Schriftsteller Jurek Becker

Fröhlich wie selten

Der Autor Jurek Becker auf einer undatierten Aufnahme.
Der Autor Jurek Becker auf einer undatierten Aufnahme. © imago stock&people
Von Vera Teichmann |
Weltbekannt wurde er mit seinem Roman "Jakob der Lügner", aber in Deutschland auch als Drehbuchautor für die Serie "Liebling Kreuzberg": Jurek Becker erlebte den Holocaust und die Repressalien der DDR – das bewegte Leben eines kritischen Schriftstellers.
"Ich wurde am, in, als einziges. Mein Vater war, meine Mutter. Bei Kriegsanbruch kam ich, wo ich bis zum. Nach Ende des blieb mein Vater mit mir, was ich bis heute nicht. Er hätte doch auch. Jedenfalls ging ich zur und wurde ein halbwegs normales. Das änderte sich, als ich den Beruf eines. Wenn ich auf mein bisheriges zurückblicke, dann muss ich leider sagen."
Der Autor des Romans "Jakob der Lügner" und der erfolgreichen Fernsehserie "Liebling Kreuzberg" beherrschte es meisterhaft, literarische Miniaturen auf Postkarten zu schreiben – hier seinen Lebenslauf.
Ob Jurek Becker ein fröhlicher Mensch war, wurde der Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki, der ihn recht gut gekannt hat, einmal von einem interessierten Leser gefragt. Die Antwort:
"Er war ein begabter, witziger, freundlicher, liebenswürdiger Mensch. Ein fröhlicher? Er war Jude, und ich bin nicht sicher, ob ein Jude, der das erleben musste, was Becker erlebt hat, fröhlich sein kann."
Entscheidend für seinen Gemütszustand war vielleicht weniger das, was Jurek Becker im Leben widerfahren ist, als vielmehr die Haltung, die er beschlossen hat, dazu einzunehmen: Was man nicht ändern kann, darüber lohnt es nicht zu grübeln, aber für das, was man in der Hand hat, lohnt es zu kämpfen.

Die Erstausstrahlung dieser Langen Nacht war am 30. Dezember 2017, anlässlich des 80. Geburtstages von Jurek Becker.

Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF / Manuskript als TXT. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.

Kindheit und Jugend von Jurek Becker

Im Geburtsjahr 1937 von Jurek Becker lebten etwa drei Millionen Juden in Polen; von den rund 700.000 Einwohner in Lodz war ein Drittel jüdisch. Die antisemitisch eingestellte Regierung, die zwei Jahre zuvor an die Macht gekommen war, wollten den polnischen Juden jedoch die bürgerlichen Rechte entziehen, sie vom wirtschaftlichen und kulturellen Leben ausschließen und einen Großteil der jüdischen Bevölkerung ausbürgern.
"Als ich zwei Jahre alt war, kam ich in dieses Getto, mit fünf verließ ich es wieder in Richtung Lager. So hat man es mir erzählt, so steht es in meinen Papieren, so war folglich meine Kindheit. Manchmal denke ich: Schade, dass dort nicht etwas anderes steht. Jedenfalls kenne ich das Getto nur vom dürftigen Hörensagen."
Die Familie Becker, mit einer ehemals weit verzweigten Verwandtschaft in Polen, hatte sich nach dem NS-Terrorregime auf Vater und Sohn reduziert.
"Nach dem Krieg blieb mein Vater mit mir in Berlin, aus Gründen, hinter die ich wieder nur mit Vermutungen kommen kann. Ich denke mir, dass er im Krieg insofern die Heimat verloren hatte, als Heimat in erster Linie aus ja aus Menschen besteht und nicht aus Landschaft; aus Verwandten, Freunden, Vertrauten. Die waren nicht mehr da, die waren tot, im glücklichsten Fall spurlos verschwunden. Er hat gemeint, in seiner alten Umgebung, in Polen, sei der Antisemitismus ja nicht erst mit dem Auftauchen der Deutschen entstanden. Und je weniger Juden es dort gebe, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass man ihnen das Leben sauer machte." (Jurek Becker, aus "Mein Judentum")
Um seinen Sohn so gut wie möglich zu versorgen, handelte Mjetek Becker, wie viele andere, auf dem Schwarzmarkt. Er sprach mit Jurek ausschließlich Deutsch, damit dieser die Sprache schneller lernte. Mjetek selbst sprach Zeit seines Lebens mit einem deutlichen Akzent. In seiner ersten Poetik-Vorlesung an der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe Universität im Mai 1989 schildert der Schriftsteller, wie er sich die deutsche Sprache angeeignet hat:
"Für keine schulische Leistung belohnte mein Vater mich so reichlich, wie für gute Noten bei Diktat und Aufsatz. Wir entwickelten gemeinsam ein übersichtliches Lohnsystem: Für eine geschriebene Seite gab es im Idealfall eine Summe von fünfzig Pfennig, jeder Fehler brachte einen Abzug von fünf Pfennig.
So lernte ich nebenbei Rechnen." (Jurek Becker aus "Warnung vor dem Schriftsteller. Frankfurter Vorlesungen zur Poetik")

Der Roman "Jakob der Lügner"

Jurek Becker hatte nach mehreren erfolgreich verfilmten Drehbüchern seinen ersten Roman vollendet, der 1969 erschien: "Jakob der Lügner". Die Geschichte von Jakob Heym, der im Getto einer polnischen Stadt ein Radio erfindet, um seinen Mitgefangenen mit Nachrichten von der baldigen Befreiung Hoffnung zu schenken, erzählt Jurek Becker mit leisen Tönen. Seine Protagonisten lässt er weder klagen noch anklagen, das Grauen entsteht allein aus dem Kontrast zwischen dem heiteren Plauderton der Erzählung und dem geschilderten Leben und Sterben im Getto.
Jakob selbst ist eher das Gegenteil eines Helden, er ist nicht mutig, sondern gerät fast wider Willen in die Position des Hoffnungsträgers. Konsequenterweise haben seine wortreichen Erfindungen letztendlich auch keinen Einfluss auf den tatsächlichen Verlauf des Geschehens. Bevor die Russen das Getto erreichen, wird es geräumt.
"Der Jakob ist mein Lieblingsbuch. Und Jurek hatte auch eine schöne Angewohnheit: was er am Tag vorher geschrieben hat, das hat er mir am nächsten Tag, wenn die Kinder in der Schule waren, meistens vorgelesen. Und ich durfte meine Meinung dazu äußern." (Rieke Becker)
Die Lektorin Elisabeth Borchers erwarb die Rechte an "Jakob der Lügner" für den westdeutschen Luchterhand Verlag, der den Roman im Herbst 1970 veröffentlichte. Daraufhin wurden weitere Auslandsrechte verkauft; bis heute ist der Roman in 24 Sprachen erschienen. Für seinen ersten Roman ehrte die Akademie der Künste in der DDR den Autor mit dem Heinrich-Mann-Preis, in der Schweiz wurde ihm der Charles-Veillon-Preis zugesprochen.
Der Schriftsteller Hermann Kant (M) beglückwünscht seinen Kollegen Jurek Becker (l) im März 1971 zum Heinrich-Mann-Preis während der Eröffnung einer Heinrich-Mann-Ausstellung in der Ost-Berliner Stadtbibliothek.
Der Schriftsteller Hermann Kant (m) beglückwünscht seinen Kollegen Jurek Becker (l) im März 1971 zum Heinrich-Mann-Preis.© dpa
Nun meldete die DEFA Interesse an der Verfilmung an und bat Becker, das Drehbuch zu schreiben. Als die Meldung von der Verfilmung durch die Medien ging, erhielt Jurek Becker ein Telegramm von Heinz Rühmann, der darum bat, die Rolle des Jakob Heym spielen zu dürfen. Dieses sehr verlockende Angebot im Hinblick auf den Erfolg des Filmes, lehnte Erich Honecker persönlich mit der Begründung ab, dass zwei grundsätzlich verschiedene deutsche Staaten existierten und es keinen Hinweis auf eine gemeinsame Kultur geben dürfe.
Die offizielle Premiere von "Jakob der Lügner" fand im Dezember 1974 im DDR-Fernsehen statt, die Kinopremiere im April 1975. Jurek Becker und der Regisseur Frank Beyer wurden mit dem Nationalpreis zweiter Klasse ausgezeichnet. Bei den 25. Filmfestspielen in Westberlin erhielt der Film den silbernen Bären, zudem wurde er als einzige Produktion der DEFA in der Kategorie "Bester Ausländischer Film" für den Oscar nominiert. Jurek Becker war zu einem Schriftsteller geworden, dessen Renommee weit über die Landes- und Sprachgrenzen hinaus reichte.

Roman "Irreführung der Behörden"

"Irreführung der Behörden", Beckers zweiter Roman, erschien 1972 im Rostocker Hinstorff Verlag und als Lizenzausgabe bei Suhrkamp. Für dieses Buch erhielt der Autor den mit 10.000 DM dotierten Literaturpreis der Stadt Bremen. Da die einzige andere Preisträgerin Christa Reinig aus der DDR nach der Preisverleihung 1964 nicht wieder ins Land zurückgekehrt war, wurde Becker vom Zentralkomitee der SED dringend abgeraten, den Preis anzunehmen. Weil es ihm jedoch auch nicht ausdrücklich verboten wurde, fuhr er nach Bremen. Seine Aussagen gegenüber der westlichen Presse wurden selbstverständlich äußerst kritisch unter die Lupe genommen.
"In diesem letzten, größeren veröffentlichtem Werk, wie auch in den Diskussionen während der Ereignisse 1968 in der CSSR, zeigt sich B. recht schwankend und ungefestigt in seiner ideologischen Haltung", wird in einem Auskunftsbericht der Stasi-Verwaltung konstatiert.
Der DDR-Schriftsteller Jurek Becker am 26.1.1974 in Bremen.
Der DDR-Schriftsteller Jurek Becker 1974 in Bremen.© dpa
Direkt nach der Verleihung des Bremer Literaturpreises hielt Becker die Eröffnungsrede beim VII. Schriftstellerkongress der DDR. In seinem "Literatur und Wirklichkeit" betitelten Vortrag postulierte er, dass es die Aufgabe von Literatur sei, Unruhe zu stiften, indem sie Fragen stelle sowie Widersprüche und Fehlentwicklungen in der Wirklichkeit aufzeige. Er sprach sich gegen das Abhängigkeitsverhältnis von Autoren zu ihren Verlagen aus, das geprägt sei durch die Fragestellung "Kriege ich das durch?", was eine sozialistische Gartenlaubenliteratur zur Folge habe.
Jurek Becker war berühmt und suspekt geworden.

Wolf Biermanns Ausbürgerung

Gegen den regimekritischen Dichter und Liedermacher Wolf Biermann, der als überzeugter Kommunist 1953 von Hamburg in die DDR übersiedelt war, war Mitte der 60er-Jahre ein vollständiges Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR verhängt worden. Als die IG Metall Biermann 1976 einlud, Konzerte in der Bundesrepublik zu geben, wurde ihm im Anschluss die Wiedereinreise in die DDR verweigert und die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt.
Jurek Becker, der mit Wolf Biermann seit den 50er-Jahren befreundet war, gehörte zu den zwölf namhaften Schriftstellern, die am 17. November in einem offenen Brief an die Führung der DDR appellierten, die gegen Biermann beschlossenen Maßnahmen zu überdenken. Die DDR-Führung reagiert mit hartem Durchgreifen: Wer seine Unterschrift nicht zurückzieht, wird aus der Partei und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkommt. Im Gegensatz zu einigen anderen gibt Jurek Becker nicht nach.

Ausreise aus der DDR

"An den Minister für Kultur der deutschen Demokratischen Republik
Berlin, 7. November 1977
Sehr geehrter Herr Minister,
Seit geraumer Zeit lebe ich in Umständen, die mir von Tag zu Tag misslicher erscheinen, unter denen ich nicht arbeiten kann und denen ich nicht länger ausgesetzt sein möchte. Ich halte es daher für eine naheliegende Lösung, die DDR zu verlassen."

Am 5. Dezember 1977 reist Jurek Becker mit kleinem Gepäck aus der DDR aus. Auch so ist es ein großer Umbruch für Jurek Becker: Jurek Becker und seine Frau hatten sich auseinandergelebt, sie wollten sich scheiden lassen. Jurek Becker bot ihr an, erst gemeinsam in den Westen zu gehen und sich danach scheiden zu lassen. Sie blieb in der DDR.
Nach Ablauf der selbst gestellten Zwei-Jahres Frist konstatierte Jurek Becker, dass die Schwierigkeiten, in der DDR zu leben, für ihn noch größer geworden waren. Schriftlich beantragte er, die DDR für lange Zeit verlassen zu dürfen und ihm wurde ein Visum erteilt, das es in dieser Form nur ein einziges Mal gegeben hat: Es galt für zehn Jahre und sollte im Dezember 1989 enden. Jurek Becker war nun eine feste Größe des kulturellen Lebens in Westberlin und wurde regelmäßig zu Vorträgen und Gastvorlesungen nach Westdeutschland eingeladen.

Begegnung mit Christine Harsch-Niemeyer

Nach der Veröffentlichung seines Romans "Schlaflose Tage", der zuerst im Westen und im Jahr darauf auch in der DDR erschien, erhielt er den Literaturpreis "Stadtschreiber von Bergen-Enkheim", einem Stadtteil von Frankfurt am Main, der in ein einjähriges Wohnrecht im dortigen Stadtschreiberhäuschen beinhaltete.
Christine Harsch-Niemeyer absolvierte zu dieser Zeit eine Ausbildung als Verlagsbuchhändlerin in dem renommierten Wissenschaftsverlag ihres Vaters in Tübingen und besuchte blockweise die Schule des Deutschen Buchhandels in Frankfurt. Die abendlichen Autorenlesungen zur Unterhaltung der Auszubildenden schwänzte sie jedoch gern, bis ihr Politiklehrer ihr eines Tages dringend nahelegte, sich die Lesung des Schriftstellers Jurek Becker anzuhören.
"Als er da so stand in der Buchhändlerschule, auf der Bühne, da hat mich doch irgendwie eigentlich am meisten der Mann überzeugt. Ich fand den unglaublich attraktiv! Der krempelte seine Hemdsärmel hoch und ich sah eigentlich in erster Linie den Mann, so einen richtig gestandenen, kräftigen Kerl, das hat mir wahnsinnig gefallen."
Der Autor Jurek Becker auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1986.
Becker auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1986.© imago stock&people
Christine Harsch-Niemeyer beendete ihre Ausbildung und zog zu Jurek Becker nach Berlin, wo sie ein Germanistikstudium begann. Sie war 23 und er 45 Jahre alt.
Nach der Rückkehr von einer Israel-Reise mit seiner zukünftigen Frau beginnt Jurek Becker einen neuen Roman, der seine Auseinandersetzung mit der Shoah um eine weitere Facette ergänzen sollte. "Bronsteins Kinder" befasste sich mit dem Blick der Nachgeborenen auf den Holocaust. Auch in diesem Roman wird der Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn thematisiert. Der Überlebende Arno bleibt in der Vergangenheit mit dem Erlebten, über das er nicht reden will, gefangen, während sein Sohn Hans, dem die "Gnade der späten Geburt" zuteil wurde, zwar ein normales Leben führen will, den Konflikt zwischen der Loyalität zu seinem Vater und seiner eigenen staatsbürgerlichen Verpflichtung jedoch nicht befriedigend lösen kann.

Postkartengrüße

"Berlin, 4. Dezember 1985
Liebste,
nicht weil Weihnachten kommt, schreibe ich Dir, denn was ist schon Weihnachten, und nicht weil die Karte so hübsch ist, denn was ist schon eine Karte, sondern weil ich Dich liebe. Nun könnte man natürlich fragen: Was ist schon meine Liebe? Darauf würde ich antworten: Mehr als mancher glaubt.
Kuck doch mal rein zu Deinem
Jurek"

Dies ist die erste der insgesamt 380 Postkarten, die Jurek Becker an seine Frau Christine schrieb. Sie hat alle noch existierenden Karten, die ihr Mann je verschickt hat, gesammelt.

"Du alte Hemmschwelle,
heute schon wieder etwas Getragenes: Ich habe herausgefunden, dass ich mir besser gefalle, wenn Du in der Nähe bist. Versuch doch bitte rauszukriegen, ob es Dir umgekehrt auch so geht. Wenn ja, dann würde ich nicht ausschließen, dass wir eine Liebespaar sind.
Das wäre nicht auszudenken!
Dein Romeo J(urek)"

Mit derart kreativen Anreden wurde allein Christine Becker bedacht, die das gar nicht immer schätzte, und später auch der gemeinsame Sohn Johnny. In den Notizbüchern ihres Mannes hat Christine Becker neben den Konzepten für die Kartentexte auch lange Listen mit Anreden gefunden, die ihm zwischendurch eingefallen waren und die er offenbar dann einsetzte, wenn sie ihm assoziativ passend erschienen.
Am 9. November 1989, kurz bevor Jurek Beckers Zehn-Jahres Visum abläuft, verkündet der SED-Sekretär für Informationswesen Günter Schabowski die sofortige Öffnung der Grenzen.
Mit der Unruhe, die nach der Wiedervereinigung in Berlin herrschte, waren Fluchtgedanken in Jurek Becker erwacht. Es sei wie nach einem Fußballspiel, bei dem die falsche Mannschaft gewonnen habe, sagte er. Um in Ruhe schreiben und seinen Sohn freier aufwachsen lassen zu können, wollte er am liebsten ganz aufs Land ziehen. Ein Haus in der ehemaligen DDR kam für ihn nicht in Frage, ihn zog es in den äußersten Norden, nach Schleswig-Holstein - in ein Haus in Sieseby an der Schlei.
Jurek Beckers letzter Roman "Amanda herzlos", das Porträt einer Frau aus dem Blickwinkel ihrer drei Lebensgefährten, vor allem aber auch eine Auseinandersetzung mit den Problemen des Schreibens in der DDR, erschien 1992. Die Literaturkritiker lehnten das Buch bis auf wenige Ausnahmen ab. Becker habe darin die Grenze zur Unterhaltungsliteratur überschritten, das Bild, das er vom Unrechtsstaat DDR zeichne, sei verharmlosend. Die Leser aber liebten den Roman.

Begegnung mit Manfred Krug

Mit dem Schauspieler Manfred Krug verband Jurek Becker seit Mitte der 50er-Jahre eine enge Freundschaft. Sie schrieben einander Briefe und Postkarten. Weil er sie für das Schönste hielt, das sein Freund je geschrieben hat, hat Krug sie nach Jurek Beckers Tod in einem Buch veröffentlicht.
Schauspieler Manfred Krug in den 1980er-Jahren im Berliner Zoo vorm Elefantengehege.
Manfred Krug in den 1980er-Jahren im Berliner Zoo.© imago/Rolf Hayo
"Irgendwann schickte ich an den neuen Freund Jurek eine erste Postkarte und jung und albern und arm, wie ich war, malte ich ein kleines Portrait von ihm oben rechts an den Platz, für den ich keine Briefmarke hatte. Jurek war damals leicht zu karikieren, denn er sah aus, wie der schönste Igel der Welt. Nachts musste er ein Netz tragen, um seiner Haare Herr zu werden."

"Urkomischer!
Als ich auf der Karte mein Portrait sah, darauf den Poststempel PLANE MIT, ARBEITE MIT, REGIERE MIT, da wurde das bei mir zur Gewissheit, wovon ich schon vorher nahezu überzeugt war: Du hast ‘ne Meise. Der Briefträger sagte (er konnte sich nicht verkneifen, die Karte persönlich abzugeben): "Beim nächsten Mal kann sich ihr Bekannter die Anschrift sparen. Das Bild genügt!" Wie merkwürdig die Menschen sind. Auf dich hat er ‘ne Wut, auf meine Kosten lässt er sie aus....
Bruder Jurek"

Es folgt eine längere Kartenpause, denn von nun an sahen sie einander täglich. In der Cantianstraße 22 lebten Manfred Krug und Jurek Becker zusammen, bis sie beide eine Familie gründeten.
"Wenn er eine Freundin hatte, so war es immer die schönste, die man weit und breit finden konnte. Man hätte sie alle an erstklassige Model-Agenturen loswerden können, wenn es sowas gegeben hätte. Freilich musste er manchmal hinsichtlich des Unterhaltungswertes seiner Geliebten Abstriche machen, aber zum Schwatzen hatte er ja mich." (Manfred Krug)

Die Serie "Liebling Kreuzberg"

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Die Serie "Liebling Kreuzberg" lief von 1986 bis 1998 im Fernsehen. Insgesamt 58 Episoden in fünf Staffeln wurden gedreht. Jurek Becker schrieb für vier Staffeln die Drehbücher. Die Serie wurde mehrfach mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Die Handlung: Robert Liebling ist 48 Jahre alt, seit 20 Jahren Anwalt. Er ist nicht reich.
Mit den ganz großen Fällen, die Anwälte berühmt und sehr oft wohlhabend machen, hat er nie zu tun gehabt. Das liegt nicht allein daran, dass er in Kreuzberg praktiziert, wo die spektakulären Fälle selten sind, sondern auch an seinen Neigungen. Er mag das kleine Leben, mit dem er zu tun hat, er fühlt sich von ihm angezogen.
Auch, wenn man ihn oft laut oder bissig oder ausfallend erlebt, so ist er doch niemals arrogant; zumindest nicht den sogenannten kleinen Leuten gegenüber. - Das ist der Plot zur sehr erfolgreichen Serie "Liebling Kreuzberg"
Der große Erfolg der Fernsehserie Liebling Kreuzberg beruht auf dem kongenialen Team Jurek Becker und Manfred Krug. Jurek Becker stellte sich vor, wie Manfred Krug sich verhalten, was er sagen und wie er sprechen würde, wenn er ein Anwalt wäre.
Dass Jurek Becker das Rechtssystem der BRD, nicht sonderlich vertraut war, liegt auf der Hand. Aber er hatte wiederum jemanden, an den er sich wenden konnte – den Juristen Nicolas Becker, mit dem er nicht verwandt war, die Namensgleichheit ist zufällig. Der Strafverteidiger arbeitete zu dieser Zeit als junger Sozius in der Anwaltskanzlei von Otto Schily und hatte bereits einige medienwirksame Prozesse geführt.
Manfred Krug als Rechtsanwalt Liebling in der Fernsehserie "Liebling Kreuzberg".
Manfred Krug als Rechtsanwalt Liebling in der Fernsehserie "Liebling Kreuzberg".© dpa-Zentralbild
Nicolas Becker wird nicht nur der offizielle juristische Berater der Serie "Liebling Kreuzberg" über alle fünf Staffeln hinweg, sondern dient auch persönlich als Vorbild für eine der Serienfiguren:
"Ich war ein junger Mann bei Schily und eigentlich ein blasser Mensch in gewisser Weise. Und diese Figur des Arnold, der ja auch relativ blass war, der war, glaube ich, im Verhältnis zu Schily mir nachempfunden."
So wichtig, wie Nicolas Becker für die juristische Korrektheit, so wichtig waren Einfälle seiner Frau Christine für das ganze Drumherum in Lieblings Leben.
Die erste Staffel von Liebling Kreuzberg lief so erfolgreich, dass gleich die nächste geplant wurde. Zuvor jedoch wurden Autor, Hauptdarsteller und Regisseur mit dem Grimme-Preis in Gold für die Folge "Der Beschützer" ausgezeichnet.
Mit dem Ende der dritten Staffel fühlte Becker sich leer geschrieben. Deshalb schrieb Ulrich Plenzdorf die Drehbücher der Staffel 4. Das Gesicht, das er als Autor der Serie gab, kam beim Publikum jedoch nicht gut an. Also kehrt Jurek Becker nach einer jahrelangen Pause ein letztes Mal zu Liebling Kreuzberg zurück. Er erfuhr parallel von seiner Krebserkrankung.

Die Krebserkrankung

"Und dieser Krebs hatte eben schon gestreut und das ist dann der Moment, wo man in diesem Fall sagen musste, das ist unheilbar." (Christine Becker)

"11. 12.96
Du gesegnete Mahlzeit,
kürzlich ist mir meine gute Fee erschienen und hat um ein paar Tage Urlaub gebeten. Ich habe das abgelehnt, ich brauchte sie gerade jetzt recht nötig, habe ich gesagt. Aber sie war so uneinsichtig und störrisch, dass ich sie gefeuert habe (bei Lichte besehen war sie doch, alles in allem, eine ziemliche Niete). Danach rief ich bei einem Vermittlungsbüro wegen einer neuen guten Fee an. Ich erwartete, auf eine lange Warteliste gesetzt zu werden, aber es bewarben sich sofort sieben Feen bei mir. Man glaubt gar nicht, wie leicht es heutzutage ist, eine gute Fee zu finden. Hoffentlich können die Mädels auch was.
Dein J(urek)"

Ende 1996 erfuhr Christine Becker vom behandelnden Onkologen ihres Mannes, dass jede weitere Therapie mehr schaden als nützen würde.
Jurek Becker starb am 14. März 1997 friedlich in seinem Haus in Sieseby und wurde auf dem dortigen Friedhof beerdigt.
Sein Schulfreund Helge Braune, mit dem er ein Leben lang eng verbunden war, sagte dazu:
"Es ist so ungerecht, dass so einer, der als Kind so leiden musste und so eine schwere Kindheit hatte, und dann ist die Mutter ja auch gleich gestorben, kurz nach Kriegsende, und dass der nun nur 59 Jahre alt wird – ist das ungerecht? Ja! (Helge Braune)

Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Vera Teichmann, Regie: Vera Teichmann, Sprecher: Luise Helm, Matthias Brandt, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch

Über die Autorin:
Vera Teichmann studierte Literatur- und Sprachwissenschaften in Lausanne, Göttingen und Wien. Während des Studiums Dramaturgin und Produktionsleiterin für freie Opernproduktionen in Wien. Anschließend in der Produktionsabteilung von ECM Records München tätig. Seit Ende 2002 ist sie selbständige Produzentin von Hörbüchern. Für den Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur hat Sie unter anderem die Langen Nächte über Nelly Sachs und Ilse Aichinger gemacht.

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