"Es war in den ersten zwei Semestern enorm viel improvisiert"

Stanislaw Karol Kubicki im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.07.2011
Der Medizinstudent Stanislaw Karol Kubicki und andere Studierende ergriffen 1948 die Initiative zur Gründung der Freien Universität Berlin im Westsektor der Stadt. Sie hatten eine andere Vorstellung von der Freiheit der Wissenschaft als die SED, die im sowjetischen Sektor das Sagen hatte. Er bekam die Matrikelnummer 1 und feiert heute seinen 85. Geburtstag.
Dieter Kassel: Wenn eine Universität ein paar Hundert Jahre alt ist, dann ist es meistens nicht mehr möglich, so ganz zu sagen, wer bei der Gründung der allererste Student war. Wenn eine Hochschule aber gerade mal knapp 63 Jahre alt ist, wie die Freie Universität in Berlin, dann geht das sehr wohl, dann kann man mit solchen Menschen sogar noch sprechen.

Denn Stanislaw Karol Kubicki, der war der Erste an dieser Uni. Er hatte die Matrikelnummer eins, als 1948 der Lehrbetrieb an der brandneuen FU Berlin begann. Heute feiert Kubicki seinen 85. Geburtstag, deshalb habe ich gestern schon mit ihm geredet – an seinem Geburtstag hat er verständlicherweise andere Dinge vor –, aber gestern konnte ich ihn fragen, wie es bei ihm eigentlich überhaupt dazu kam, dass er 1948 wechselte: Denn Kubicki war Medizinstudent an der damaligen Linden-Universität, der heutigen Humboldt.

Und es gab an dieser Uni im sowjetischen Sektor Berlins zwar Probleme, aber er hat damals ja Medizin studiert, also ein nicht so politisches Fach. Ich habe ihn deshalb gefragt, warum er trotzdem das Gefühl hatte, er muss diese Uni verlassen.

Stanislaw Karol Kubicki: Na ja, das hängt ja ein bisschen natürlich auch von dem Freundeskreis ab, und die Mediziner waren ja ein sehr geschlossener Haufen und trafen sich einmal am Tag in den großen Vorlesungen, in der Anatomie vor allen Dingen. Und da saßen sie alle beieinander, da konnten sie natürlich ungeheuer schnell kommunizieren. Nummer eins.

Nummer zwei war, dass unter uns Otto Hess war. Otto Hess wollte Medizin studieren, war 15 Jahre älter als wir. Er hatte in der Weimarer Zeit noch sein Abitur gemacht, durfte als Halbjude nicht studieren, hat nun seinen Wunsch erfüllt, Medizin endlich studieren zu dürfen, und der war natürlich viel reifer, der hatte ganz andere Vorstellungen von einer Universität und all dem. Und wir waren sein enger Freundeskreis und lernten von ihm auch sehr viel.

Und was die SED mit der Uni eigentlich vorhatte, kam immer deutlicher hervor. Das war eben eine deutliche Gängelung. Es wurde ja damals dann schon der Versuch gemacht, eine politische Vorlesung einzuführen, eine Pflichtvorlesung. Wir hatten eine andere Vorstellung von der Freiheit der Wissenschaft und Forschung und überhaupt.

Kassel: Als Sie sich dann wirklich entschlossen haben, mitten im Studium die Universität zu verlassen, mit dem Gedanken, ich gründe oder wir gründen einfach eine neue freie im Westen der Stadt, hatten Sie, ganz ehrlich, damals auch ein bisschen Angst, weil das hätte ja auch Ihre Karriere kaputt machen können als Mediziner?

Kubicki: Das Verrückte ist – das muss ich Ihnen sagen –, dass wenn ich jetzt rückwärts schaue, frage ich manchmal selber, in welchem Geisteszustand wir waren. Wir waren fest davon überzeugt, dass das gelingt.

Kassel: Das ist nun aber die spannende Frage. An dieser Stelle steht oft in Ihrem Lebenslauf oder in der Geschichte der FU: Dann kamen ein paar Studenten, darunter der junge Herr Kubicki, und haben dazu beigetragen, die FU zu gründen. Das kann ja nicht so einfach sein, was haben Sie denn erst mal gemacht, um diese Universität mitzugründen.

Kubicki: Nein, das war natürlich anders – es gab ja auch Kräfte in der Stadt, die an einer Gründung interessiert waren, und wir waren aber irgendwie die stärkste Power Group. Das gab uns damals eine sehr starke Position. Diese Power Group, da stellten wir auch unsere Forderungen – die Forderungen waren eben, dass die Studenten viel mehr mitzusprechen haben in den Gremien, in den einzelnen, und das wurde schon vorneweg genommen, indem Otto Hess zum Beispiel in diesem vorbereitenden Ausschuss für die FU saß.

Nun musste ja sehr viel gemacht werden. Es musste vorbereitet werden die Zulassung, eine Quästur musste eingerichtet werden, andere haben wieder ihre Institute vorbereitet, Bücher zusammengeschleppt und alles Mögliche. Wir haben zum Teil Arbeiten von Dienstkräften übernommen, Verwaltungsdienstkräften, und auf mich fiel nun das Amt des Zulassungsreferenten, das heißt, ich war der erste Leiter der Quästur, richtiger Angestellter. Damit kam ja dann eben auch diese verrückte Geschichte, dass ich die Nummer eins wurde.

Kassel: Das war eigentlich so ein bisschen Zufall, dass Sie wirklich da am Ende Matrikelnummer eins wurden?

Kubicki: Nein, das war nicht ganz Zufall. Von oben herab kam die Order, am ersten Tag sind zu immatrikulieren die Studenten von der Medizin von A bis K. Und dann kam mein Freund Coper, der ja mit C auch dabei ist, und ich mit K dachte, dann kann ich mich auch als Erster einschreiben. Und dann haben wir einen Groschen hochgeworfen, ich habe gewonnen, und er hat die Nummer zwei. Wir beide sind also als eins und zwei in die FU-Geschichte eingegangen.

Kassel: Nun muss man immer daran denken, das war das Jahr 1948. Also die offizielle Gründung der Freien Universität war der 4. Dezember, aber ich glaube, es ging sogar mit den einzelnen Lehrveranstaltungen im November kurz vorher schon los. Wie habe ich mir denn das ...

Kubicki: Es ging im November schon los, die ersten Vorlesungen. Das war improvisiert. Es war in den ersten zwei Semestern enorm viel improvisiert. Da war ja auch die Blockade.

Kassel: Eben.

Kubicki: Man muss ja sehen, wo man überhaupt Lehrmaterial herkriegte. Die ersten Stühle, die wir kriegten, waren Kinderstühlchen, auf denen saß man dann und die nahm man von einem Seminar zum anderen mit. Das war sehr improvisiert, aber wissen Sie, es war auch wunderbar. Es war eine herrliche Zeit, weil man mit den Lehrkräften zusammen eine Einheit gebildet hat. Die Lehrkräfte kannten eigentlich alle Studenten beim Namen und wir kannten natürlich jeden Hochschullehrer, und die zogen den Hut vor uns, weil wir den Mumm hatten, wir zogen den Hut vor ihnen, dass sie auch den Mumm hatten, in diese Ungewissheit hineinzugehen.

Kassel: War es denn wirklich ein Gefühl von Freiheit, weil die Universität – es wurde ja, glaube ich, nie darüber diskutiert, ihr einen anderen komplizierteren, historisch einen Namen zu geben, sie hieß und heißt Freie Universität. Fühlten Sie sich gerade in den ersten Jahren frei?

Kubicki: Och ja, doch. Es geht ja um die geistige Freiheit, und die geistige Freiheit war gegeben, ohne jeden Zweifel. Dann kam natürlich noch etwas hinzu. In unserer Gruppe waren sehr viel rassisch und politisch Verfolgte, und wir selber hatten entsprechend auch in die Satzung ja eingebracht, dass es unvereinbar war, an der FU zu studieren und gleichzeitig Mitglied der alten Burschenschaften zu sein. Die hatten in unseren Augen in den 20er-Jahren und in der Nazizeit versagt. Dass das verfassungswidrig war und nachher rausgenommen wurde, das ist eine zweite Sache, aber es zeigt unseren politischen Willen, den wir damals hatten.

Und ich muss Ihnen sagen, etwas war auch noch erstaunlich: Die Amerikaner haben ja völlig umgeschaltet. Diesen Willen der Westberliner, die ja nun wirklich eingezwängt waren und die nicht wussten, ob die Amerikaner durchhalten, die haben ihren Freiheitswillen so deutlich gemacht, dass die Amerikaner umdachten. Sie fingen an, ihre Partner zu sehen. Und dass zum Beispiel die Amerikaner bereit waren, in diese Blockade hinein eine Universität zu gründen, war ja ein Hinweis: Wir gehen nicht weg, sondern wir schaffen hier ein geistiges Zentrum.

Kassel: Als Sie jetzt ein komisches Geräusch gehört haben im Radio, das war Professor Kubicki – auf den Tisch geklopft haben Sie gerade, richtig intensiv an dieser schönen Stelle. Wir reden nämlich im Deutschlandradio Kultur mit Stanislaw Karol Kubicki. Er war – darüber haben wir jetzt so viel geredet – Student, von der Matrikelnummer sogar der allererste an der Freien Universität Berlin. Aber – und darauf möchte ich auch noch kommen – diese Uni hat Sie ja dann nie losgelassen. Irgendwann waren Sie fertig, waren Mediziner, und dann haben Sie ja auch noch eine Hochschulkarriere eingeschlagen, waren lange Zeit Professor für Neurologie an der FU, und das heißt, Sie waren auch als Professor an dieser Universität so in den späten 60er- und 70er-Jahren – eine sehr bewegte Zeit. Diese linken Strömungen, die es an vielen deutschen Universitäten gab, waren da besonders stark. Und damals haben Sie die Notgemeinschaft für eine Freie Universität gegründet, ich glaube, 1970 war das.

Kubicki: Das ist richtig.

Kassel: Und das war – klingt jetzt so neutral, viele erinnern sich vielleicht nicht – war – korrigieren Sie mich, wenn es falsch ist – ein Zusammenschluss von sehr konservativen Professoren und Dozenten.

Kubicki: Das ist eigentlich gar nicht ganz richtig.

Kassel: Sondern?

Kubicki: Sie dürfen ja nicht vergessen, dass damals Professoren ärztlich bedroht worden sind und verfolgt worden sind und telefonisch beschimpft worden sind. Da war ja kein friedlicher Partner auf der anderen Seite, der mit uns über die Neugestaltung der Universität reden wollte, sondern es war jemand, der die Universität erobern wollte, um den Staat kaputt zu machen. Das darf man nicht vergessen, da muss man die Themen die damaligen Linken und 68er durchlesen. Also was wir eigentlich wollten, war, in Ruhe und Überlegung Reformierung einzuführen. Wir waren reformfreudig. Die ersten Professoren in der Notgemeinschaft, vor allen Dingen im Vorstand, waren alles Reformfreudige.

Kassel: Haben Sie denn vielleicht zum Schluss das Gefühl, so bedeutend die FU wissenschaftlich ist – sie ist eine der Exzellenz-Unis in Deutschland, seit 2007 –, aber so bedeutend sie da ist, haben Sie das Gefühl, es gibt ja immer die wahre Bedeutung und etwas, was ich jetzt mal die gefühlte Bedeutung nenne, dass da, seit es wieder ein Deutschland gibt, ein vereinigtes Berlin, doch, ja die Humboldt-Uni die Führungsposition übernommen hat – es sind die schönen alten Gebäude, es ist die alte Geschichte –, ist da die FU ein bisschen in den Schatten gekommen jetzt?

Kubicki: Natürlich sitzt die alte Universität mit ihren Geisteswissenschaften an den Linden in diesen alten Gebäuden im Palais Prinz Heinrich, und das ist eine würdige Geschichte. Ich bin auch froh, dass diese Universität sich wieder erholt, diese Universität soll gedeihen.

Aber diese Universität in Dahlem hat sich so stark entwickelt, und die hat einen ganz anderen Charakter - schon diese Campus-Universität – sie ist ganz anders. Die Universität war schon zehn Jahre nach ihrer Gründung so bedeutend. Zum Beispiel viele, die in der Nazizeit ausgewandert waren und Deutschland skeptisch sahen, an die FU kamen sie zurück. Wir haben sehr viele Re-Emigranten gehabt, und wir haben auch nie Berührungsängste gehabt. Man darf nicht vergessen, Lieber hat hier eine Ausgabe der Schriften von Karl Marx gemacht, die besser war als die im Osten.

Die FU war die erste Universität, deutsche Universität, die einen Kontakt, einen Pakt mit einer sowjetischen Universität einging, nämlich mit der Universität Leningrad - und ein paar Jahre später mit Peking. Das heißt, auch in den Ostblock hinein wirkten wir wahrscheinlich viel, viel stärker als jede andere Universität. Und ich denke, man soll beide sich entwickeln lassen und in Konkurrenz lassen, so wie es der alte Meinecke bei seiner Rede, seiner berühmten gesagt hat: Wir wollen keinen Kampf gegeneinander, sondern wir wollen miteinander eine Konkurrenz des Geistes. So in etwa hat er das gesagt.

Kassel: Sagt Stanislaw Karol Kubicki über den – übrigens, weil er Meinecke gesagt hat – damaligen Gründungsdirektor der Freien Universität Berlin, Friedrich Meinecke, der im Dezember 48 das gerade Zitierte gesagt hat über den Wettbewerb zwischen den Universitäten. Das war er gerade, der erste Student der Freien Universität Berlin, Stanislaw Karol Kubicki, der Mann mit der Matrikelnummer eins. Heute wird er 85 Jahre alt, und deshalb sag ich natürlich auch an dieser Stelle: Herzlichen Glückwunsch!