, vollkommen."
Der kurdische Vater, der perfekt deutsch spricht und sich beraten lässt, ist eher die Ausnahme. Nuriye, Samar und die anderen helfen vor allem muslimischen Müttern und ihren Familien, deren Deutsch schlecht ist und die deshalb den Kontakt zu Behörden oder mit Schule und KiTa meiden.
"Wir suchen auch die Familien selbst auf. Manchmal, wie gesagt, auf den Spielplätzen, in Schulen, Elterncafés, Familienzentren, in Kitas, beim Kinderarzt, beim Frauenarzt, je nachdem. Überall."
"Es sind verschiedene Themen, über die wir mit den Frauen sprechen, und je nach Thema ist es manchmal auch schwierig, die Probleme vor anderen Leuten zu sagen, und wenn man zu zweit ist, ist es leichter."
Meist sind es lebenspraktische Fragen, um die sie sich kümmern: ein Dokument zu übersetzen oder beim Gespräch mit der KiTa-Erzieherin dabei zu sein. Das deutschlandweit erste Stadtteilmütterprojekt startete 2006 in Neukölln. Vorangetrieben, erinnert sich Nuriye, unter anderem von Franziska Giffey, damals Europabeauftragte des Bezirks.

"Sie hat das Projekt von Anfang an unterstützt und ich habe sie auch sehr engagiert, sehr bürgernah erlebt und auch sehr lösungsorientiert. Also wenn man mit etwas gekommen ist, dann hat sie geguckt: Wie kann man das lösen, wie kommen wir weiter, und das ist eine positive Eigenschaft von ihr."

Mehrere Frauen stehen vor einem Tisch in einem Park. Auf dem Tisch liegt Informationsmaterial.
Die Stadtteilmütter von Neukölln. Das Projekt hat inzwischen bundesweite Strahlkraft.© Deutschlandradio/Wolf-Sören Treusch
Mittlerweile gibt es die Stadtteilmütter in weiteren Berliner Bezirken und anderen deutschen Großstädten. Ein halbes Jahr dauert ihre Ausbildung. Sie werden geschult in Themen wie Spracherziehung, Umgang mit Medien, gesunde Ernährung. Bis zu ihrem Wechsel ins Ministerium 2018 unterstützte Franziska Giffey das Projekt, wo sie nur konnte. Samar erinnert sich.
"Frau Giffey hat mir das Zertifikat persönlich ausgehändigt. Ich habe sogar Foto mit ihr."
"Und schon geht ein Lächeln über Ihr Gesicht? Warum?"
"Weil: Sie ist eine sehr liebe, nette Frau. Also ich finde sie sehr sympathisch. Und jung ist sie auch. Sie hat einmal sogar Kiezputz mit uns gemacht. Dass das war für mich: Wow! Eine Bürgermeisterin, die mit uns auch hier im Kiez putzt, das fand ich eigentlich sehr schön von ihr."
70 Stadtteilmütter gibt es allein in Neukölln. Die meisten geringfügig beschäftigt, elf Frauen haben den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Nuriye studiert mittlerweile Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen. Als Stadtteilmutter ist sie Franziska Giffey auf Teamsitzungen und Veranstaltungen viele Jahre lang regelmäßig begegnet.
"Sie ist auch ein Vorbild für mich, weil sie es von der Europabeauftragten, Bezirksbürgermeisterin bis zum Familienministerium geschafft hat, und ich habe sie mir als Vorbild genommen. Ich bin von Stadtteilmüttern, aber ich habe jetzt auch angefangen zu studieren, und irgendwann werde ich, glaube ich, mein Diplom Frau Giffey zeigen und sagen: Danke für die Unterstützung!"

Auch Unternehmer schwärmen

Ende August, Ortstermin in der Berliner Seilfabrik im Bezirk Reinickendorf. Ein mittelständisches Familienunternehmen, das hochwertige Klettergeräte für Kinderspielplätze herstellt. Franziska Giffey ist in ihrer Funktion als Familienministerin hier. Sie weiß aber auch, wie wichtig der Mittelstand für ihre landespolitischen Ambitionen sind. Von den Firmeninhabern, Vater und Sohn Köhler und dessen Ehefrau, lässt sie sich durch die Produktionshallen führen und plaudert mit allen über – Seile.
Neugierig bestaunt sie die riesigen Garnrollen, die bunten Seile und die Spielgeräte, die daraus entstehen: eine Kletterpyramide zum Beispiel. Franziska Giffey ist gerne hier. Termine wie dieser inspirieren sie. Sie sucht den Kontakt zu den Menschen. Bürgernähe, für viele Politiker notwendiges Übel, ist für sie ein Elixier. Auf ihrem Rundgang durch die Berliner Seilfabrik bleibt sie immer wieder stehen und spricht mit den Angestellten.
"Sie machen jeden Tag was Tolles für Kinder. Das ist doch ein schönes Gefühl, oder?" "Ja. Eigentlich schon, ja. Und die Welt ist bunt. Sehen Sie ja."


Am Ende steht sie mit den Firmeninhabern auf dem begrünten Hallendach, unterhält sich mit ihnen über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und darüber, wie schwer das in Zeiten von Corona geworden ist. Ob es zwischen Vater und Sohn ab und zu Kompetenzgerangel gibt, will sie noch wissen, und erwähnt ganz nebenbei, dass ihr Vater und ihr Bruder auch einen gemeinsamen Betrieb hätten – eine Kfz-Werkstatt. Dann muss die Ministerin weiterziehen. Karl und David Köhler sind von ihr angetan.*
Mehrere Personen stehen in einer Werkshalle, und ein Mann erklärt etwas den Zuhörenden.  
David Köhler: "Grundsätzlich kommt sie mir halt sehr authentisch rüber, steht voll hinter dem, was sie macht."© Berliner Seilfabrik
"Ich fand sie grundsätzlich sehr sympathisch, fand sie auch informiert, hat sich anscheinend vorher mal angeguckt, was wir so machen, hatte vorher den Eindruck, gut, jetzt kommt mal wieder ein Politiker, den ziehen wir hier durch, dann ist die Sache erledigt, aber ich fand es einen interessanten …, weil sie eben gute Fragen gestellt hat."
"Grundsätzlich kommt sie mir halt sehr authentisch rüber, steht voll hinter dem, was sie macht, was sie vorantreibt, ich finde, davon bräuchte man mehr Politiker, die zumindest so ne klare Linie verfolgen. Bin sehr positiv überrascht, auf jeden Fall."

Im Shoppingcenter gegen Gewalt gegen Frauen

Keine 24 Stunden später der nächste Ortstermin: eine Shoppingmall in Berlin-Charlottenburg.
"Der Centermanager hat mich schon so schön hier reingeführt, das tolle Haus gezeigt und wir dürfen heute zu Gast sein. Das Bundesfamilienministerium hat eine Initiative gestartet bundesweit für den Kampf gegen Gewalt an Frauen, und wir haben tolle, tolle Partner, das muss ich wirklich sagen. Wir haben heute das allererste Mal ein ganzes Center mit an Bord, und das ist nicht nur eines, das startet, sondern sie stehen heute stellvertretend für 15 Center deutschlandweit, die mitmachen!"
Mitmachen bei der Initiative "Stärker als Gewalt". Auf großen Infoflächen machen die Einkaufszentren auf Beratungsangebote und das Hilfetelefon des Ministeriums aufmerksam, denn, so die Ministerin: Viele Frauen wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Seit Corona sei die Zahl der häuslichen Übergriffe deutlich gestiegen.
"… und das Einkaufszentrum, der Supermarkt ist einfach der Ort, an dem man am niedrigschwelligsten Menschen erreichen kann, sie kommen hier zu ihnen vorbei und sehen im Vorbeigehen, beim Einkaufen die Hilfe."
Und auf Kassenbons und Aufklebern ausgewählter Lebensmittelverpackungen sind die Hinweise ebenfalls zu finden. 26.000 Supermärkte bundesweit beteiligen sich an der Aktion. Franziska Giffey informiert sich bei einer der Filialleiterinnen.
"Und dann kriegen Sie auch mit, dass die Leute das interessiert. Sie sprechen sie direkt an?"

"Wir haben jetzt hier gestanden, da kamen auch ganz viele Kunden, haben nachgefragt: Was ist das? Was bedeutet das? Haben wir natürlich auch die Erklärung dazu gegeben."

"Und was sagen Sie dann den Kunden?"

"Na, dass es zu Hause auch mal nicht so schön sein kann, und dass es da halt Hilfe gibt, dass man sich wirklich trauen kann anzurufen, sich Hilfestellung holen kann und dass es auch alles anonym ist."
Eine knappe Stunde ist die Bundesministerin in der Shoppingmall unterwegs. Nimmt sich Zeit für die Gespräche mit denjenigen, die dabei helfen, ihre Botschaften zu verbreiten. Sie will aufklären, erklären. Und sie brennt darauf zu gestalten. Sie will zeigen, dass Politik, gerade Familien- und Frauenpolitik, kein Bündel theoretischer Maßnahmen ist, sondern praktische Wirkung entfaltet.

"Wissen Sie, ich wollte eigentlich mal Lehrerin werden, jetzt bin ich ja Politikerin geworden, und ich finde, die beiden Berufe haben echt viel miteinander zu tun."

Politik muss verständlich sein

Sechs Wochen habe ich Franziska Giffey als Reporter bei ihrer Arbeit begleitet. Am Ende treffen wir uns zu einem Interview auf der Bühne des Delphi-Filmtheaters in Berlin.
"Denn es geht eigentlich die ganze Zeit darum, in dem Wust an Informationen, dem wir ja alle jeden Tag ausgesetzt sind, einen Weg zu finden, etwas, das richtig ist, das auch für Menschen da ist, ihnen helfen soll, ihr Leben zu meistern, so zu kommunizieren, dass sie tatsächlich erkennen, ‚hey, ich bin gemeint, das ist für mich gedacht, ich verstehe, worum es da geht, und ich weiß auch, wie ich das bekommen kann‘. Und deswegen hat das ganz viel mit Erklären zu tun. Und nur dann macht man auch gute Politik, wenn man sie so macht, dass Menschen sie verstehen können."
Im Filmtheater hat sie gerade die Miniserie "Ehrenpflegas" vorgestellt, produziert von den Machern von "Fuck ju Göthe". 700.000 Euro hat das Ministerium dafür ausgegeben. Auf unkonventionelle Art und Weise werden in den Filmen junge Menschen für den Pflegeberuf begeistert. Franziska Giffey findet die Machart gut.
"Mich beschäftigt diese Frage wirklich seit Jahren. Ja, wie kann man es so machen, dass Menschen besser verstehen können? Deshalb heißt ja auch das Gute-Kita-Gesetz Gute-Kita-Gesetz und nicht, wie es ursprünglich heißen sollte Kita-Qualitäts-Entwicklungs-Finanzierungsgesetz. Wenn die Leute nicht verstehen können, können sie es nicht behalten, und dann können sie es auch nicht gut finden. Dann können sie es auch nicht nutzen. Und dann hat Politik ein Problem, weil dann Menschen der Meinung sind, ‚das ist ja gar nicht für mich hier alles. Hilft mir ja gar nicht, Politik macht ja nichts für mich‘."


Ich konfrontiere sie mit der Kritik ihres ehemaligen Neuköllner Bezirksamtskollegen Falko Liecke, ihr Gute-KiTa-Gesetz habe viel zu wenig neue KiTa-Plätze gebracht.
Vier Personen stehen mit Mundschutz vor einer Plakatwand. Zwei Menschen halten ein Schild, auf dem steht "Ausbildungsoffensive Pflege".
Franziska Giffey mit den Hauptdarstellerinnen und dem Hauptdarsteller der Webserie "Ehrenpflegas".© Deutschlandradio/Wolf-Sören Treusch
"Hallo! Der Bund gibt Milliarden von Mitteln zusätzlich aus, es ist Aufgabe der Länder und Kommunen, und die sagen nicht: ‚Danke schön, wir sehen mal zu, dass wir das zügig umgesetzt kriegen‘. Die aktuelle Milliarde aus dem Kita-Investitionsprogramm, da gehen 48 Millionen allein nach Berlin – vielleicht hat Herr Liecke das noch nicht mitbekommen, dass die Kitaplatzschaffung und der Betrieb von Kitaplätzen Ländersache und kommunale Aufgabe ist. Und ja: Der Bedarf ist gestiegen. Ja: Es wird ermittelt, es fehlen noch 300.000 Plätze, aber es ist auch über eine halbe Million allein vom Bund geschaffen worden."

Keine Antwort auf die letzte Frage

Schließlich frage ich sie, was passiere, wenn ihr der Doktortitel doch noch aberkannt würde. Vor einem Jahr in der ARD hatte sie für diesen Fall ihren Rücktritt angekündigt. Immerhin lässt die Universität zurzeit prüfen, ob die Rüge, die sie Franziska Giffey wegen des Plagiats erteilt hat, rechtskonform ist und damit ausreicht.
"Für mich ist das Thema mit dem Abschluss des Verfahrens abgeschlossen, es gibt gar keinen neuen Sachstand, und wenn jetzt noch mal von anderer Seite versucht wird, zu prüfen, dann ist das Sache der Universität. Und alles Weitere ist nicht in meiner Hand." Ich hake nach: "Also das heißt, diese …"
In diesem Moment werden wir unterbrochen. Die Pressereferentin: "Herr Treusch, ich störe nur ungern, unsere Zeit nähert sich dem Ende."
Es stimmt – die vereinbarten 15 Minuten sind tatsächlich in diesem Moment abgelaufen. Eine Minute länger, und ich hätte vielleicht erfahren, ob die Sache mit der Doktorarbeit ihre Kandidatur als Regierende Bürgermeisterin in Berlin gefährden könnte. Ob Franziska Giffey darauf eine Antwort gehabt hätte, erfahre ich nun nicht mehr.
Egal wie die Universität entscheidet: Franziska Giffey wird es wohl verkraften. Sie ist längst im Wahlkampfmodus. Im Neuköllner Ortsteil Rudow will sie das Direktmandat gewinnen, dann Regierende Bürgermeisterin in Berlin werden, später vielleicht auch wieder Bundespolitik machen. Es gibt da dieses Foto mit ihr und Angela Merkel im Bundeskanzleramt. Giffey mit gefalteten Händen, Merkel mit Merkelraute. Zwei Frauen, die lächeln. Zwei Frauen, mit denen die Männer nicht rechnen.

*) Wir haben die in der ersten Version geäußerte Spekulation über die politische Ausrichtung der Gesprächspartner gelöscht
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