Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Zuletzt erschien von ihm das „Handwörterbuch der russischen Seele“ bei der Parasitenpresse Köln.
Schule und Arbeitswelt
Trainings, Mentorings, Coachings: Kompetenz werde relativ zum Unternehmenszweck gedacht, kritisiert Alexander Estis. © Getty Images / iStock / Nuthawut Somsuk
Kompetenz ist nicht gleich Bildung
Ohne "Kompetenzen" geht heute in Schule wie Arbeitswelt nichts mehr. Der Schriftsteller Alexander Estis stellt diesen Begriff infrage, sieht darin eine Leerformel: Es gehe schlicht um die Zurichtung von Menschen, auf der Strecke bleibe die Bildung.
Die Vermittlung sogenannter Kompetenzen – wenn nicht gar „Skills“ – dominiert seit Jahrzehnten nicht allein den Bildungssektor. Kompetenzen sind bekanntlich im Assessment von einzustellendem, zu beförderndem oder sonst wie zu verwaltendem Personal ein zentrales Instrument.
Das Kompetenzmanagement auf Basis von Kompetenzprofilen gehört daher eindeutig zu den zentralen Führungskompetenzen. (Die Kompetenz, das Wort „Kompetenz“ in einem Satz mindestens dreimal zu verwenden, ist jedoch allen übrigen Führungskompetenzen übergeordnet.)
Entscheidende Vorstufe der Kapitalisierung
Wer im Lichte eines solchen Managements nicht hinreichend kompetent erscheint, wird, bevor er kapitalisiert werden kann, gründlich „kompetenzialisiert“. Dies geschieht in Trainings, Mentorings, Coachings, Workshops und Masterclasses – kurzum in ebenso zahl- wie sinnlosen Fortbildungen. Das Wort sagt es schon: Hier bewegt man sich von jeglicher Bildung fort.
Zwar werden Fortbildungen mit dem grandios plakativen Label des lebenslangen Lernens etikettiert. Oder sogar mit der stolzen Vorstellung einer Wissensgesellschaft assoziiert. Im Unternehmenskontext handelt es sich bei diesen Bemühungen jedoch vor allem um einmalige Win-win-win-Kalkulationen: Die Anbieter der Kurse kassieren; das Unternehmen poliert für insgesamt lächerliche Beträge sein Image auf und „tut etwas für seine Mitarbeiter“.
Die Mitarbeiter wiederum können sich erfolgreich vor Routinearbeit drücken. Wer eine solche Optimalsituation herstellen kann, der beweist seine unübertroffene Optimierungskompetenz. In der Fortbildung schließt sich also gewissermaßen der natürliche Kreislauf der Kompetenzen.
Beeindruckender Bund an Schlüsselkompetenzen
Zuletzt besitzt die optimal optimierte Arbeitskraft als Facility Manager ihrer Key Competencies einen veritablen Bund an Schlüsselkompetenzen, mit denen sich höchst eindrücklich rasseln lässt:
Kooperationskompetenz, Teamkompetenz, Moderationskompetenz, Führungskompetenz, Empathiekompetenz, Motivationskompetenz, Methodenkompetenz, Analysekompetenz, Problemlösungskompetenz, Deduktionskompetenz, Lernkompetenz, Planungskompetenz, Medienkompetenz, Kommunikationskompetenz, Sprachkompetenz, Anpassungskompetenz, Entscheidungskompetenz, Handlungskompetenz, ja sogar Humorkompetenz, Konfliktkompetenz und Selbstkompetenz.
An diesem illustren Bund von Schlüsselkompetenzen ist der Mensch selbst nicht mehr als ein Schlüsselanhänger.
Kompetenz nämlich wird relativ zum Unternehmenszweck gedacht: Kompetent heißt jemand, der die Aufgabe, auf die er nun einmal festgeschrieben wurde, im Hinblick auf eine Bilanz möglichst effizient erledigt. Im Gegensatz dazu ist Bildung absolut, und damit Grundlage für eine über die unmittelbare wirtschaftliche Raison hinausreichende Wirksamkeit.
Bildung bleibt riskant fürs Unternehmen
Anders als Kompetenzerwerb bleibt Bildung stets risikoreich und in ihrem Nutzen für einen konkreten unternehmerischen Zweck bestenfalls ungewiss.
Wenn ich meine exorbitante Übertreibungskompetenz einsetzen darf, komme ich zu folgendem Schluss: Kompetenz ist nichts anderes als das Vermögen, das jeweilige Evaluationstool zu bestätigen. Ihr Zweck ist es insofern nicht, eine reale Tätigkeit besonders routiniert auszuüben, sondern eine bestimmte Position in einem Unternehmen zu erlangen oder zu erhalten.
Kein Wunder also, dass der Begriff „Kompetenz“ ambig ist: Er bedeutet sowohl Befähigung als auch Befugnis. Wenn daher jemand in Wirtschaft, Politik und Verwaltung kompetent ist, etwas zu tun, dann ist er nicht unbedingt dazu fähig – aber sicherlich dazu befugt. Die wichtigste Kompetenz besteht insofern allein darin, möglichst kompetent zu erscheinen.