Schriftsteller Valentin Senger

"Tausend Zufälle" ließen ihn überleben

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Der Journalist und Schriftsteller Valentin Senger © dpa
Von Rolf Wiggershaus · 28.12.2018
Eine Familie russisch-jüdischer Abstammung überlebt das Nazi-Regime in Frankfurt am Main: Seine Lebensgeschichte erzählte Valentin Senger 1978 in dem Buch "Kaiserhofstraße 12". Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller und Journalist geboren.
"Wir sind eine jüdische Familie gewesen, die in Frankfurt, im Herzen Frankfurts eben, in der Kaiserhofstraße 12, überlebt hat mit falschen Papieren, falschem Namen, aber nicht versteckt irgendwie so wie Anne Frank auf dem Dachboden, sondern einfach pseudo-normal unter der anderen Bevölkerung. Aber ständig in der Angst, entdeckt zu werden."
"Kaiserhofstraße 12" lautete der Titel des Buches, mit dem Valentin Senger, Fernsehredakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt am Main, 1978 über Nacht berühmt wurde. In dem autobiografischen Roman erzählte er die unglaubliche Geschichte vom Überleben einer staatenlosen, kommunistisch gesinnten russisch-jüdischen Familie mitten in der Stadt während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur:
"Wir lebten Monat für Monat, Jahr für Jahr, in Angst. Und es waren tausend Zufälle, die es uns möglich machten zu überleben."

Flüchtlinge aus Russland

Begonnen hatten die Probleme für die Familie schon viel früher. Valentin Sengers Eltern waren nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 als Kommunisten und Juden aus dem zaristischen Russland geflohen und hatten schließlich um das Jahr 1911 in Frankfurt am Main mit gefälschten Papieren unter dem falschen Namen Senger ein neues Zuhause gefunden. Der Vater war Fabrikarbeiter und sprach außer Russisch nur Jiddisch; die Mutter, eine geschäftige und in vielen Organisationen engagierte Frau, hatte für ihre Kinder – den am 28. Dezember 1918 geborenen Valentin und seine zwei Geschwister – wenig Zeit.
"Wir waren also drei Kinder zuhause, die alle drei gewusst haben, was mit unserer Familie los ist, sowohl politisch wie auch was unser Judentum anbelangt, und die darum immer und immer, ob es in der Schule oder später in der Lehre, ob es auf der Straße bei den Schülern war, immer und immer lügen, die Wahrheit verbergen mussten. Die immer etwas sagen mussten, was sie unter Kontrolle hatten."

Keiner fragte nach dem Judenstern

Aber dass es eines Tages lebensgefährlich sein würde, Jude zu sein – damit hatte die Mutter bei all ihren Vorsichtsmaßnahmen in einer so liberalen und weltoffenen Stadt wie Frankfurt nicht gerechnet. Umso größer das Wunder, dass die Angabe "mosaisch" in der Meldekarte der Familie nicht zum Verhängnis wurde. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der Polizeimeister Kaspar, zu dessen Revier die Kaiserhofstraße gehörte. Er nahm mehrfach Änderungen an der Meldekarte vor und verhinderte, dass die Familie Senger auf eine "Judenliste" kam, die noch die letzten Juden in Frankfurt erfassen sollte, um sie zu deportieren und zu vernichten.
Wie ein Wunder wirkt auch, dass es zu keiner Denunziation kam, selbst nicht seitens derer, die, wie Valentin Senger in "Kaiserhofstraße 12" berichtet, ihn früher beim Spielen als Beschnittenen bloßgestellt und gedemütigt hatten:
"Wir wohnten weiter zusammen in der Kaiserhofstraße. Hitler kam, der Judenboykott, die Kristallnacht, die Judenverfolgungen, der Krieg. Und immer sah ich die von der Clique, oft in ihren Uniformen. Und sie sahen mich, sprachen sogar mit mir. Jeder einzelne hätte fragen können: 'Wieso bist du noch da? Warum trägst du keinen Judenstern?' Doch keiner fragte."

Als Kommunist abgestempelt

Auf das in viele Sprachen übersetzte Buch "Kaiserhofstraße 12" folgte 1984 der Fortsetzungsband "Kurzer Frühling". Für den Sohn ehemaliger russisch-jüdischer Revolutionäre hatte es nahegelegen, sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur als Mitglied der Kommunistischen Partei für eine sozialistische Zukunft zu engagieren. Erst Chruschtschows Enthüllungen über die Verbrechen Stalins führten zur Trennung von der Partei, die darauf mit einer Diffamierungskampagne gegen Valentin Senger und seine Frau Irmgard reagierte.
Einmal als Kommunist abgestempelt, erlebte Senger die Ablehnung sowohl seiner Einbürgerungsanträge wie auch seiner Bemühungen um Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde. Gemeindemitglied wurde er erst 1971, Deutscher erst 1981. Dass er Mitte der 1960er-Jahre beim Hessischen Rundfunk Fuß fassen konnte, hatte er wiederum glücklichen Zufällen und unvoreingenommenen und unkonventionell handelnden Einzelnen zu verdanken. Er starb 1997.
Eine Ehrung besonderer Art erfolgte posthum. "Kaiserhofstraße 12" stand 2010 als erstes Werk im Mittelpunkt des jährlichen Lesefestes "Frankfurt liest ein Buch".
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