Literaturhinweis
Andreas Cassee: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
286 Seiten, 17 Euro
Der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst geben
43:07 Minuten
Religionsphilosoph und Mitbegründer der Freien Universität Berlin Klaus Heinrich spricht über die "Selbstaufklärung" der Menschheit als Gattung und die "selbstzerstörerischen" Prozesse, die ihr entgegenstehen. Er blickt zurück auf die Verdrängung der deutschen Vergangenheit nach 1945 - und plädiert für einen Neustart der Universität als Instanz gesellschaftlicher Selbstverständigung.
Der 90-jährige Religionsphilosoph spricht über die mühselige "Selbstaufklärung" der menschlichen Gattung, die immer im Zentrum seines Werks gestanden habe, und über jene Kräfte und Tendenzen, die dieser auch heute noch entgegenstehen.
So nehme die Gefahr von Katastrophen "in dem Maße zu, in dem Möglichkeiten zunehmen, überhaupt einzugreifen in die Natur – und auch die eigene Natur, die eigene Ausstattung als Triebwesen." Vor diesem Hintergrund habe er immer wieder die "Selbstzerstörungsprozesse" sowohl der Gattung wie auch der Individuen betont. "Das heißt, die Zivilisation ist ein hauchdünner Firniss. Und darunter wütet etwas, was uns aus den Konflikten herausholen will – die selbstzerstörerischen Aktionen sind ja eigentlich solche, die einem endgültig Ruhe schaffen sollen."
Bezogen auf die heutigen Globalisierungsprozesse heiße das, dass diese "solange nichts vermögen, wie sie ein Ausdruck oder Dekor selbstzerstörerischer Prozesse in der Menschengattung sind." Konkret ermögliche die kapitalistische Globalisierung zwar vorgeblich eine "Selbstaufklärung der Gattung", bleibe aber zugleich auf diese fixiert, als etwas, das "Versöhnung unmöglich macht". Die "Hoffnung auf einen globalisierten Kapitalismus" ist in den Augen Heinrichs "wieder eine Zurichtung der Gesellschaft, wie man sie sich schrecklicher nicht vorstellen könnte". Um aus diesem "Netz" herauszukommen, müsse man es vor allem erst einmal analysiert haben.
Digitalisierung bedroht die Selbsterfahrung
Die Digitalisierung – als ein mit der Globalisierung verwandtes Phänomen – sei zunächst ein Gewinn an technischen Möglichkeiten. Das Problem bestehe darin, dass diese Möglichkeiten "zentral werden und sozusagen uns vorgaukeln, die Substanz unserer Humanität zu sein" – auch wenn zukünftige Generationen damit "vielleicht fertig werden". Die "Mühsal" der menschlichen Gattung sei historisch an erster Stelle auf die Überwindung von Raum und Zeit gerichtet gewesen. Für die Selbsterfahrung sei es jedoch entscheidend, zeitliche und räumliche Distanzen zu erfahren: "Ich muss Räume durchstreifen können, sonst kann ich mich selber nicht als ein räumliches Wesen wahrnehmen." Die Digitalisierung erzeuge eine bloße Illusion von Ort- und Zeitlosigkeit: "Ich kann nicht so tun, als wäre ich raumlos und zeitlos an irgendeiner anderen Stelle."
Eine zentrale Gefahr sieht Heinrich im dadurch bedingten Schwund an Übersetzungsbedarf: Seit dem Beginn sprachlicher Verständigung sei diese auch, "bei jedem Laut", ein Übersetzen gewesen. Sprachliche Übersetzung gelte "für die dunkelsten Regungen des Leibes" ebenso wie für geistige Vorgänge. "Und Sprache als Übersetzung ist eigentlich das Medium, dessen wir zur Eroberung unserer Selbst und der Welt bedürfen, aber auch zum Sich-Zufriedengeben mit sich selbst und der Welt." Vor diesem Hintergrund sei es klar, dass "wo es keine Übersetzungsschwierigkeiten mehr gibt, wo Raum und Zeit als Transporteure dieses Übersetzens mehr oder minder ausgeschaltet sind, eine ungeheure Begrenzung, auch Verarmung der Triebwesen, die wir sind eintritt."
Mit der Digitalisierung falle eine rasante Zunahme von Mobilität und Telekommunikation mit einem "Verlorengehen der leiblichen Präsenz" zusammen, die "für uns, als Triebwesen, so ungeheuer viel bedeutet". Dies zeige sich schon in den ersten "Sprachübungen" der Gattung, die auch leiblich aufgenommen worden seien: Zwischenmenschlicher Kontakt basiere "unterhalb der Sprache" auf einer "leiblichen Verständigung" – wie sich etwa zeige, wenn wir uns unwillkürlich umdrehen, wenn uns jemand beobachtet oder in Ausnahmesituationen. Dafür fehle in den Vorstellungen der modernen Physik eine adäquate Erklärung – stattdessen, überlasse man das einer pseudowissenschaftlichen "Parapsychologie". Für Heinrich ist das ein Beispiel für die unabgeschlossene Aufgabe der (Selbst-)Aufklärung: "Unsere Aufklärung tappt noch immer, auch dort, wo sie naturwissenschaftliche Aufklärung ist, auf unbekannten Pfaden – die sie bekannt machen sollte."
Gefährdung der Erinnerung als Medium der Selbstaufklärung
Dabei gebe es durchaus Auswege aus diesem Szenario – aber man müsse sie auch einschlagen wollen. Momentan hingegen überwiege, wie beim "Grundschulkind", die Faszination "mit dem, womit man da spielen kann". Er selbst spiele durchaus gern, räumt Heinrich ein, habe sich aber mit den digitalen Spielzeugen noch nicht befasst. "Wären sie erwachsenere, würde ich sie wahrscheinlich nutzen. Und wären sie bewusst kindlich, würde ich wahrscheinlich auch mit ihnen spielen." Genau da liege das Problem.
Im Prinzip sei die "unglaubliche Überwindung von Raum und Zeit, die uns von unserer eigenen Leiblichkeit wie von einem Fremdkörper entfernt", durchaus ein Fortschritt – wie sich etwa in der Raumfahrt zeige –, jedoch keiner, den "die Gattung als solche" erfahre". Denn dabei stehe gerade das zur Disposition, was deren Selbstaufklärung dirigiere: Die "Erinnerung, und zwar eine, die jedes Mal, wenn man sie hat, wenn man sie aufruft, sich verändert, so wie man sich selber verändert, die einem solche Veränderungen greifbar macht, und die in einem abrufbaren Wissenskatalog einfach nicht zu fassen ist." In der Erinnerung, als Selbst- und Gattungsanalyse, setzten wir uns mit "dem auseinander, was wir gehabt haben – und wir haben es nur gehabt, weil wir sehr viel anderes verdrängt haben."
Nach 1945: Verdrängung der NS-Vergangenheit
Der Vorgang der "Verdrängung" ist für Heinrich auch zentral für die Beschreibung der deutschen "Schande" nach 1945: Der Wiederaufbau nach dem Kriegsende sei untrennbar mit einer "tödlichen Verdrängung der NS-Vergangenheit" verknüpft gewesen, die auf unterschiedliche Weisen stattgefunden habe. Eine Form der Verdrängung hätte darin bestanden sich auf die "Ursprünge" vor den "Abirrungen" des NS zu konzentrieren, um darauf ein "neues System" aufzubauen – so etwa der Philosoph Martin Heidegger. Allerdings habe nach 1945, gerade auch an den Universitäten, die Verdrängung niemand wahrhaben wollen – nach dem Motto: "Kollektive Verdrängung gibt es nicht. Und individuelle Verdrängung hat nichts mit Politik zu tun."
Für seinen eigenen Neubeginn seien seine Erfahrungen während der NS-Zeit zentral gewesen: "Der kollektive Selbstzerstörungsmechanismus, die Leute, die nirgendwo aufgestanden sind, sondern sich haben für das Vaterland schlachten lassen". Dieser Opfergang sei durch bestimmte Belohnungsstrukturen begünstigt worden, wie auch der Holocaust nicht so hätte stattfinden können, wenn es nicht "so unendlich viele Nutznießer gegeben hätte". So aber habe man die Geschehnisse "als Schicksalsereignis" hinnehmen können, statt sie als selbstgemachte Ereignisse zu begreifen – wiederum eine Form der Verdrängung.
Dass Heinrich selbst die Zeit überlebt hat – trotz einer Anklage wegen "Zersetzung" –, sei für ihn ein "kleines Wunder", möglich auch durch zahlreiche Freunde und Unterstützer. Sie alle hätten nach Kriegsende die Illusion geteilt, dass jetzt ein neues Leben beginne. Als sie an der damaligen Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) zu studieren anfingen, sei ihre Vorstellung gewesen, die Universität müsse sich mit der Verdrängung der vorangegangenen Zeit auseinandersetzen und "der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst" geben. Wäre es nach Heinrich gegangen, hätten alle Wissenschaften den Prozess der "Selbstaufklärung" in Gang halten müssen.
Eine Uni, die der Gesellschaft ein "Bewusstsein ihrer selbst" gibt
Als sich diese Erwartung nicht erfüllte – als stattdessen wieder "alte Nazis" als Professoren auftauchten und Studenten verhaftet wurden – da hätten er und andere Studenten angefangen, eine neue, eine andere Universität zu planen – eine Universität, in der "das Denken, wie man es sich 45 vorgestellt hatte, nicht verboten war, in der wir die Gesellschaft über sich selbst aufklären wollten". Allerdings wäre diese "Illusion" schnell verpufft.
Schlüsselerlebnis dieser Desillusionierung war für Heinrich eine von ihm Anfang der 50er-Jahre geplante Kabarett-Aufführung, die am erwachenden Opportunismus der neu gegründeten Freien Universität Kritik üben sollte: "Wer legt der Freien Universität denn die Kandare über? Das macht die Freie Universität, weil es von selber besser geht, sie pflanzt sich einen Lorbeerhain und baut die schönsten Häuser. Doch leider bleibt der Geist nicht stehen, einst sah man ihn gen Dahlem gehen, nun geht er langsam weiter." – So rezitiert Heinrich noch heute die Verse der letztlich gescheiterten Aufführung: Die beteiligten Studenten hätten schließlich aus Angst vor negativen Folgen der "Nestbeschmutzung" für ihre Karriere einen Rückzieher gemacht.
Er selbst habe immer eine Universität gewollt, die einem gemeinsamen Ziel – dem "Unum" in ihrem Namen" – verpflichtet wäre, und dieses "Unum" sei eben die "Gesellschaft, der sie ein Bewusstsein ihrer selbst geben will". Schon den Gründern der heutigen Humboldt-Universität sei es darum gegangen, ein "nicht-nationalistisches Selbstbewusstsein" zu pflegen, eben um eine Institution zu schaffen, die dem "selbstzerstörerischen Nationen-Trip" entgegenstehe.
Schutz "selbstzerstörerischen Attacken" der Menschen
Gegenüber der Zukunft der Universität ist Heinrich eher skeptisch. Letztlich seien Veränderungen im geschilderten Sinne nur möglich, wenn aus einer "unsichtbaren Zusammenarbeit von verschiedenen Personen" irgendwann eine Art "Universität-Neustart" hervorgehe – gegen einen drohenden "Selbstverrat" des universitären Projekts. Ein solcher Neustart sei aber nur mit einem gemeinsamen Ziel möglich und dieses Ziel müsse darin bestehen, die menschliche Gesellschaft vor "selbstzerstörerischen Attacken", wie Kriegen oder den Folgen der Globalisierung, zu bewahren. Dazu müssten auch die Religionen in den Blick genommen werden, als "große Selbstverständigungsunternehmungen". Aufgabe einer neuen, globalen Universität wäre es, "diese Selbstverständigung zu befürworten und zu bewerkstelligen."
Außerdem in der Sendung:
Der philosophische Wochenkommentar: Einwanderung ist kein Heiratsantrag
Braucht Deutschland ein Einwanderungsgesetz? Ja, meinen die derzeit sondierenden Parteien relativ einstimmig – Uneinigkeit gibt es nur noch im Detail. Der Schweizer Philosoph Andreas Cassee hält dagegen: Einwanderer nach Nützlichkeitskriterien auszuwählen, verstärke die globale Ungleichheit – so wie Heiraten unter Privilegierten. Die freie Wahl des Wohnorts sei ein menschliches Grundrecht und dürfe nicht an den Landesgrenzen enden, argumentiert er in seinem philosophischen Wochenkommentar.
Was tun? Die philosophische Politikberatung (5): Rainer Mühlhoff über Baruch de Spinoza
In unserer Reihe fragen wir Denkerinnen und Denker, von welchen philosophischen Ideen wir uns heute Orientierung erhoffen können und welche Theorien wir heute neu lesen sollten. Im fünften Teil empfiehlt uns der Berliner Philosoph Rainer Mühlhoff die Affektenlehre Baruch de Spinozas. Mühlhoff ist Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich "Affective Societies" der Freien Universität Berlin, aufgezeichnet von Constantin Hühn.