Schriftsteller Wolf Wondratschek

"Ich kann Menschen in Gruppen kaum noch ertragen"

Wolf Wondratschek sitzt nachdenklich auf einer Couch und hält in lockerer Pose eine Zigarette, aufgenommen 2015
Unser Gesprächsgast: Der Schriftsteller Wolf Wondratschek. © imago stock&people
Wolf Wondratschek im Gespräch mit Frank Meyer · 29.08.2018
Als junger Dichter inszenierte er sich gerne als Bad Boy des Literaturbetriebs, und auch mit 75 ist Wolf Wondratschek kein Gefälligkeitsdichter: "Ich kann Blabla nicht ertragen, ich stehe auf, wenn es mir nicht mehr gefällt, wenn es mich langweilt."
Frank Meyer: "Früher begann der Tag mit einer Schusswunde" – Mit diesem Titel ist Wolf Wondratschek 1969 angetreten, da war er Mitte 20. Der Titel sagt schon eine Menge über den Wondratschek dieser Zeit. "Berufsrebell", "Hurendichter" – mit solchen Schlagworten hat man ihn damals gefeiert. Und wirklich gefeiert. Sein Buch "Chucks Zimmer" aus dem Jahr 1974 hat sich 300.000 Mal verkauft, ein unglaublicher Erfolg für einen Gedichtband hier bei uns.
Später hat Wolf Wondratschek ganz andere Bücher geschrieben, das gehört unbedingt auch zu seiner Geschichte. Als "nahezu klassischer Feingeist", so hat ein Kritiker das formuliert.

"Eigentlich ist er unerträglich"

Herr Wondratschek, Sie werden morgen wieder gefeiert im Literaturhaus Berlin zu Ihrem 75. Geburtstag, der schon ein bisschen zurückliegt, aber das ist jetzt der Anlass. Diese Festivität steht unter einer denkwürdigen Überschrift, nämlich "Eigentlich ist er unerträglich". Ich würde ins Grübeln kommen, wenn mein Geburtstag unter so einer Überschrift stünde.
Wondratschek: Nein, nein. Ich habe meinem Verleger Gunnar Cynybulk gratuliert. Ich habe ihn sofort angerufen, als ich diese Einladungskarte hatte, habe gesagt: Ihr traut euch was, ihr seid fantastisch! Offensichtlich bin ich wirklich beim richtigen Verlag. Das ist ein Zitat von Peter Berling, der auch jetzt vor ein paar Monaten gestorben ist, dieser Doyen des jungen deutschen Films, der hat das mal gesagt vor einer Kamera.
Meyer: Über Sie?
Wondratschek: Ja, über mich. Er hat dann noch etwas hinzugefügt: "Er kann verdammt gut schreiben – aber eigentlich ist er unerträglich." Ich kann das unterschreiben, ja. Ich verstehe, dass die Leute auf mich so reagieren.
Meyer: Das müssen Sie uns dann jetzt erklären. Was ist denn Ihre unerträgliche Seite?

"Ich bin ernsthaft, ich bin ein Böhme"

Wondratschek: Es ging in meiner Kindheit schon los. Ich war ein sehr ernstes Kind. Ich war für keine Späße zu haben. Und dieser Ernst ist mir eigentlich geblieben. Ich fand das Leben so langweilig, und ich habe wirklich ernsthaft nach dem Sinn des Lebens gesucht. Ich war also nicht ein Typ, der im Freibad den Mädchen mit Nivea den Rücken eingecremt hat, was meine Freunde alle getan haben und sich amüsiert.
Ich bin ernsthaft, ich bin ein Böhme, mein Name ist ja ein böhmischer Name, Wondratschek. Und es ist eine starke dunkle Färbung in meinem Charakter, die im Alter immer stärker wird. Und das macht mich unerträglich für viele. Ich kann Menschen eigentlich in Gruppen kaum noch ertragen. Ich kann Blabla nicht ertragen, ich stehe auf, wenn es mir nicht mehr gefällt, wenn es mich langweilt.
Diese Radikalität, die man dem jugendlichen Dichter Wolf Wondratschek nachsagt, ist eigentlich noch immer da, wenn sie nicht sogar noch stärker wird.
Meyer: Dann bin ich mal gespannt, wie wir hier miteinander durch diese Stunde kommen.
Wondratschek: Wir kommen gut miteinander aus.
Cover des Buches "Selbstbildnis mit russischem Klavier" von Wolf Wondratschek, im Hintergrund eine Klaviertastatur.
Cover des Buches "Selbstbildnis mit russischem Klavier" von Wolf Wondratschek© Cover: Ullstein / Hintergrund: Imago
Meyer: Aber wenn Sie das so sagen, muss ich natürlich auch an Ihr neues Buch denken, "Selbstbild mit russischem Klavier". Das ist so eine Art Gesprächsbuch, ein Wiener Schriftsteller trifft einen russischen Pianisten, einen alten Mann, der seine Karriere beendet hat.
Und was Sie gerade sagen von dieser Einsamkeit und den Menschenmengen, dieser russische Pianist Suworin hat eine Eigenart: Er kann nämlich Applaus nicht ausstehen. Er findet das geradezu widerlich, wenn ihm das klassische Konzertpublikum applaudiert. So wie Sie das gerade erzählt haben von sich, könnte Ihnen das auch nahe sein, dieser Widerwille?
Wondratschek: Das ist mir natürlich sehr nahe, und das sind auch deswegen … ich meine, einerseits russisches Klavier, – ich bin ja gar kein Klavierspieler –, auf der anderen Seite heißt es ja "Selbstbild". Es gehen die Informationen von einem Charakter, vom alten Russen, zu dem Wiener Schriftsteller hin und her. Ja, ich leide wie Suworin, ich hab ihm sozusagen einen Charakterzug von mir ausgeliehen, habe es dann aber gestaltet in eine Geschichte. Es kostet Suworin ja seine Karriere.
Und er kann nicht mehr mit einer Welt leben, in der nach dem letzten Ton einer Sinfonie das Publikum – das ist noch nicht verklungen, schreit das Publikum "Bravo!" Das ist eine furchtbare Barbarei, die sich in unseren Konzertsälen … sie applaudieren nicht der Musik, sie applaudieren nicht der Leistung, sondern sie applaudieren einem Superstar, einem Dirigenten oder einem Solisten.
Das heißt, in die Menschen dringt – jetzt müssen Sie sich mal vorstellen, die zweite Sinfonie Sibelius, was da passiert. Da dringt nichts mehr in das Herz, in die Seele, in die Körper, in die Menschen ein, sonst wären sie hilflos, sie würden schweigen.
Meyer: Wenn man das jetzt von der Musik auf Sie überträgt, was wäre in Ihrem Fall, bei Ihrem Werk ein solcher falscher Applaus?
Wondratschek: Suworin sagt ja, wie er die Dichter beneidet. Sie üben ihre Kunst in völliger Einsamkeit aus, dann geht das durch irgendwelche Kanäle bestenfalls zu einem Verlag, und der Autor ist nicht mehr anwesend. Also das, was jetzt passiert mit meinem Debüt bei Ullstein – und Ullstein wird ja mein gesamtes Lebenswerk herausbringen …

"Ich kann abtauchen"

Meyer: Das ist Ihr neuer Verlag, Ullstein.
Wondratschek: Ja. Also ein großer, mächtiger, historisch bedeutsamer Verlag. Ich bin sehr stolz, da zu sein, weil er auch der erste Verlag von Nabokov war und von Joan Didion – es sind große Autoren da.
Suworin muss seine Kunst auf dem Konzertpodium ausüben und ist natürlich dem Applaus ausgesetzt. Ich kann abtauchen. Wir haben hier kein Publikum. Wir schauen uns an, Sie haben ein offenes, gutes, kluges Gesicht, und ich fühle mich wohl, verstehen Sie? Deswegen, auch in dem Roman wird darüber geschrieben, wie er die Dichter beneidet, dass sie eigentlich ihre Arbeit nicht vor Publikum machen müssen.
Meyer: Lassen Sie uns mal zuerst eines Ihrer frühen Gedichte hören, und zwar gelesen vom jungen, vom 29-jährigen Wolf Wondratschek. Ich hoffe, das ist okay für Sie, Ihr jüngeres Selbst wiederzuhören.
Glücksfälle – ein Cartoon
Starkstromleitungen berühren und genau wissen, dass man nicht enttäuscht sein wird.
Sich einen Strick um den Hals legen und sehr daran hängen.
Die Pistole gegen die eigene Schläfe halten und hoffen, tief beeindruckt zu werden.
Vom letzten Stockwerk eines hohen Hauses springen, um wirklich einmal richtig aufzufallen.
Auch der Sprung aus neun Meter Höhe kann ein Glücksfall sein.
Es genügt aber nicht, sich ein Bein auszureißen, den Kopf zu verlieren, vor Freude zu platzen, vor Vergnügen zu sterben, vor Scham in den Boden zu versinken, im Geld zu ersticken; sich einfach treiben zu lassen, sich kaputtzulachen, sich zu halbieren, sich umzubringen jeden Tag.
Den Gashahn aufdrehen, dann hat man die Nase für immer voll.
30 Schlaftabletten schlucken, um wirklich seine Ruhe zu haben.
Das Auto gegen einen Baum fahren und froh sein, wenn man sein Ziel endlich erreicht hat.
Aus dem fahrenden Schnellzug springen und ganz sicher sein, sich dieses Mal nicht wieder in der Tür geirrt zu haben.
Russisches Roulette spielen und sofort gewinnen.
Eine Rasierklinge nehmen, und die ganze Sache ist geritzt.
Meyer: "Russisches Roulette spielen und sofort gewinnen". Ein Gedicht aus dem Band "Omnibus" von Wolf Wondratschek, 1972 ist er herausgekommen. Aus der Zeit stammt auch diese Lesung. Sie haben ein bisschen gelacht, als Sie sich da selbst wiedergehört haben.
Wondratschek: Ja, aus Freude! Ist ein gutes Gedicht, hält immer noch, obwohl es so alt ist. Und ich finde, ich habe das toll gelesen!
Meyer: Muss ich auch sagen. Aber das hat ja so einen sarkastischen Ton natürlich.
Wondratschek: Absolut.
Meyer: Ist das auch ein Blick aufs Leben, mit dem Sie heute noch mitgehen können.
Wondratschek: Nein. Ich bin nicht sarkastisch, ich bin nicht einmal ironisch und auch nicht zynisch. Nein, das war ein Spiel mit Todesarten, und die habe ich einfach umgedreht.

Neu-Edition des Gesamtwerks im Ullstein-Verlag

Meyer: Das ist jetzt erschienen, diese große Gedichtausgabe im Ullstein-Verlag. Das ist auch interessant, weil Sie in den letzten Jahren ganz ungewöhnliche Wege gegangen sind bei der Veröffentlichung Ihrer Bücher. Sie haben zum Beispiel einen Roman, "Selbstbildnis mit Ratte", da hatten Sie offenbar keine vernünftigen Angebote von Verlagen bekommen, und Sie haben den Roman dann exklusiv in einem Exemplar an einen Mäzen verkauft, 2015 war das.
Und mit Gedichtmanuskripten haben Sie ähnliche exklusive Sachen gemacht. Mit welchem Angebot hat Sie denn der Ullstein-Verlag jetzt in die öffentlich zugängliche Literaturwelt zurückgeholt?
Wondratschek: Mit einem sehr guten.
Meyer: Und das heißt?
Wondratschek: Um es seriös zu sagen, die Verträge, die ich gemacht habe – ich mache ja immer zeitlich begrenzte Verträge –, die liefen überall aus. Das heißt, ich wäre 2018 überhaupt nicht mehr vertreten. Man würde nie mehr ein Buch in einer Buchhandlung kaufen. Das war die Entscheidung. Will ich das? Will ich völlig verschwinden? Das hat seine Vorteile, aber natürlich auch Nachteile.
Und so verfügte ich über die Rechte von meinem gesamten literarischen Werk, von den ersten Sachen bis jetzt. Und dann hat mir Ullstein ein Angebot gemacht, dass sie mich wieder auflegen, dass sie mein Werk nacheinander neu edieren und in den Buchhandel bringen. Das heißt, der Vertrag läuft elf Jahre. Ich bin jetzt die nächsten elf Jahre, dann muss ich ehrlich sagen, Sie haben den Geburtstag angesprochen –
Meyer: Den fünfundsiebzigsten …
Wondratschek: Ich bin dann 86, und ich vermute nicht, dass ich das noch lebend erleben werde. Das wäre einfach auch vermessen. Ich meine, 75 war schon jenseits aller Schallmauern, die ich mir vorstellen konnte, als ich 30 war. Damals war ja die 27 das Datum für das Abkratzen eigentlich. Aber nein, jetzt bin ich 75. Jedenfalls werde ich für elf Jahre mit meinem gesamten Werk und einigen neuen Büchern, die noch entstehen werden – ich habe auch einen Vertrag über einen neuen Roman noch abgeschlossen –, die sind im Buchhandel erhältlich und für Leser auch erhältlich. Das war die Idee.
Wolf Wondratschek spricht in ein Mikro.
Früher hartgesottener Rebell, heute Genießer von Hochkultur: Wolf Wondratschek© dpa / picture alliance / Horst Galuschka

Gedichte für den Sohn

Meyer: Dann lassen Sie uns mal ein bisschen reinschauen in diese Ausgabe, die jetzt erschienen ist. Ein Band ist dabei, der heißt "Raoulito-Gedichte". Was sind denn Raoulito-Gedichte?
Wondratschek: Raoulito ist mein Sohn, der ist jetzt mittlerweile auch 27, lebt auch hier in Berlin im Übrigen. Ich lebe ja in Wien. Und Raoulito, als er zur Welt kam, habe ich Gedichte erst einmal geschrieben über die Tatsache, dass da jetzt ein ganz kleiner Mensch in meinem Leben auftaucht. Dann habe ich immer wieder zum Geburtstag und zu Weihnachten im Wesentlichen meinem Sohn, der heranwuchs, Gedichte geschrieben, für ihn. Und das war eigentlich nie gedacht, dass man das publiziert.
Ich habe diese Gedichte frankiert, in den Umschlag getan und habe sie ihm gegeben oder geschickt. An Weihnachten habe ich sie ihm gegeben, wobei er dann lernte, dass nicht in jedem zugeklebten Briefkuvert ein Geldschein ist, sondern ein Gedicht.
Meyer: Das ist ja die größere Gabe. Jetzt haben Sie noch ein kurzes Gedicht für uns, das Sie uns vorlesen würden.
Wondratschek: Ja, würde ich gern. Das ist aus dem letzten Band, dem 13., der ein bisschen alles sammelt, was so verstreut entstanden ist, "Gedichte für die linke Hand", und da lese ich ein Gedicht, das ich selbst sehr gerne habe.
"Was wäre Liebe ohne diesen Riss
Von oben bis unten Es machte keinen Sinn
Gäbe es Gewissheit Ohne Anmaßung
Will sie nicht gelingen Ohne Sünde
Wäre sie vergessen Ohne Verzeihen
Undenkbar Unbrauchbar ohne Demut."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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