Spanien

Von den eigenen Leuten im Stich gelassen

Der spanische Staatschef General Francisco Franco begrüßt am 29.10.1969 den deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) zu einem Meinungsaustausch im El Pardo Palast bei Madrid.
Der spanische Staatschef General Francisco Franco begrüßt 1969 in Madrid den deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. © picture alliance / dpa / Foto: Europa Press
Von Martin Hyun · 18.04.2014
Mit 18 glaubt Stuart Christie noch an die Demokratie in Spanien. Der Jungsozialist erlebt, wie Demonstranten zusammengeschlagen werden, er selbst kommt ins Gefängnis. Seine spätere Freiheit genießt er mit Joints und Sex, bis er sich seiner alten Genossen erinnert und wieder aktiv wird.
Im Jahr 1964 macht sich ein 18 Jahre alter Junge aus Schottland namens Stuart Christie auf den Weg nach Spanien. Mit Plastiksprengstoff, per Klebeband an seinem Körper befestigt, will er dabei helfen, den spanischen Diktator Franco zu töten.
Christie lebte bis zu seinem siebten Lebensjahr im Glasgower Arbeiterviertel Partick. Einem Ort, der ihm Loyalitäten und Identität vermittelte. Die Mutter, eine Friseurin. Der Vater, ein Seefahrer, der die Familie früh verließ. Weil die finanzielle Not groß war, wächst Christie bei seinen Großeltern auf, während die Mutter eine neue Familie gründet.
"Ich fühlte mich nicht verlassen und nahm ihr nichts übel – Kinder nehmen solche Dinge hin, vor allem dann, wenn sie doch nichts ändern können." (Seite 32)
Ein mündiger politischer Bürger
In die Rolle des Vaters schlüpft Oma Agnes, die ihn maßgeblich prägt. Er schätzt ihre "Unabhängigkeit im Denken", ihren Einsatz für die Schwachen der Gesellschaft und lernt von ihr für seine Überzeugung einzutreten. Rückblickend, sieht er sich bereits mit 14 Jahren als einen mündigen politischen Bürger.
"In einem Alter, in dem Kinder nach Gemeinschaft suchen, bot Shakespeare für mich keine; Robert Burns dagegen wohl. […] Burns, dessen Gedichte wir im Englischunterricht lasen und diskutierten und dessen Lieder wir im Musikunterricht sangen, war ein Dichter und Liedermacher, der in uns wirklich Liebe zu Individualismus, Gleichheit und vor allem Freiheit von Unterdrückung erweckte." (Seite 39)
Er ist entsetzt über das Massaker von Sharpeville in Südafrika, bei dem 69 Menschen ums Leben kamen, und beeindruckt vom liberalen Denken des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Dadurch wird er angeregt, politisch aktiv zu werden. Er tritt den jungen Sozialisten bei und erlebt, mit welcher Härte das Establishment auf Demonstrationen von Kernkraftgegnern reagiert.
Cover des Buches "Meine Oma, General Franco und ich" von Stuart Christie
Cover des Buches "Meine Oma, General Franco und ich" von Stuart Christie© Edition Nautilus
"Obwohl ich so viel gelesen und nachgedacht und geredet hatte, schockierte es mich doch, dass eine angebliche Demokratie so brutal gegen ihre eigenen Bürger vorging, wenn die sich in friedlichem Protest engagierten." (Seite 68)
Schnell lernt er das Spiel der Politik kennen:
"Ich hatte immer mehr den Eindruck, dass Parteipolitiker und Apparatschiks eine Antwort auf alles, aber eine Lösung für gar nichts hatten. Nicht, dass Politiker unbedingt eingefleischte Lügner sein mussten, aber Lügen, Vertuschen, Abschwächen, Opportunismus und sparsamer Umgang mit der Wahrheit waren unabdingbar, um im System aufzusteigen." (Seite 76)
Aber auch in den eigenen Reihen unter müde gewordenen Anarchisten, wittert er Verrat:
"Mir fiel auf, dass die alten Anarchisten, die den Glasgower Gewerkschaftsrat besuchten, niemals Ämter anstrebten oder auf irgendeine Weise zu dominieren versuchten. […] In Wirklichkeit war das aber ein weiteres politisches Trugbild […]
Die Gewerkschaften hatten ihre Verpflichtung und Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus aufgegeben und zogen es nun vor, im Rahmen des Kapitalismus zu arbeiten, weshalb sie durch Adelstitel und Pfründe in die herrschenden Gruppen aufgenommen wurden." (Seite 79)
Schon bald weiß er, dass er nicht gemeinsam mit den Wölfen heulen möchte. Doch die sozialen Missstände im eigenen Land beschäftigen ihn damals weniger. Der spanische Diktator Franco wird ihm vielmehr zum Feindbild.
"Es wäre mir heuchlerisch vorgekommen, den einfachen Ausweg der Demonstrationen, Mahnwachen und Flugblätter zu gehen, statt zu versuchen, dem Schrecken des Franquismus ein für alle Mal ein Ende zu setzen." (Seite 103)
Im Fernsehen verplappert
Durch ein Fernsehinterview bringt er sich in große Bedrängnis. Als der Moderator ihn fragte, ob er Franco ermorden würde, wenn er die Chance dazu bekäme, bejaht Christie die Frage ohne Zögern. Ein Nein wollte er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren.
Daraufhin wird der 18-jährige Schotte in Madrid festgenommen. Stundenlange Verhöre stehen ihm bevor. Er fühlt sich allein und von seinen eigenen Leuten im Stich gelassen. Schließlich wird er zum Kollaborateur der spanischen Polizei und liefert einen Komplizen ans Messer. Mit "moralischer, psychischer und intellektueller Feigheit", so schreibt er, habe er Werte verraten, die ihm heilig gewesen waren. Anders als sein spanischer Mitstreiter wird er in Haft wie ein VIP behandelt.
"Meine Festnahme kam zu einem Zeitpunkt, als Spanien sich in riesigem Maßstab in den Goldrausch des internationalen Pauschaltourismus stürzen wollte. Wäre ich zum Tode verurteilt worden, dann wäre möglicherweise auch die Aussicht auf die großen Geschäfte im Tourismus einen frühen Tod gestorben." (Seite 191)
Während sein Komplize die 30-jährige Haft absitzen muss, wird Stuart Christie nach dreieinhalb Jahren begnadigt. Seine Freiheit genießt er mit Joints und Sex, bis sich Langeweile einstellt und er sich alter Genossen erinnert.
Mit einem Freund gründet er das Magazin "Black Flag" und baut die "Anarchist Black Cross" auf, ein Netzwerk, dass inhaftierte Anarchisten unterstützt. Es dauert nicht lange, da er steht er wieder vor Gericht, diesmal gemeinsam mit der britischen Stadtguerillagruppe "Angry Brigade" wegen eines Bombenanschlages. Und wieder kommt er frei, denn er kann seine Unschuld beweisen.
Heute, älter geworden, ist er froh, dass er niemandes Leben auf dem Gewissen hat, nicht einmal das des spanischen Diktators Franco.

Stuart Christie: Meine Oma, General Franco und ich
Autobiographie
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Edition Nautilus Hamburg, Februar 2014
416 Seiten, 24,90 Euro, auch als ebook

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