Freiwild Radfahrer
Das Feindbild bin ich. Ich bin Radfahrer. Mountainbike mit Federgabel. Wenn ich mich im dichten Berufsverkehr auf Berlins Friedrichstraße zwischen parkenden und zäh vorwärts rollenden Autos in Richtung nächste Ampel quetsche, erwacht bei manchen Fahrern der Jagdinstinkt.
Im Rückspiegel erfassen mich ein paar Augen, schon zieht der Fahrer seine Kiste rechts ran. In der Formel 1 heißt das: Er macht die Tür zu. Ich bremse und fluche, er reckt den Effenberg-Finger. Manchmal gibt’s Sperrfeuer aus dem Seitenfenster in Form einer noch glimmenden Zigarettenkippe. Motto: Der kommt hier nicht vorbei!
Das ist harmlos. Das ist Alltag. Jeden Tag gibt es schlimmere Angriffe auf meine Gesundheit.
Hinterm Steuer wird der Mensch zum Tier. (Junge Frauen passen sich dem Trend übrigens an.) Hinter einem Radfahrer, vor oder neben ihm, wird das Tier im Blechkasten zum reißenden Tier. Radfahrer in der Großstadt fühlen sich deshalb ungefähr so wie Wild am Waldrand, dem der Geruch eines Wolfsrudels die Nüstern weitet.
Kluge Radfahrer sind deshalb allzeit brems- und fluchtbereit. Und manchmal nutzen sie, um dem Wolfsrudel aus dem Weg zu gehen, verbotene Pfade: Sie befahren Einbahnstraßen in falscher Richtung, hüpfen auf Gehsteige und missachten rote Ampeln. Dass viele Radfahrer sich über Verkehrsregeln hinwegsetzen, reizt die Wölfe zusätzlich.
Radfahrer sind die am meisten gehassten Verkehrsteilnehmer. Das liegt daran, dass sie in der City schneller vorankommen und außerhalb der Städte den Verkehrsfluss aufhalten. Beides ist für viele Autofahrer offenbar schwer auszuhalten. Vielleicht liegt es auch daran, dass Radfahrer sich als die besseren Menschen fühlen dürfen: Ihre CO2-Emmissionen sind klimaneutral, selbst wenn sie aus Anstrengung schneller atmen; und weil sie regelmäßig den eigenen Körper bewegen, schonen sie auch das Budget der Krankenkassen – sofern das nicht durch Knochenbrüche ausgeglichen wird, die ein Autofahrer zu verantworten hat, der beim Abbiegen weder blinkte noch den Verkehr auf dem Radweg beachtete.
Radfahrer sind Freiwild. Es scheint Autofahrer zu geben, für die nur ein erlegter Radfahrer ein guter Radfahrer ist.
Auf der anderen Seite negieren ignorante Pedalisten deren Existenz, beharren auf ihr Recht und rennen sich dabei manchmal den Schädel ein. Bornierte Pedalisten wähnen sich allzeit im Recht und gefährden Andere, Schwächere. Sie vergessen, dass sie bei ihren Ausweichmanövern Rücksicht auf diejenigen nehmen müssen, die nicht damit rechnen können, dass da gleich eine Wildsau aus dem Unterholz bricht.
Auf dem Gehweg und in Fußgängerzonen haben Fußgänger Hausrecht. Radfahrer sind hier bestenfalls in gezähmter Haustierform geduldet. Wer auf dem Radweg in die falsche Richtung fährt, kann nicht damit rechnen, dass er an der Kreuzung beachtet wird.
Jeder macht einmal einen Fehler, und jeder bricht, wenn’s dem Weiterkommen nutzt, einmal die Regeln. Das eigentlich Unerträgliche – übrigens nicht nur im Straßenverkehr – ist heute die Tendenz, DIE Radfahrer, DIE Autofahrer, DIE Taxifahrer zu verurteilen oder mit Schimpfworten kollektiv abzuqualifizieren. Es ist einer sich sozial wähnenden Gesellschaft nicht würdig, dass die Gruppen sich wie Feinde bekämpfen, statt sich zum gegenseitigen Nutzen im Großstadtdschungel als Partner zu helfen; dass die Zahl derer wächst, die rücksichtslos ihre eigene Interessen durchsetzen; dass alle sich Freiheit nehmen, ohne nach der Freiheit der anderen zu fragen; dass sie prinzipiell Regeln brechen, und sich dabei im Recht wähnen. Man muss kein Law-and-order-Anhänger sein, um diese Form der Anarchie zu verabscheuen.
Aber Anarchie muss nicht der Kampf jeder gegen jeden sein. Man kann die Anarchie im Straßenverkehr zum Prinzip erheben. In Bohmte in Niedersachsen haben sie das gewagt. Sie haben die Tauglichkeit der Anarchie im Straßenverkehr getestet. Dafür haben sie Ampeln und Schilder abgeschraubt, Bordsteine eingeebnet und Zebrastreifen beseitigt. Bohmte nimmt am EU-Projekt "Shared Space" teil.
Im gemeinsam genutzten Raum gibt es nur eine Regel, die für Fußgänger, Radler und Autofahrer gleichermaßen gilt: Rücksichtnahme. Im Oktober hat Bürgermeister Klaus Goedejohann auf dem "Road Safety Day" in Paris den Bedenkenträgern mit einem hübschen Vergleich den Wind aus den Segeln genommen: Auf der Eisbahn gebe es auch keine Regeln, trotzdem komme es selten zu Unfällen.
So auch in Bohmte. Der Grundgedanke ist: Ohne Regeln sind die Verkehrsteilnehmer aufmerksamer. Wir erzwingen soziales Verhalten. Oder anders: Die Straße gehört nicht den Autofahrern allein. Sie gehört auch nicht den Radfahrern und den Fußgängern. Die Straße gehört allen, und der Schwächere hat Vorfahrt.
Dieses Prinzip sollte eine allseits akzeptierte Regel sein, wo immer Menschen sich begegnen.
Peter Köpf ist stellvertretender Chefredakteur von "The German Times" und "The Atlantic Times". Er schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Hilfe, ich werde konservativ. Die Zeiten ändern sich – meine Überzeugungen nicht". Mehr: www.denk-bar.de
Das ist harmlos. Das ist Alltag. Jeden Tag gibt es schlimmere Angriffe auf meine Gesundheit.
Hinterm Steuer wird der Mensch zum Tier. (Junge Frauen passen sich dem Trend übrigens an.) Hinter einem Radfahrer, vor oder neben ihm, wird das Tier im Blechkasten zum reißenden Tier. Radfahrer in der Großstadt fühlen sich deshalb ungefähr so wie Wild am Waldrand, dem der Geruch eines Wolfsrudels die Nüstern weitet.
Kluge Radfahrer sind deshalb allzeit brems- und fluchtbereit. Und manchmal nutzen sie, um dem Wolfsrudel aus dem Weg zu gehen, verbotene Pfade: Sie befahren Einbahnstraßen in falscher Richtung, hüpfen auf Gehsteige und missachten rote Ampeln. Dass viele Radfahrer sich über Verkehrsregeln hinwegsetzen, reizt die Wölfe zusätzlich.
Radfahrer sind die am meisten gehassten Verkehrsteilnehmer. Das liegt daran, dass sie in der City schneller vorankommen und außerhalb der Städte den Verkehrsfluss aufhalten. Beides ist für viele Autofahrer offenbar schwer auszuhalten. Vielleicht liegt es auch daran, dass Radfahrer sich als die besseren Menschen fühlen dürfen: Ihre CO2-Emmissionen sind klimaneutral, selbst wenn sie aus Anstrengung schneller atmen; und weil sie regelmäßig den eigenen Körper bewegen, schonen sie auch das Budget der Krankenkassen – sofern das nicht durch Knochenbrüche ausgeglichen wird, die ein Autofahrer zu verantworten hat, der beim Abbiegen weder blinkte noch den Verkehr auf dem Radweg beachtete.
Radfahrer sind Freiwild. Es scheint Autofahrer zu geben, für die nur ein erlegter Radfahrer ein guter Radfahrer ist.
Auf der anderen Seite negieren ignorante Pedalisten deren Existenz, beharren auf ihr Recht und rennen sich dabei manchmal den Schädel ein. Bornierte Pedalisten wähnen sich allzeit im Recht und gefährden Andere, Schwächere. Sie vergessen, dass sie bei ihren Ausweichmanövern Rücksicht auf diejenigen nehmen müssen, die nicht damit rechnen können, dass da gleich eine Wildsau aus dem Unterholz bricht.
Auf dem Gehweg und in Fußgängerzonen haben Fußgänger Hausrecht. Radfahrer sind hier bestenfalls in gezähmter Haustierform geduldet. Wer auf dem Radweg in die falsche Richtung fährt, kann nicht damit rechnen, dass er an der Kreuzung beachtet wird.
Jeder macht einmal einen Fehler, und jeder bricht, wenn’s dem Weiterkommen nutzt, einmal die Regeln. Das eigentlich Unerträgliche – übrigens nicht nur im Straßenverkehr – ist heute die Tendenz, DIE Radfahrer, DIE Autofahrer, DIE Taxifahrer zu verurteilen oder mit Schimpfworten kollektiv abzuqualifizieren. Es ist einer sich sozial wähnenden Gesellschaft nicht würdig, dass die Gruppen sich wie Feinde bekämpfen, statt sich zum gegenseitigen Nutzen im Großstadtdschungel als Partner zu helfen; dass die Zahl derer wächst, die rücksichtslos ihre eigene Interessen durchsetzen; dass alle sich Freiheit nehmen, ohne nach der Freiheit der anderen zu fragen; dass sie prinzipiell Regeln brechen, und sich dabei im Recht wähnen. Man muss kein Law-and-order-Anhänger sein, um diese Form der Anarchie zu verabscheuen.
Aber Anarchie muss nicht der Kampf jeder gegen jeden sein. Man kann die Anarchie im Straßenverkehr zum Prinzip erheben. In Bohmte in Niedersachsen haben sie das gewagt. Sie haben die Tauglichkeit der Anarchie im Straßenverkehr getestet. Dafür haben sie Ampeln und Schilder abgeschraubt, Bordsteine eingeebnet und Zebrastreifen beseitigt. Bohmte nimmt am EU-Projekt "Shared Space" teil.
Im gemeinsam genutzten Raum gibt es nur eine Regel, die für Fußgänger, Radler und Autofahrer gleichermaßen gilt: Rücksichtnahme. Im Oktober hat Bürgermeister Klaus Goedejohann auf dem "Road Safety Day" in Paris den Bedenkenträgern mit einem hübschen Vergleich den Wind aus den Segeln genommen: Auf der Eisbahn gebe es auch keine Regeln, trotzdem komme es selten zu Unfällen.
So auch in Bohmte. Der Grundgedanke ist: Ohne Regeln sind die Verkehrsteilnehmer aufmerksamer. Wir erzwingen soziales Verhalten. Oder anders: Die Straße gehört nicht den Autofahrern allein. Sie gehört auch nicht den Radfahrern und den Fußgängern. Die Straße gehört allen, und der Schwächere hat Vorfahrt.
Dieses Prinzip sollte eine allseits akzeptierte Regel sein, wo immer Menschen sich begegnen.
Peter Köpf ist stellvertretender Chefredakteur von "The German Times" und "The Atlantic Times". Er schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Hilfe, ich werde konservativ. Die Zeiten ändern sich – meine Überzeugungen nicht". Mehr: www.denk-bar.de