Schuld hat immer der Andere

Von Uwe Bork |
Ein paar Minuten an einer Großstadtkreuzung reichen. Ein paar Kilometer auf einer viel befahrenen Autobahn auch. Schon kurze Blicke auf das Verkehrsgeschehen zwischen Westerland und Watzmann, zwischen Köln und Cottbus genügen, um uns alle als prototypische Fälle für soziologische Theorien und philosophische Denkmodelle zu enthüllen. Was sollte man im Heimatland der Dichter und Denker auch anderes erwarten?
Nehmen wir beispielsweise Herrn A. (der Name ist beliebig austauschbar). Herr A. steht im abendlichen Berufsverkehr an einer Ampel und ärgert sich. Ihn macht wütend, dass er wie jeden Tag im Stau stecken geblieben ist und dass seine momentane Durchschnittsgeschwindigkeit gegen Null tendiert. Und "diese verdammten Radfahrer" - so ließe er sich zitieren, wenn ihn hinter seinen hochgedrehten Scheiben und der aufgedrehten Audio-Anlage überhaupt jemand hören könnte – diese verdammten Radfahrer quetschen sich auch noch ohne jede Furcht vor Kratzern im fremden Lack durch das allgemeine Chaos.

Nur wenig später: Herr A. hat sich seiner beengenden Büro-Bekleidung entledigt und sich im knallengen und knallbunten ‚Cyclewear’ auf sein Fahrrad geschwungen – kein schnödes Fortbewegungsmittel mehr, sondern ein Sportgerät. Autofahrer sind jetzt plötzlich seine Feinde; sie machen ihm mit ihren in der Regel völlig unnötigen Brems- und Abbiegemanövern seinen Tempo-Schnitt kaputt. Und erst die Fußgänger: Ihnen nähert er sich bevorzugt lautlos und aus dem Hinterhalt. Entkommen kann ihm nur, wer ohne zu zögern oder gar auf seine Rechte zu pochen das Weite sucht. In einen Graben, in einen Hauseingang oder am besten gleich auf den nächsten Baum.

Doch auch die Fußgänger haben ihre Guerillataktik im Krieg um jeden Meter auf der Straße. Sie grüßen längst nicht mehr den Gesslerhut des roten Ampelmännchens, sondern sie stürzen sich mit einer Todesverachtung in den fließenden Verkehr, die jedes Selbstmordkommando wie eine höchst rationale Unternehmung aussehen lässt. Sollen sie doch bremsen, diese rücksichtslosen Raser! Oder eben die Konsequenzen tragen: Einhundert Punkte in Flensburg sind noch das Mindeste, was für sie angemessen ist. Besser wäre noch die ewige Verdammnis bei sofortigem Entzug des Führerscheins!

Soziologen, die die Rollentheorie vertreten, hätten an Fallstudien wie den hier skizzierten vermutlich ihre helle Freude. Belegen sie doch, dass Autofahrer nur ihr Recht am Steuer im Kopf haben, dass Radfahrer sich benehmen, als hätten allein sie die zentrale Stelle in der Schöpfung inne, und Fußgänger nur scheinbar aus einer Position der Schwäche heraus agieren. Keiner versteht den anderen, keiner gibt sich aber auch nur die Mühe, es zu versuchen. Im Straßenverkehr sind wir genau das Volk von Rechthabern, das unsere Gerichte zu lähmen droht.

Rücksicht sieht aus dieser Perspektive aus wie ein nutzloses Handlungsmodell für Gutmenschen, die immer noch am Straßenrand stehen, während ihre weniger sensiblen Zeitgenossen schon lange auf der anderen Seite weiterlaufen.

Und wie passen in dieses düstere Bild nun die philosophischen Ideen, die anfangs erwähnt wurden? Sehr einfach, und wir dürfen uns dabei sogar auf Immanuel Kant berufen. Auf unsere Gegenwart angewendet, könnte uns sein kategorischer Imperativ nämlich Wege aus dem Verkehrsnotstand weisen. Lautet er doch: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."

Würden wir dieser Sentenz auch nur ein wenig folgen, könnten die meisten Radarfallen abgebaut und die Mehrzahl der Ampelblitzer verschrottet werden. Wir hätten nicht mehr unser Fortkommen als einzelne Fußgänger, Rad- oder Autofahrer im Sinn, was wir wollten, wäre vielmehr das Wohl aller Verkehrsteilnehmer.

Kant muss ein Spinner gewesen sein ...


Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist, seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zwei Mal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.
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