Seismograph unserer Lebensweisen

"Brüste sind immer und überall – und bleiben doch schöne Unbekannte", so wirbt der Verlag für das Buch der Wissenschaftsjournalistin Florence Williams. Ihr Werk "Der Busen" beschreibt und erklärt dieses so wichtige "Wächterorgan".
Bilder von Brüsten fluten täglich unsere Sinne. Der Busen wird als erotisches Objekt medial inszeniert und kommerziell instrumentalisiert. Um seine Eigenschaften jenseits der erotischen Signalwirkung geht es eher selten. Diese Lücke versucht das Buch von Florence Williams zu schließen, doch leider fehlt es der Autorin auf den ersten 50 Seiten an Selbstbewusstsein: Sie steigt ziemlich untertourig ein, indem sie umgangssprachliche Synonyme für das Wort "Busen" aufzählt und sich dann durch einen Haufen chauvinistischer Forschungsergebnisse zur Korrelation zwischen Körbchengröße und männlichem Paarungsverhalten wühlt.

Anders als Naomi Wolf, die die Relevanz ihres neuen Buches "Vagina" aus radikal weiblicher Perspektive setzt (Dieses Sex-Buch ist ein Muss!), weist Williams zunächst nach, wie stark das Erkenntnisinteresse männlicher Biologen und Anthropologen am Busen sexualisiert ist.

Erst im zweiten Kapitel nimmt die Darstellung der Wissenschaftsjournalistin, die unter anderem für die New York Times schreibt, langsam Fahrt auf: "Die Evolution des Busens ist in der Forschung eine Art blinder Fleck", diagnostiziert Williams und erforscht die Entwicklung der Laktation, also der Milchbildung. Die Autorin folgt hier dem norwegischen Biologen und Laktations-Experten Olav Oftedal, demzufolge die Milchdrüsen sich vor etwa 310 Millionen Jahren bei den so genannten Synapsiden wahrscheinlich zunächst zur Unterstützung des Immunsystems entwickelten.

Milch als Wettbewerbsvorteil in der Evolution
Die lebensfeindliche Kreidezeit überlebten nur 18 Säugetier-Gattungen. Die Umwandlung schwer verdaulicher Kost in Milch ermöglichte es ihnen, ihren Lebensort unabhängig davon zu wählen, welches Futter-Angebot es für ihren Nachwuchs gab. Ein großer Wettbewerbsvorteil. Die Laktation, die das Junge an seine Mutter bindet, zieht die Entwicklung des Neokortex im Gehirn nach sich, schärft den Tast- und Geruchssinn und schließlich auch die Entwicklung von bewusstem Denken, Urteilsfähigkeit und Sprache.

Doch das Buch bringt nicht nur spannende Erkenntnisse über die Evolution. Hauptanliegen ist die Aufklärung über Umweltgifte und ihre Auswirkungen auf die weibliche Brust. Protagonisten sind das Insektengift DDT, Flammschutzmittel, Triclosan und die künstlichen östrogenen Verbindungen DES und Bisphenol A. Die Hormonrezeptoren im Busen sind besonders empfindlich und taxieren unsere Umwelt, schreibt Williams. Die Auswirkungen von Chemikalien auf den Busen werden aber kaum untersucht. Dabei scheint es so zu sein, dass das immer frühere Einsetzen der Pubertät bei Jugendlichen und die wachsende Rate an Brustkrebserkrankungen bei Frauen mit der Aufnahme von Giften über Nahrung, Gebrauchsgegenstände und Kosmetika in Zusammenhang steht.

Florence Williams‘ Buch zeigt, dass der Busen keineswegs nur ein erotisierendes Sexualmerkmal oder ausschließlich immunisierendes Element einer Nahrungskette ist. Er ist vielmehr ein Seismograph. Ein "Wächterorgan", wie Williams es nennt. Sein Zustand kann uns viel über die Fehlentwicklungen unserer Lebensweisen verraten.

Besprochen von Ruth Kinet

Florence Williams: Der Busen. Meisterwerk der Evolution
Übersetzt von Anne Emmert
Diederichs Verlag, München 2013, 352 Seiten, 19,99 Euro

Links auf dradio.de:

Dieses Sex-Buch ist ein Muss! - Naomi Wolf: "Vagina - Eine Geschichte der Weiblichkeit", Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, 448 Seiten
Unverkrampft über Sex reden - Antje Helms: "Kriegen das eigentlich alle?", Gabriel Verlag, Stuttgart 2013, 160 Seiten
Blümchen-Sex war gestern - Virginie Despentes: "Apokalypse Baby", Berlin Verlag, Berlin 2012, 383 Seiten