Kinderbetreuung in Berlin

Kitaplatz verzweifelt gesucht

In Berlin demonstrieren Eltern und Erzieher für mehr Plätze in den Kitas und eine bessere Bezahlung der Erzieher.
In Berlin demonstrieren Eltern und Erzieher für mehr Plätze in den Kitas und eine bessere Bezahlung der Erzieher. © dpa / Carsten Koall
Von Anja Nehls · 01.08.2018
Kein Kitaplatz trotz Rechtsanspruch - in Berlin ist das für viele Familien traurige Realität. Insgesamt fehlen 10.000 Plätze. Die Gründe: Fachkräftemangel und eine besonders hohe Nachfrage. Wie wollen Senat und Bundesregierung das Problem lösen?
"Ja, Mehl, Eier, Zucker. Und dann steckt man es in den Ofen und dann sticht man so in den Teig - und dann kann man sie noch schmücken, mit Streusel."
Die Füchse-Gruppe der Kita ZAK im Berliner Südwesten backt Muffins. Die "Wilde 13" tobt im großen Garten und die Mäusekater-Gruppe bastelt Schultüten. Die Kita ist voll belegt, aber Kitaleiterin Evelin Giese kann sich vor weiteren Nachfragen kaum retten. In diesem und nächsten Jahr geht hier gar nichts:
"Ich habe die Warteliste 19, 19, so krachend voll, also, ich bin bei Wartelistenplatz 40 für einen Krippenplatz und bei Warteliste 35 für einen Kitaplatz. Und davon hat im Grunde keiner eine Chance, weil meine Belegung schon voll ist."

10.000 Kitaplätze fehlen

Kein Einzelfall in Berlin. Über zehntausend Kinder warten in Berlin auf einen Kitaplatz. Das ergibt sich aus einer Studie von Bertelsmann aus dem vergangenen Jahr. Dabei haben seit dem 1. August 2013 auch Kinder unter drei Jahren darauf einen Rechtsanspruch. Einen Rechtsanspruch für Kinder über drei gibt es schon seit 1996.
"Ich finde das ganz in Ordnung, auf jeden Fall. Weil jedem ja die Möglichkeit gegeben werden muss, seine Arbeit weiterzumachen, ist ja auch im Interesse der Sache für den Staat und für den Senat und für alle, ich finde das gut, auf jeden Fall. Wir sind beide berufstätig, beide 40- Stunden-Woche, das geht ohne gar nicht", sagt ein junger Vater.
Zwei Kinder stehen am Fenster einer Kita und gucken anderen Kindern draußen beim Spielen zun
Zwei Kinder stehen am Fenster einer Kita und gucken anderen Kindern draußen beim Spielen zun© dpa / picture alliance / Jens Wolf
Christine Kroke hat keinen Kitaplatz bekommen. In einer Altbauwohnung in Berlin-Friedrichshain schläft Söhnchen Carl, zehn Monate alt, auf einer Krabbeldecke. Mit der Suche nach einem Kitaplatz für ihn hat Christine Kroke bereits während der Schwangerschaft begonnen.

Mehr als 100 Bewerbungen - ohne Erfolg

Eigentlich wollten sie und ihr Mann nach Carls Geburt beide wieder Vollzeit arbeiten, aber daraus wurde zunächst nichts, obwohl sie sich bei mehr als 100 Kitas in der näheren und weiteren Umgebung beworben hatten. Ihr neuer Vollzeitjob bestand also zunächst aus Kitaplatzsuche rund um die Uhr:
"Indem es wirklich Anrufe waren, Mails schreiben, Excel-Tabellen aktualisieren, dann ist es ja so, dass man sich bei Kitas in regelmäßigen Abständen wieder melden muss. Das heißt. du musst dich dann auch daran erinnern, aha, Kita X möchte jetzt im April, Mai, Juni, die dritte Rückmeldung haben. Und so hat man dann quasi einen Tag von 16 Stunden zu einem neugeborenen Baby und dabei ist bisher noch nichts rumgekommen."

Firmen kaufen Kitaplatz-Kontingente auf

Kein Kitaplatz trotz Rechtsanspruch. Christine Kroke hat für Carl inzwischen eine Tagesmutter gefunden, aber auch die werden überrannt. Einfacher bei der Suche nach dem Kitaplatz haben es Eltern, wenn ihr Arbeitgeber einen Betriebskindergarten hat, was selten der Fall ist. Unternehmen wie etwa Zalando oder Daimler Benz haben mit bestimmten Kitas Kooperationen abgeschlossen. Ein festes Kontingent der Plätze wird dann vorrangig an Mitarbeiterkinder dieser Unternehmen vergeben, ärgert sich Christine Kroke:
"Die kaufen jetzt hier die Kitaplätze auf und da meistens für ihr gut verdienendes Führungspersonal, also für Leute, die sowieso schon in einer guten Position sind, aber was macht eine Krankenschwester, eine Zahnarzthelferin?"
Kinderladen Friedenau
Der Kinderladen Friedenau muss umziehen.© Deutschlandradio - Susanne Arlt
Das Verfahren sei aber rechtens, weil die Kinder sowieso einen Anspruch auf einen Kitaplatz hätten, heißt es aus der Berliner Verwaltung. Die Kitas verteidigen die Kooperationen, weil sie ohne die zusätzlichen Einnahmen die in Berlin exorbitant gestiegenen Mieten und Immobilienpreise für ihre Einrichtungen nicht mehr tragen könnten. Damit haben auch Tagesmütter oder kleine Einrichtungen zu kämpfen. Viele selbst verwaltete Kinder- und Schülerläden mussten in letzter Zeit deswegen schließen.

Kostenerstattung für private Kinderbetreuung

Den Eltern, die sich eine private Betreuung für ihr Kind organisieren, erstattet das Land Berlin inzwischen die Kosten, um den Rechtsanspruch zu gewährleisten. Nach Angaben des Berliner Verwaltungsgerichts sind derzeit ca. 40 Eil- und Klageverfahren von verzweifelten Eltern anhängig, die keinen Kitaplatz bekommen haben. Obwohl das Berliner Gericht erst kürzlich entschieden hat, dass ein Kitaplatz in der Nähe zugewiesen werden muss, wäre eine Klage für Christine Kroke nur eine Notlösung:
"Weil es zur Folge haben wird, dass die Kitas überlastet sind, das heißt, da werden jetzt noch mehr Kinder auf die gleichen Erzieher gesteckt, die Quote ist dementsprechend schlecht."
Nach der Studie der Bertelsmann-Stiftung ist der Personalschlüssel in den Berliner Krippen bereits deutlich schlechter als im Bundesdurschnitt. Hier muss ein Erzieher im Schnitt sechs Kinder unter drei Jahren betreuen, im Bundesdurchschnitt etwas über vier. Davon ist Berlin zur Zeit weit entfernt. Dennoch müssen Kinder untergebracht werden, notfalls auf Kosten der Qualität, sagt Sigrid Klebba, Staatsekretärin im SPD-geführten Jugend und Bildungsressort der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung:
"Aber wir haben diese Auflage durch das Gericht bekommen, dass der Rechtsanspruch hoch und höher zu bewerten ist, als die Frage, wie ist die Ausstattung."

Jedes zweite Kind unter drei Jahren besucht eine Kita

Das Angebot kann mit der steigenden Nachfrage in Berlin nicht mithalten. Gründe für die Nachfrage sind die wachsende Zahl der Zuzügler, die steigende Geburtenrate und das kostenlose Angebot. Ab August dieses Jahres ist der Kitabesuch in Berlin für Kinder jeden Alters komplett kostenfrei.
"Wir lieben unsere Erzieher" steht auf dem Plakat einer Demonstrantin vor dem Brandenburger Tor in Berlin
Demo für mehr Einsatz gegen die Kita-Krise in Berlin vor dem Brandenburger Tor© Imago
Während im Bundesdurchschnitt jedes dritte Kind unter drei Jahren eine Kita besucht, ist es in Berlin jedes zweite. Tendenz steigend. Für Kinder mit Sprachdefiziten ist der Kitabesuch hier sogar verpflichtend – aber genügend Plätze können nicht zur Verfügung gestellt werden.
Bis 2020 will der Senat die Zahl der Kita-Plätze um etwa 20.000 erhöhen – viele der Plätze wären allerdings auch jetzt bereits vorhanden – jedenfalls theoretisch.

Bis 2020 werden 5000 Erzieher gebraucht

In der Kita ZAK tanzen die Kinder, eine Erzieherin bedient den CD-Spieler und eine andere ist mit schriftlicher Dokumentation beschäftigt. Wenn es mehr Erzieher geben würde, könnte man auch mehr Kinder aufnehmen, sagt Claudia Mühlmann vom Träger Tandem, der außer der Kita ZAK noch zwei weitere Kitas betreibt:
"Wir haben das Problem, dass wir zum Teil auch vorhandene Plätze nicht belegen können, weil uns einfach die Fachkräfte fehlen. Also z.B. in unserer größten Kita ist es so, dass wir derzeit ungefähr 50 Plätze nicht belegt haben."
In ganz Berlin sind über 3000 Kitaplätze nicht belegt, weil Erzieher fehlen. Bis 2020 müssten in Berlin gut 5000 Erzieher neu eigenstellt werden, um den Bedarf zu decken und den Rechtsanspruch umsetzen zu können, sagt die Senatsbildungsverwaltung.

Quereinsteiger können den Bedarf nicht decken

Zurzeit versucht Berlin das Problem mit Quereinsteigern in den Griff zu bekommen. Diese werden im Personalschlüssel als vollwertige Kräfte berechnet und eingeplant, müssen aber an mehreren Tagen in der Woche zu Fortbildungen. Wie sie so in der Kita ZAK den Wunsch der Eltern nach frühkindlicher Bildung und Qualität umsetzen soll, ist Kitaleiterin Evelin Giese unklar:
"Wir haben eine totale Überbelegung an Kindern, ohne Fachkräfte. Wir haben aktuell eine Stelle mit 35 Stunden nicht besetzt, wir haben Dauererkrankungen und wir haben vor allem das riesige Problem des Quereinstiegs, diese Menschen sind sehr selten da und das schrottet unseren Einsatzplan."
Giffey sitzt auf ihrem Stuhl und hört lächelnd Merkel zu, die sich zu ihr vorbeugt und redet. Merkel ist unscharf im Vordergrund zu sehen.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey will die Kitasituation mit 3,5 Mrd. Euro und einer Fachkräfteoffensive verbessern.© Kay Nietfeld / dpa
Gebraucht werden dringend mehr Erzieher. Aber der Beruf gilt als unattraktiv. 2600 Euro Brutto verdient eine ErzieherIn als Einstiegsgehalt. Für die Ausbildung muss bei den meisten freien und privaten Schulträgern sogar bezahlt werden, kostenfrei sind nur die staatlichen Erzieherschulen.

Fachkräfteoffensive plus 3,5 Milliarden Euro

Damit sich die Situation fünf Jahre nach Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz nun endlich bessert, will die neue Bundesfamilienministerin und ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) jetzt die Länder mit 3,5 Milliarden Euro aus dem Gute-Kita-Gesetz unterstützen. Begleitet werden soll das Ganze durch eine Fachkräfteoffensive:
"Und das bedeutet, wir müssen in Ausbildung investieren. Es geht nicht, dass an einigen Stellen in Deutschland sich Erzieherinnen und Erzieher fragen: Kann ich es mir leisten, diesen Beruf zu ergreifen? Junge Leute, die noch Geld mitbringen müssen... Das heißt, ein erster Schritt ist die Befreiung von den Schulgeldern und eine anständige Ausbildungsvergütung. Es geht um das Anwerben von Erzieherinnen und Erziehern und es geht um eine bessere Bezahlung."

Berlin bezahlt seine Erzieher schlecht

Besonders in Berlin. Hier wird nämlich noch dazu nach dem niedrigeren Tarifvertrag für Beschäftige der Länder und nicht nach dem besseren Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes bezahlt. Viele Erzieher arbeiten deshalb lieber im benachbarten Brandenburg. Künftig sollen auch die Berliner Erzieherinnen mehr verdienen, verspricht die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres SPD:
Es geht darum, die Lücke zwischen TVÖD und TdL zu schließen. Und das ist auch der Wunsch der Koalition, da steht im Koalitionsvertrag. Ich finde wir müssen auch auf Bundesebene darüber reden, dass es auch um eine andere tarifliche Eingruppierung geht. Und da wird sich das Land Berlin stark machen.
Ein Teil des Geldes aus dem Berliner Anteil des 3,5-Milliarden-Pakets soll außerdem für Ausbildungsstipendien verwendet werden. Um den Erziehermangel in den Griff zu bekommen, will Sandra Scheeres jetzt noch mehr als bisher auf die Ausbildung von Quereinsteigern setzen und bereits Schulabgänger mit mittlerem Schulabschluss für eine Ausbildung zulassen. Bisher waren mindestens Fachabitur oder Berufserfahrung nötig.
Es soll eine Prämie geben, um Träger zu animieren, mehr Plätze zur Verfügung zu stellen, durch ein Schnellbauprogramm mit modularen Bauten aus Holz sollen in kurzer Zeit zusätzliche Kapazitäten geschaffen werden und eine Werbekampagne mit Sprüchen wie: "Du hast unseren Kindern gerade noch gefehlt" soll für mehr Erzieher sorgen.

1000 Euro Prämie für einen Kitaplatz

Bis diese Maßnahmen greifen, müssen sich die Eltern etwas einfallen lassen, um irgendwie doch einen Kitaplatz zu ergattern. Geradezu absurd sei das manchmal, erzählt diese junge Mutter:
"Alle suchen und sind ein bisschen verzweifelt, und diejenigen, die einen gefunden haben haben, dann vielleicht einen Kuchen gebacken oder haben die Bereitschaft signalisiert in den Förderkreis eizusteigen. Also, so verzweifelt sind wir Eltern jetzt schon. Wenn man bei Ebay Kleinanzeigen guckt, ich habe gesehen: 1000 Euro Prämie, wenn jemand einen Kitaplatz findet für eine Familie. Es gibt Agenturen, die damit jetzt Profit machen, 300 Euro Vermittlungsgebühr. Und das macht mich auch wütend, dass jetzt noch Leute da sind, die Kapital aus dieser Situation schlagen wollen."
Das Recht auf einen Kitaplatz zu haben und ihn auch tatsächlich zu bekommen, sind also zwei verschiedene Dinge – auch noch fünf Jahre, nachdem der Rechtsanspruch darauf in Deutschland eingeführt wurde.
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