Skisprung-Legenden

Kalter Krieg und heiße Sprünge

24:01 Minuten
Einmarsch der gesamtdeutschen Mannschaft 1960 bei der Eröffnung der achten Olympischen Winterspiele in Squaw Valley (USA).
Die gesamtdeutsche Mannschaft 1960 bei der Eröffnung der achten Olympischen Winterspiele in Squaw Valley (USA). © picture-alliance/AP
Von Wolf-Sören Treusch · 01.03.2020
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Vor 60 Jahren waren die Olympischen Winterspiele in Squaw Valley. Mitten im Kalten Krieg trat in den USA eine gesamtdeutsche Mannschaft zum Skispringen an. Es ist auch die Geschichte einer Freundschaft von zwei Skistars aus den beiden deutschen Staaten.
Konkurrenten im Sport, aber trotzdem gute Freunde - und das, obwohl sie es eigentlich gar nicht durften. Es geht um die Skispringer Helmut Recknagel, ostdeutsch und heute 82 Jahre alt, und Max Bolkart, westdeutsch und heute 87 Jahre alt. Beide sind 1960 mit von der Partie, als in der Hochphase des Kalten Krieges im US-amerikanischen Squaw Valley die Olympischen Winterspiele stattfinden - eine Zeit, in der die beiden deutschen Staaten fest in ihren jeweiligen Blöcken verankert sind.

Heimliche Treffen für ein Bier

In Squaw Valley tritt dennoch eine gesamtdeutsche Mannschaft an. In diesem Setting lernen sich Recknagel und Bolkart richtig kennen und schätzen. Kontakte der Sportler untereinander waren allerdings nicht erwünscht. Sie müssen sich heimlich treffen, um gemeinsam ein Bier zu trinken.
Vor einigen Jahren erzählten die beiden, wie sie Olympia 1960 und das politische Drumherum damals erlebt haben. 60 Jahre Squaw Valley ist der Anlass, das Radio-Feature noch einmal zu wiederholen.

Zwei weltbeste Skispringer treten an

"Und jetzt hat Vizepräsident Nixon der Vereinigten Staaten die Olympischen Spiele von Squaw Valley für eröffnet erklärt." 18. Februar 1960: Nach zwei Wochen Sturm und Regen scheint erstmals die Sonne in Squaw Valley. In der für 20 Millionen US-Dollar errichteten Retortenstadt in der Sierra Nevada beginnen die achten Olympischen Winterspiele. Mit viel Pomp inszeniert Walt Disney die Eröffnungsfeier: "… dann jetzt genau unter uns die deutsche Mannschaft, Helmut Recknagel, der große Skispringer aus Thüringen trägt die Fahne, …" heisst es in der DDR.
"War für mich eine ehrenvolle Aufgabe, aber auch eine erschwerte Arbeit, weil ich dann, wenn diese Generalproben und Übungen waren, konnte ich nicht trainieren. Da war ich benachteiligt", erinnert sich Recknagel. Auch eine gesamtdeutsche Mannschaft tritt an – mitten im Kalten Krieg. Sie besteht aus 50 Athleten West und 24 Athleten Ost. Eingekleidet worden sind die Frauen von der Bundesrepublik, die Männer von der DDR.
Zum Team gehören zwei der damals weltbesten Skispringer: Helmut Recknagel aus Steinbach-Hallenberg in Thüringen und Max Bolkart aus Oberstdorf in Bayern. Bis wenige Wochen vor Beginn der Winterspiele in Squaw Valley ist jedoch gar nicht klar, ob die beiden am Spezialsprunglauf teilnehmen können. Die hohe Politik ist drauf und dran, den Start einer gesamtdeutschen Mannschaft zu verhindern.

Hymnen-Streit in Oberstdorf

Rückschau: 24. März 1958. Es ist ein kalter, aber sonniger Frühlingstag in Oberstdorf. Auf der Heini-Klopfer-Schanze geht die Internationale Skiflugwoche zu Ende. "Fünf DDR-Springer kämpfen gegen die Weltelite" titelt das Deutsche Sportecho. Einer von ihnen ist ein junger, gut aussehender Mann aus Steinbach-Hallenberg in Thüringen. Ein Raunen geht durchs Publikum, als Recknagel, von der Westpresse als ‚Skisprung-Sputnik’ gefeiert, seinen Siegessprung landet: 135 Meter. Auf dem Marktplatz von Oberstdorf findet die Siegerehrung statt:
"Passiert ist, dass der Helmut, der Recknagel das Skifliegen gewonnen hat. Wo eigentlich niemand gerechnet hat mit dieser Ehrung, dass er eben Sieger wurde", sagt Bolkart. Er ist schon damals einer der großen Rivalen. "Mein Vater hat die Blasmusik geleitet, 23 Jahre lang übrigens, dann kam er ganz aufgeregt zu mir: ‚Stell dir vor, einer aus der DDR, der Helmut, der Recknagel hat das Skifliegen gewonnen. Ich habe keine Noten für die DDR-Hymne. Was soll ich machen’?", fragte er. Bolkarts Rat damals: "Na, da spielst halt das Deutschlandlied. Und fertig. Und der war ganz nervös, gell. Und so ergab sich das einfach, weil: Eine Hymne muss man ja spielen, und da hat er das Deutschlandlied gespielt."
Der deutsche Skispringer Max Bolkart in einer undatierten Archivaufnahme aus den 60er Jahren.
Max Bolkart war in den 1960er Jahren einer der besten Skispringer © picture-alliance/dpa
"Ich habe das gar nicht mitgekriegt", sagt Recknagel. Er hatte vier Tage zuvor seinen 21. Geburtstag gefeiert. "Ich stand vorne auf dem Podest. Ich wusste nur: ‚Wir rufen den Sieger Helmut Recknagel DDR’. Und die sagen: ‚Helmut Recknagel aus Thüringen’, und dann kam mir zu Ehren das Deutschlandlied. Da stand ich vorne, habe das gar nicht mitgekriegt in der Aufregung, wenn sie ausgerufen werden als Sieger, vielleicht bei ein paar Tausend Zuschauern auf dem Marktplatz in Oberstdorf, da hören Sie gar nichts, wenn die Trommel schlägt. Verstehen Sie?"
Dazu Bolkart: "Und plötzlich rege Aufregung, für die DDR waren Trainer und Funktionäre, alle da, plötzlich habe ich gehört: ‚hat schon angerufen aus Berlin’. Irgendwie ist was durchgesickert oder hat man nach Berlin telefoniert? "
"Und ich habe ein Signal bekommen von meiner Mannschaftsleitung", sagt Recknagel. "Runter kommen, das Podest verlassen, das ist eine Provokation, wir sind DDR-Leute, auch Deutsche, aber DDR, wir wollen unsere Deutschland-, unsere DDR-Hymne haben." Bolkart: "Aber wir hatten sie nicht. Und da haben wir ja schon ein bisserl dumm aus der Wäsche geschaut, aber wir konnten ja auch nix ändern, und Null Komma nix war die Siegerehrung vorbei."

Verpatzte Siegerehrung

Der Bürgermeister von Oberstdorf entschuldigt sich in aller Form für den Vorfall, Recknagel jedoch lehnt den von Bayerns Ministerpräsidenten gestifteten Pokal ab. In seinem "heiligen jugendlichen Zorn", wie er später in seiner Biographie schreiben wird: "Pokal zurück, keine Urkunde, keinen Preis, die Preise waren immer klein, aber jeder wollte doch einen Preis. Also ich war ganz schön traurig, muss ich sagen."
Die verpatzte Siegerehrung auf dem Marktplatz von Oberstdorf im März 1958, dieser scheinbar banale Zwischenfall um das falsche Abspielen einer Nationalhymne ist der Auftakt zu einer deutsch-deutschen Politposse der besonderen Art. Im Spätherbst 1959 spitzt sich die Lage zu. Anlässlich des zehnten Jahrestages der Staatsgründung erlässt die Volkskammer der DDR ein Gesetz, wonach das Staatswappen aus Hammer und Zirkel, umgeben von einem Ährenkranz, künftig auch auf der schwarz-rot-goldenen Nationalflagge abzubilden sei. Die Bundesrepublik reagiert sofort: das Zeigen der "Spalterflagge", so der Bonner Behördenjargon, wird zum Straftatbestand.
Das Internationale Olympische Komitee stellt unmissverständlich klar: Bei den bevorstehenden Olympischen Winterspielen in Squaw Valley kann nur eine deutsche Mannschaft an den Start gehen. Eine gesamtdeutsche: mit neutraler Hymne – die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven – und mit gemeinsamer Fahne.
Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnt den Vorschlag ab. Eher solle die Bundesrepublik keine Sportler zu den Olympischen Spielen schicken, sagt er. Dazu Recknagel: "Adenauer war zunächst ganz verstimmt, er sagte, wenn wir in die Fahne die Olympischen Ringe rein machen, dann kommt vielleicht die Fleischerinnung und möchte den Schweinekopf in der Fahne haben, oder Zirkus Sarasani und möchte den Elefanten drin haben."

Kompromiss im Flaggenstreit

Willi Daume, der damalige Präsident des Deutschen Sport-Bundes, überzeugt den Bundeskanzler schließlich doch von der Notwendigkeit der Olympiateilnahme. "Wir glauben, dass das in der ganzen Welt geachtete Symbol der fünf Völker verbindenden Olympischen Ringe auf unserer Nationalfahne von allen Übeln das kleinste ist", sagte er damals. "Um es so auszudrücken: Die Alternative wäre nämlich, möglicherweise auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen zu verzichten, die Mannschaft ganz der Zone zu überlassen, die dann in Squaw Valley und Rom ganz Deutschland repräsentieren würde, selbstverständlich mit ihrer Fahne, die dann von der ganzen Welt zur Kenntnis genommen, sogar salutiert würde vom diplomatischen Corps. Und wir glauben, dass das politisch noch weit unglücklicher wäre als die jetzige Lösung."
Trotz des Flaggenkompromisses für Olympia: Auf bundesdeutschem Boden bleibt die "Spalterflagge" weiterhin verboten. Bei der Vierschanzentournee zum Jahreswechsel 1959/60 kommt es zum Eklat. Der Deutsche Skiverband West untersagt dem deutschen Skiverband Ost, bei den beiden Springen in Oberstdorf und Garmisch die "Spalterflagge" hissen zu lassen und die neuen DDR-Embleme zu tragen.

Bolkart besiegt den "Skisprung-Sputnik"

Die DDR-Sportführung zieht ihre Athleten zurück. Prominentestes Opfer: der Sieger der Vierschanzen-Tournee in den beiden Jahre zuvor – "Skisprung-Sputnik" Recknagel. Stattdessen gewinnt die Tournee zum ersten Mal ein Springer aus der Bundesrepublik: Max Bolkart.
"Wenn alle da gewesen wären, wäre er kein Sieger geworden, das ist auch klar, aber das macht nix", sagt Recknagel. Und Bolkarts Erinnerung: "Er hat mich schon ein bissle - nicht gerade gefürchtet, aber er wusste: ich kann ihm sehr, sehr nahe kommen. Viel näher als wie die Norweger. Oder die Skandinavier. Weil er gesagt hat: ‚Du bist so unberechenbar, gell’."
Endlich, am 6. Januar 1960, nur sechs Wochen vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Squaw Valley, einigen sich die Nationalen Olympischen Komitees beider deutscher Staaten auf die Entsendung einer gemeinsamen Mannschaft sowie die vom IOC vorgeschlagene Fahne: Die Deutschlandfahne schwarz-rot-gold mit fünf olympischen Ringen.

Familiäre Spiele in den USA

Squaw Valley, das ist eine Retortenstadt in den kalifornischen Bergen, die bis 1960 kein Mensch kennt, noch nicht einmal die US-Amerikaner selbst. Squaw Valley ist alles andere als mondän: eine kleine Siedlung mit bescheidenen Unterkünften, ein paar Liftanlagen, um die Sportler nach oben zu bringen, eine fast natürliche Sprungschanze. Doch zur Überraschung aller werden es sehr unterhaltsame und familiäre Spiele. Fast alle Sportstätten liegen nur wenige Minuten voneinander entfernt.
74 Athleten aus Ost und West starten für Deutschland. Recknagel und Bolkart sind gesetzt, wer die beiden anderen deutschen Teilnehmer am Spezialsprunglauf sein werden, sollen die Trainingsergebnisse zeigen. Bolkart schwant Böses, die ostdeutschen Springer sind besser vorbereitet: "Sie kamen schon mit wesentlich mehr Sprüngen, man hat denen drüben die Möglichkeit zum Spitzensport deshalb erleichtert, weil sie finanziell keine großen Sorgen hatten wie bei uns. Wir gingen halt zum Arbeiten, und dann plötzlich bekamst du Nachricht: Springerlehrgang da und da und da, von bis, und dann musstest du zuerst zum Chef gehen und fragen: ‚Ist es möglich’? ‚Jawoll, es geht’, Bezahlung: null. Und diese Sorgen hatten die ganzen DDR-Springer damals überhaupt nicht."
Dazu Recknagel: "Zu meiner Zeit, von 1954 bis 1964, war ich noch berufstätig, acht Stunden, und habe zwei bis drei Stunden nach dem trainiert, und dann ab 1. Oktober frei gestellt vom Arbeitsprozess. Ein halbes Jahr ganztägig haben wir trainiert. Und das war dann die große Förderung des DDR-Staates und gleichzeitig, wenn ich mich definiere: Halbprofi. Wenn man so will."
Bolkart soll Recht behalten. Im Ausscheidungstraining einen Tag vor der Eröffnungsfeier setzen sich die beiden ostdeutschen Springer Lesser und Kürth durch, sein Freund Helmut Kurz scheitert. Bolkart ist der einzige Wessi im deutschen Springerteam: Das war auch für mich ein bisschen ein Tiefschlag, weil ich gesagt habe: ‚Menschenskind, jetzt bin ich allein auf weiter Flur’. Man verliert da ein bisschen, ich will nicht sagen, den Halt, aber es ist einfach nicht das, man ist irgendwie nicht so frei."

Gfäller-Ski gegen Poppa-Ski

In der Materialfrage hingegen haben die Westdeutschen Oberwasser. Gemeinhin gilt zu der Zeit der Gfäller-Ski aus Oberaudorf als robuster und anspruchsvoller im Vergleich zum Poppa-Ski aus Oberwiesenthal. "Der Poppa, das war ein Brett, kein Ski", sagt Bolkart. "Breit, wahnsinnig stark, habe ich geklopft und um Gottes Willen habe ich gesagt, da falle ich ja nach dem Schanzentisch sofort runter. Der zieht mich sofort runter. Habe ich denkt: Im Leben nie."
Später wird zu lesen sein, Recknagel habe die Gfäller-Ski, die ihm Max Bolkart in Squaw Valley angeboten habe, mit den Worten abgelehnt, er wolle nicht "auf kapitalistischen Skiern" antreten. Eine Legende – wie beide bestätigen. "Habe ich nie gesagt", sagt er. Und Bolkart: "Nee, die gibt es nicht."
Dennoch: die Legende passt ins Bild. "Wir haben ja auch Spaß gemacht," erinnert sich Rechlnagel. "Dann hat der Bolkart mal an irgendeiner Stelle gesagt und auch Gfäller selbst: ‚dann spring doch mal den Gfäller wieder’ oder ‚der hat ja auch eine bessere Farbe’ oder so. Gfäller machte mir damals ein Angebot: Wenn ich 1960 mit seinem Ski – ist ja Werbung - gewinne, gibt er mir als Geschenk ein Auto. Da sage ich, ‚Max, das kann ich nicht machen’. Das geht nicht. Ich muss das so lassen, weil es nur Ärger gibt. Ich kriege Ärger mit meinem Trainer womöglich, mit dem Generalsekretär Skilaufverband, gibt nur Ärger. Er ist dann in dem Moment nicht besser der Ski. Ich hätte es gern gemacht, aber ich habe aus weiser Voraussicht das nicht gemacht."
Später wird ihm der Skifabrikant aus dem Westen einen Job in seiner Firma anbieten. Recknagel wäre nicht der erste Sportler aus dem Osten, der rüber machte. Doch Recknagel schlägt das Angebot aus: längst ist er ein Star in der jungen DDR, Parteimitglied, nicht so materiell eingestellt, wie er sagt – und Einzelkind: niemals würde er seine Eltern allein lassen.

Ideales Skiwetter

Für die Skispringer herrschen in Squaw Valley optimale Bedingungen. Seit Beginn der Spiele strahlt die Sonne mit dem Neuschnee um die Wette. Recknagel legt im letzten Training den weitesten Sprung hin. Der Tag der Entscheidung naht. Er sagt: "Am Vorabend haben wir uns getroffen in einem Zimmer. Mit den Langläufern und mit den Nordisch Kombinierten. Und da wurde richtig Debatte gemacht."
Egon Fleischmann, Skilangläufer vom SC Motor Zella-Mehlis, erinnert sich: "Da hat er uns als Läufer nicht schlafen lassen. Er ist die ganze Nacht bei uns, hat rumgealbert und hat ‚hier’ gesagt und ‚morgen, das wird mein Tag’. Und da hat er Sprünge aus dem Stand gemacht, wie sich das so gehört, und gegen sechs Uhr ist er dann aus dem Zimmer raus und hat gesagt: So, und heute, da zeigen wir es mal richtig." Recknagel bestätigt das: Ich hatte gesagt an dem Abend, und das war ein bisschen verwegen: Wenn morgen einer gewinnt, dann bin ich das und kein anderer."
Der 28. Februar 1960 ist der Schlusstag der Olympischen Spiele in Squaw Valley. 30.000 Zuschauer sind zur Sprungschanze gekommen. Ohne Probedurchgang beginnt der Wettkampf. Jeder Sprung zählt. Bolkart dazu: "Man ist natürlich bei einer solchen Konkurrenz, wo man eventuell die Chance sieht, mit ganz vorne zu sein, bedacht, dass man alles richtig macht. Und mein Trainer, Ewald Roscher, der kam kurz, bevor ich gestartet bin, bis zum Anlauf hoch und hat zu mir rüber gerufen: ‚Max, es geht sehr weit. 90 Meter ist er schon gesprungen.’ Steinegger, ein Österreicher. Von da weg irgendwie, der hat mich wirklich aus dem Konzept gebracht."

Der Siegerlauf

Kommentiert wird das Geschehen damals so: "Bolkart in der Spur und abgesprungen und weit in der Vorlage, aber sein Sprung hat nicht mehr diese Kraft und diese Dynamik, die wir von ihm kennen. Er sprang 81 Meter, hält sich damit gut in der Konkurrenz und kann vielleicht noch auf einen Platz unter den ersten zehn gerade eben kommen." Der Springer sagt: "Ich weiß nimmer, was ich gesprungen bin damals, auf jeden Fall zu kurz. Dann habe ich natürlich erst einmal die Kurve gemacht und schon war er da, mein Trainer: ‚Ja, was war’?"
Während der Allgäuer verkrampft, lässt sich Recknagel nicht nervös machen. Nach dem ersten Durchgang liegt er mit einem Meter Vorsprung vor dem Finnen Halonen in Führung. Harry Valerien kommentiert den entscheidenden zweiten Sprung für die bundesdeutschen Radiostationen: "Und nun kommt, sagen wir es, der große Favorit Helmut Recknagel. Der Mann, der jetzt die Chance hat, die Goldmedaille zu gewinnen. Er steigt noch mal, wartet, lässt sich Zeit, greift noch mal vor zu seinen Schaufeln, streift noch mal mit dem Handrücken darüber, nimmt den Schnee weg und jetzt mit einer ungeheuren Gewalt springt er in die Anlaufspur hinein, …"
Dazu Recknagel: "Es war notwendig, dass ich so in die Spur gegangen bin, weil hinter mir Halonen, Finnland, ein starker Mann war, und ich habe Gefahr gesehen und bin demzufolge auch kräftig abgesprungen, nachgezogen und einigermaßen gut hin gesprungen."
DDR-Skispringer Helmut Recknagel (M) im Interview nach seinem großen Erfolg am 28.02.1960 bei den VIII. Olympischen Winterspielen im kalifornischen Squaw Valley.
Der DDR-Skispringer Helmut Recknagel gewann Gold bei den Olympischen Winterspielen 1960. © picture-alliance/dpa
Valerien kommentiert: "… rast weg jetzt vom Schanzentisch, streckt sich weit nach vorne, nicht zu schlagen, ich müsste oder besser wir müssten vom Springen nichts verstehen, wenn wir jetzt sagen, dass Helmut Recknagel, nachdem er schon im ersten Durchgang einen so großen Vorsprung hatte, noch geschlagen werden soll. Wie weit war die Weite, Gerd? 84 einhalb Meter, aber wir wollen noch ein bisschen abwarten."

"Helmut, mach' es gut!"

Im Rundfunk der DDR hört sich die Reportage vom Siegessprung Helmut Recknagels so an: "Schanze frei gegeben für Helmut Recknagel. Jetzt steht Helmut in der Spur, jetzt will Helmut alles wissen, Helmut mach' es gut! Der Absprung hat geklappt, die Haltung ist gut, gut, Helmut, gut. Eine gute Weite, 84 einhalb Meter wird angezeigt, Helmut hat eine einwandfreie Haltung, ich glaube, Helmut ist reif für die Goldmedaille hier in Squaw Valley." Es kommentiert Ludwig Schröder, Generalsekretär des Skiläuferverbandes Ost. Journalisten aus der DDR war die Einreise in die USA nicht genehmigt worden.
Doch noch muss der letzte Springer, der Finne Halonen über den Schanzentisch, aber wieder springt er einen Meter kürzer als der Skisprung-Sputnik aus Thüringen. Der DDR-Kommentator: "… reicht für die Goldmedaille, für die Goldmedaille für Helmut Recknagel, Deutsche Demokratische Republik." Recknagel sagt damals: "Ich freue mich außerordentlich, einen Olympiasieg für Deutschland und überhaupt für Mitteleuropa errungen zu haben im Spezialsprunglauf. Die Norweger und Finnen waren vorherrschend, und ich freue mich, dass man diese Nationen mal gebremst hat, weil andere Nationen auch mal gewinnen wollen."

Heimliche Freundschaft beim Bier

In seiner Biographie, die Recknagel 2007 veröffentlicht, widmet er den Erinnerungen an Squaw Valley ein eigenes Kapitel. Über den heimlichen Besuch im Zimmer seines Springerkontrahenten aus dem Westen, Bolkart, findet man darin keine Zeile. Der erinnert sich: "Zwar klopfts und auf einmal: ‚Hoj, hast dich verlaufen’? ‚Nö, nö, aber du hast ein gutes Bier’, hat er gesagt. Sage ich: ‚Ja, das habe ich. Willst du es’? ‚Ach nu klar’, hat er gesagt, nu klar’. ‚Ja, gut’: Das waren so kleine Büchsenbierle, gell."
Recknagel ergänzt: "Das sind ja kleine Büchsen, und wir wissen ja: Auch diese Flüssigkeit Bier ist diätetisch und bekömmlich und schafft etwas Ruhe, inneren Frieden. Ich glaube, das waren zwei, drei Dosen, Dosenbier habe ich ja bis dahin gar nicht gekannt. Das war kein Wagnis, ein Zimmer zu besuchen zum Westkollegen, -sportler. Es wird vielleicht von der Mannschaftsleitung nicht so gern gesehen, wenn man sich privat beschäftigt, aber der große Speiseraum war international, viele Nationen, und da geht man schon mal an den Tisch und läuft da nicht vorbei. Der Sportfunktionär hat diese Alleingänge nicht so gern gesehen."
Bolkart sagt: "Da hat er gesagt, so ungefähr so: die Scheiß-Politik, die sollen doch uns Sportler sporteln lassen, und Politik soll Politik bleiben." Recknagel: "Und hätte sich Adenauer, der mit dieser Regelung schwarz-rot-gold mit den Olympischen Ringen nicht einverstanden war, nicht überzeugen lassen, dann wären in Rom die Spiele und Squaw Valley, USA, nordisch nicht zustande gekommen, und dann könnte ich jetzt sagen, Resümee: welch ein Schaden für den deutschen Sport: wir hätten die 10,0 von Armin Hary nicht gesehen, ich sage Ihnen nur, wie schwierig die Zeit war. Heute weiß man das alles gar nicht."
In der Bundesrepublik zieht DSB-Präsident Willi Daume, bezogen auf die gesamtdeutsche Olympiamannschaft, ein versöhnliches Fazit: "Ich zweifle auch jetzt wieder nicht daran, dass der Sport diese politische Gebundenheit überwinden wird, die Aktiven verstehen sich schnell, und auf dem eigentlichen Kampffeld haben ja dann die Funktionäre nichts zu sagen."

"Maxe Bolkart ist ein toller Unterhalter"

Recknagel und Bolkart nehmen auch an den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck teil, danach beenden sie ihre Sportkarriere. Erst in den 90er Jahren, nach dem Fall der Mauer, treffen sie sich wieder.
"Wir haben uns im Regelfall immer gut verstanden," sagt Recknagel. "Maxe Bolkart: er ist ja ein paar Jahre älter als ich, aber er ist ein toller Unterhalter, auch in den Restaurants oder im ‚Tretter-Stüble’ in Oberstdorf, Schifferklavier, und gesungen, ich bin ja nicht so heiter und lustig, kein Sänger, aber auch gemütlich. Im Birgsautal an der Skiflugschanze, haben wir uns immer getroffen. Und dann haben wir einen Glühwein getrunken oder Kaiserschmarrn, das habe ich so gerne gegessen."
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