The Network Effect

Was digitale Netzwerke mit uns anstellen

Auf dem Display eines Smartphones sind die App-Logos verschiedener Social Media Plattformen zu sehen Derweil der Anbieter Facebook seit einiger Zeit Nutzer verliert, werden Dienste wie Snapchat, Tumblr, Twitter und Vine immer beliebter.
Was passiert mit uns, wenn wir uns lange im Netz bewegen? © picture alliance / dpa / Jens Büttner
Von Christoph Reimann · 21.10.2015
Netzwerke wie YouTube, Facebook oder Twitter überfluten uns mit Bildern, Zahlen und Informationen. Was das mit uns anstellt, wollten die beiden Künstler und Programmierer Jonathan Harris und Gregor Hochmuth untersuchen und kreierten die Website "The Network Effect".
Zuerst sticht mir diese lange Aneinanderreihung von Verben ins Auge. Oben, am Rand des Bildschirms. Verben, wie hug, kiss, paint oder cry, also menschliche Verhaltensweisen. Wenn ich drauf klicke, dann sehe ich sofort Videos, kurze Clips in schneller Folge, von Menschen, die sich umarmen, sich küssen, etwas malen oder eben weinen.
Die Bilder sind häufig intim, gleichzeitig banal. Ich fühle mich wie ein Voyeur, der schnelle Wechsel strengt mich an. Dazu diese Stimmenkakophonie, in der es auch immer ums Weinen geht. Unten links am Bildschirmrand zeigt mir eine Prozentzahl, ob das Wort eher männlich oder weiblich besetzt ist. Eine Tabelle daneben, wie häufig das Verb "weinen" in einer Zeitspanne von 100 Jahren verwendet wurde.
Außerdem gibt es aktuelle News-Meldungen, in denen es ums Weinen geht, und dann noch eine Zahl: 69.295.742. So viele Menschen auf der Welt weinen gerade, sagt mir die Seite The Network Effect.
Ich kann die Prozentzahlen anklicken, genauso die Tabellen und alle weiteren Daten – und erhalte … nur noch mehr Informationen. Wahrscheinlich hätte ich mich noch stundenlang durch die Seite klicken können, aber …
Die Website schmeißt einen raus
Nach rund acht Minuten ist Schluss. Für 24 Stunden werde ich mit meiner IP-Adresse von der Website ausgesperrt. Die Bilderflut, die Tabellen und die die vielen Auswahlmöglichkeiten – irgendwie bin ich nach meinem Besuch auf The Network Effect ratlos.
Gregor Hochmuth: "Wenn du dich überwältigt fühlst, berauscht und eigentlich noch länger auf der Seite bleiben willst, dann hast du schon etwas von dem erlebt, was wir intendiert haben."
Das sagt Gregor Hochmuth, und erklärt weiter, dass es vor allem um den Moment der Verwirrung gehe. Zusammen mit seinem Freund Jonathan Harris hat der 31-Jährige "The Network Effect" entwickelt. Entstanden ist ein gewaltiges digitales Kunstwerk zum Ausprobieren – mit kritischem Anliegen.
Hochmuth: "Wir glauben, dass unsere Erfahrungen im Internet oft widersprüchlich sind. Es ist zwar spannend, im Netz zu sein, aber am Ende haben wir oft wenig davon. Manchmal ist das Gefühl letztlich sogar negativ: befremdlich, geradezu dystopisch. Das Ende eines Films gibt einem die Möglichkeit, noch mal über das Gesehene nachzudenken und seine Gefühle zu ordnen. Im Internet erleben wir diesen Moment selten oder gar nicht."
Deshalb wird man also nach ein paar Minuten von der Website ausgeschlossen: zum Nachdenken. Sechs Monate haben Hochmuth und Harris am Network Effect gearbeitet. Die meiste Zeit ging fürs Sammeln der Daten drauf. Bedient haben sie sich bei Opensource-Software und frei zugänglichen Informationen:
"Am meisten haben die Amazon Mechanical Turks beigetragen – ein Dienst von Amazon, bei dem man Menschen dafür bezahlt, dass sie kleinere Aufträge erledigen, die eine Maschine nicht erfüllen kann. Wir haben die Leute zum Bespiel damit beauftragt, YouTube-Videos zu suchen, in denen Menschen niesen, schlafen oder küssen. Am Ende hatten wir 18.000 zweisekündige Clips, 10.000 sind davon auf der Seite gelandet – also etwa 100 Videos pro Verhalten, das du anwählen kannst."
Absurder Umgang mit Daten
Der Begriff Netzwerkeffekt ist rund 100 Jahre alt. Die Kernaussage: Der Nutzen eines Produktes ändert sich in Abhängigkeit von der Anzahl seiner Benutzer. Ein Beispiel wäre das Telefon: Als Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr Haushalte ans Telefonnetz angeschlossen waren, änderten sich auch das Kommunikationsverhalten. In den sozialen Netzwerken erleben wir das quasi im Zeitraffer. Die Datenberge wachsen so rasant, dass unser Umgang mit ihnen geradezu absurd wird, findet Gregor Hochmuth:
"Überall werden diese großen Ansammlungen von Daten glorifiziert. Aber: Sagen diese Daten wirklich etwas über uns Menschen aus? Es heißt immer, Daten erzählten die Wahrheit. Aber kann man über Daten erlebbar machen, was ein Kuss ist, was eine Umarmung eigentlich bedeutet?"
Die Antwort, die der Network Effect liefert, lautet: nein. Dabei ist Gregor Hochmuth längst kein Gegner von sozialen Netzwerken. Immerhin hat der gebürtige Deutsche, der seit seiner frühen Jugend in den USA lebt, selbst eines der größten Netzwerke mitentwickelt: Instagram. Als Facebook das Unternehmen vor drei Jahren aufkaufte, wurde Hochmuth zum Multimillionär.
Den Entwicklergeist hat Hochmuth immer noch, aber im Moment macht es ihm vor allem Spaß, über die Welten, die er da mitgeprägt, hat nachzudenken. Zum Beispiel mit der Seite The Network Effect.

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