Hooligans auf Rädern
Radfahrer überschwemmen in stetig anschwellender Zahl jeden Winkel des städtischen Raums. Unzählige von ihnen scheinen es dabei für ihr angestammtes Recht zu halten, Fußgängerwege und -zonen nach Belieben in Besitz zu nehmen.
Nicht nur missachten sie dabei massenhaft sämtliche Regeln der Straßenverkehrsordnung wie des zivilisierten menschlichen Miteinanders im Allgemeinen. Sie tun dies auch mit selbstgefällig bis aggressiv zur Schau gestelltem guten Gewissen. Denn sie fühlen sich als Avantgarde eines neuen, besseren Verkehrwesens und Gesundheitsbewusstseins. Und genießen dabei massive Rückendeckung durch einen politisch-gesellschaftlichen Zeitgeist, dem der vermeintlich Unterdrückte per se als der edlere, wertvollere Mensch gilt.
Jahrzehntelang wurde das Fahrrad von einer zunächst im grün-alternativen Milieu ausgeheckten, inzwischen aber zum Mainstream verhärteten Ideologie als Inbegriff des friedfertigen, ökologisch verträglichen und gesundheitsgerechten Fortbewegungsmittels glorifiziert. Deshalb fehlt immer mehr Radfahrern heute jedes Bewusstsein dafür, dass sich ihre scheinbar so beschaulich sanfte Apparatur im Handumdrehen in eine gefährliche Waffe verwandeln kann. In ihrer Ignoranz werden sie von der offiziellen Verkehrpolitik systematisch bestärkt. Während man den Autoverkehr in den Städten immer mehr eingeschränkt, durch scharfe Kontrollen eingehegt und die Autofahrer entsprechend eingeschüchtert hat, wird die Selbstermächtigung der Radfahrer zur beliebigen Regelverletzung weitgehend unkontrolliert hingenommen.
Weil sie einst als hoch gefährdete Außenseiter im Straßenverkehr angetreten waren, haben viele Radfahrer eine Art militanten Opferstolz entwickelt. Er hat sie zu der Überzeugung gebracht, sie befänden sich a priori in einem höheren moralischen Recht. In diesem hybriden Bewusstsein haben sie der motorisierten Welt eine Form des asymmetrischem Kriegs erklärt, der darauf zielt, den übermächtigen Feind durch schiere Masse und unberechenbare Nadelstiche wie Fahren auf der falschen Straßenseite, Missachten der Vorfahrtsregeln, Ignorieren von Ampelschaltungen oder Fahren im betrunkenen Zustand und ohne Licht zu zermürben. Es genügt ihnen aber längst nicht mehr, nur die verhassten Automobilisten in Verzweiflung und Resignation zu treiben. Jetzt sind auch die Fußgänger dran.
Mit der Dauerverfolgung des Fußgängers durch Fahrradfahrer auf seinem ureigensten Terrain, dem Bürgersteig, nicht umsonst Trottoir genannt, droht aber eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften des Zeitalters bürgerlicher Urbanität geschleift zu werden: das Flanieren. Wenn das Zurücklegen von Wegen zu Fuß zum Spießrutenlaufen wird, gerät das ziellose, zweckfreie Umhergehen im öffentlichen Raum, welches das Wesen des Flanierens - oder, profaner gesprochen, des Bummelns - ausmacht, zur nervenzerfetzenden Tortur. Dabei ist es noch nicht einmal die Wahrscheinlichkeit physischer Blessur, die die Attacken von Radfahrern so unerträglich macht.
Es ist vielmehr die ständige Verunsicherung bei jedem Schritt, die Unberechenbarkeit der meist lautlos auftauchenden Gefahr, die von den regellos umherflitzenden Blechmonstern ausgeht. Und es ist die völlige Ohnmacht, mit der man dieser Invasion ausgeliefert ist. Denn da Fahrräder nicht einmal kennzeichnungspflichtig sind, ist es schier unmöglich, eines davonrasenden Hooligans auf zwei Rädern wenigstens im Nachhinein habhaft zu werden.
Doch selbst jene Radfahrer, die sich stets regelkonform verhalten, werden zu Opfern des politisch-moralisch korrekten Rowdytums. Halten sie an einer roten Ampel, werden sie von nachfolgenden Zweiradkollegen nicht selten bepöbelt, sie hielten den Verkehr auf. Auf dem Fahrradweg sehen sie sich ständig Geisterfahrern gegenüber, werden von rasenden Desperados geschnitten und abgedrängt.
Wer gar auf engen Gehwegen absteigt und sein Rad schiebt, mag bei den pedaltretenden Weltanschauungskohorten vollends als naives Weichei gelten. In Wahrheit aber sind die wenigen, die auch auf dem Drahtesel ihre Menschenpflicht nicht vergessen, stille Helden der Zivilgesellschaft. Es ist aber zu befürchten, dass sie als aussterbende Spezies auf verlorenem Posten stehen.
Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als politischer Korrespondent der "Welt" und der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und arbeitete als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT". Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".
Jahrzehntelang wurde das Fahrrad von einer zunächst im grün-alternativen Milieu ausgeheckten, inzwischen aber zum Mainstream verhärteten Ideologie als Inbegriff des friedfertigen, ökologisch verträglichen und gesundheitsgerechten Fortbewegungsmittels glorifiziert. Deshalb fehlt immer mehr Radfahrern heute jedes Bewusstsein dafür, dass sich ihre scheinbar so beschaulich sanfte Apparatur im Handumdrehen in eine gefährliche Waffe verwandeln kann. In ihrer Ignoranz werden sie von der offiziellen Verkehrpolitik systematisch bestärkt. Während man den Autoverkehr in den Städten immer mehr eingeschränkt, durch scharfe Kontrollen eingehegt und die Autofahrer entsprechend eingeschüchtert hat, wird die Selbstermächtigung der Radfahrer zur beliebigen Regelverletzung weitgehend unkontrolliert hingenommen.
Weil sie einst als hoch gefährdete Außenseiter im Straßenverkehr angetreten waren, haben viele Radfahrer eine Art militanten Opferstolz entwickelt. Er hat sie zu der Überzeugung gebracht, sie befänden sich a priori in einem höheren moralischen Recht. In diesem hybriden Bewusstsein haben sie der motorisierten Welt eine Form des asymmetrischem Kriegs erklärt, der darauf zielt, den übermächtigen Feind durch schiere Masse und unberechenbare Nadelstiche wie Fahren auf der falschen Straßenseite, Missachten der Vorfahrtsregeln, Ignorieren von Ampelschaltungen oder Fahren im betrunkenen Zustand und ohne Licht zu zermürben. Es genügt ihnen aber längst nicht mehr, nur die verhassten Automobilisten in Verzweiflung und Resignation zu treiben. Jetzt sind auch die Fußgänger dran.
Mit der Dauerverfolgung des Fußgängers durch Fahrradfahrer auf seinem ureigensten Terrain, dem Bürgersteig, nicht umsonst Trottoir genannt, droht aber eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften des Zeitalters bürgerlicher Urbanität geschleift zu werden: das Flanieren. Wenn das Zurücklegen von Wegen zu Fuß zum Spießrutenlaufen wird, gerät das ziellose, zweckfreie Umhergehen im öffentlichen Raum, welches das Wesen des Flanierens - oder, profaner gesprochen, des Bummelns - ausmacht, zur nervenzerfetzenden Tortur. Dabei ist es noch nicht einmal die Wahrscheinlichkeit physischer Blessur, die die Attacken von Radfahrern so unerträglich macht.
Es ist vielmehr die ständige Verunsicherung bei jedem Schritt, die Unberechenbarkeit der meist lautlos auftauchenden Gefahr, die von den regellos umherflitzenden Blechmonstern ausgeht. Und es ist die völlige Ohnmacht, mit der man dieser Invasion ausgeliefert ist. Denn da Fahrräder nicht einmal kennzeichnungspflichtig sind, ist es schier unmöglich, eines davonrasenden Hooligans auf zwei Rädern wenigstens im Nachhinein habhaft zu werden.
Doch selbst jene Radfahrer, die sich stets regelkonform verhalten, werden zu Opfern des politisch-moralisch korrekten Rowdytums. Halten sie an einer roten Ampel, werden sie von nachfolgenden Zweiradkollegen nicht selten bepöbelt, sie hielten den Verkehr auf. Auf dem Fahrradweg sehen sie sich ständig Geisterfahrern gegenüber, werden von rasenden Desperados geschnitten und abgedrängt.
Wer gar auf engen Gehwegen absteigt und sein Rad schiebt, mag bei den pedaltretenden Weltanschauungskohorten vollends als naives Weichei gelten. In Wahrheit aber sind die wenigen, die auch auf dem Drahtesel ihre Menschenpflicht nicht vergessen, stille Helden der Zivilgesellschaft. Es ist aber zu befürchten, dass sie als aussterbende Spezies auf verlorenem Posten stehen.
Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als politischer Korrespondent der "Welt" und der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und arbeitete als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT". Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".

Richard Herzinger© DIE ZEIT