Die Macht sozialer Netzwerke

13.04.2010
Nicholas Christakis und James Fowler zeigen in ihrem Buch "Connected!", dass soziale Netzwerke mehr sind als die Summe ihrer Mitglieder und deren Einzelkontakte. Sie rufen oft Wirkungen hervor, die über die Absichten und Ziele der beteiligten Individuen hinausgehen.
Wenn man von einem Sachbuch sagt, es sei interessant, ist das Lob und Warnung zugleich. Lob, weil das Buch nicht langweilig ist, Warnung, weil sein Hauptmerkmal bloß dieses ist: für Kurzweil zu sorgen. "Connected!" ist in diesem Sinne ein hoch interessantes Buch.

Nicholas Christakis und James Fowler zeigen, dass soziale Netzwerke mehr sind als die Summe ihrer Mitglieder und deren Einzelkontakte, dass sie eigene Formen von (Netzwerk-)Intelligenz ausbilden und dabei Wirkungen hervorrufen, die über die Absichten und Ziele der beteiligten Individuen hinausgehen.

Klassisches Beispiel ist der Ameisenbau, der trotz beschränkter neuronaler Kapazität der einzelnen Ameise entsteht. Unter Menschen ist die Kette – beim Umzug oder beim Löschen per Eimer – die einfachste Netz-Struktur, die informationell verknüpfte Weltgesellschaft wohl die komplexeste.

Für soziale Netzwerk im Alltag gilt nach Christakis und Fowler das "Gesetz der drei Schritte": Was wir tun, beeinflusst unsere Freunde, die Freunde unserer Freunde und immerhin noch die Freunde der Freunde unserer Freunde – und sie beeinflussen uns. Alle weitere Wirkung unterliegt dem "immanenten Zerfall". In der Binnenstruktur können sich besondere Regeln und moralische/unmoralische Verhaltensweisen entfalten.

Dass Glück in solchen Strukturen ansteckend wirkt, Leid übrigens auch, erklären die Autoren damit, dass Emotionen bzw. Emotionsausdrücke alte Kommunikationsmittel sind, älter und unpräziser als die Sprache, aber schneller. "Lachen Sie, und die Welt lacht mit" heißt das entsprechende Kapitel und berichtet eingangs von einer veritablen Lach-Epidemie in Tansania – wo das Lachen allerdings pathologisch war und bekämpft wurde.

Die analytisch-abstrakte Durchdringung der einzelnen Netzwerk-Phänome ist gering, dafür ist das Spektrum der dargestellten Netzwerke und -Effekte umso größer. Massenhysterien, Selbstmordepidemien, Sex-Zirkel amerikanischer Schüler, Obamas Wahlkämpfer-Netz, Wikipedia, Facebook, die Netzwerke bloß virtueller Geschöpfe im Internet: Das alles und noch viel mehr, etwa Spekulationen zur Frühgeschichte der Menschen, Wissenswertes zu Partnersuche, fröhliche Mutmaßungen zur genetischen Grundlage humaner Netzwerk-Begabung, kommt zur Sprache. Und zwar so lose verknüpft, dass "Connected!" auch halb oder doppelt so dick sein könnte.

Immerhin, eine aussichtsreiche terminologische Großtat vollbringen Christakis und Fowler. Sie proklamieren die "Geburt des Homo dictyous" – vom lateinischen homo und griechischen diktyon für Netzwerk –, also des Netzwerkmenschen, der in unserem Selbstbild den rational-egoistischen "Homo oeconomicus" ersetzen soll. Indessen ist das Unterkapitel zum Homo dictyous nur zwei eher gedankenarme Seiten lang.

So bleibt es dabei: "Connected!" ist ein interessanter Mix auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Artikel (ganze Bücher scheinen die Autoren selten zu lesen). Man nimmt teil am bunten Spiel der Phänomene, an alten und neuen Experimenten, am Gang der Verhaltenssoziologie. Der Text, als Netzwerk betrachtet, bildet aber keine höhere Intelligenz etwa in Form scharfer Begrifflichkeit aus. Was den Erkenntnisgewinn schmälert.

Besprochen von Arno Orzessek

Nicholas A. Christakis/James H. Fowler: Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 374 Seiten, 22,95 Euro