FIND an der Berliner Schaubühne
In der Berliner Schaubühne hat das Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) Tradition und ging am Sonntag zuende. © Imago / Manfred Segerer
Am Lagerfeuer über Erinnerungen sprechen
05:36 Minuten

An der Berliner Schaubühne ging am Sonntag das Theaterfestival FIND zu Ende. Es war weniger international als vor der Pandemie, sagt unser Kritiker. Auch die neue Dramatik wurde eher durch ältere Gastspiele präsentiert.
Auf der Bühne ist die Hölle los. Vor kurzem ist nach einer Sonnenfinsternis die Hälfte der Menschheit einfach mal verschwunden. Jetzt kämpfen die Zurückgebliebenen mit den Folgen. Funksprüche für die Verschwundenen werden aufgezeichnet, es wird diskutiert und gestritten.
Die französische Regisseurin Caroline Guillia Nguyen zeigt in „Fraternité“ eine post-migrantische Gesellschaft in Dauererregung: Der verlassene Ehemann klagt lautstark auf Arabisch. Seine Tochter rappt im harten Französisch der Vorstädte.
Die Ausgangssituation wurde in den letzten Jahren in Science-Fiction-Spielfilmen und Fernsehserien weitaus interessanter behandelt, vor allem als Vorzeichen der Apokalypse gedeutet. Den Hinterbliebenen in "Fraternité" fallen trotz ihrer unterschiedlichen Traditionen weder fromme noch säkulare Antworten ein. Spätestens nach einer halben Stunde beneide ich die verschwundene Hälfte der Menschheit – bloß weg von hier.
Ein unsichtbares Abenteuer
Die Freude am Erzählen und eine wirkungsvolle Inszenierung waren für den Kurator und langjährigen Dramaturgen der Berliner Schaubühne, Florian Borchmeyer, die entscheidenden Kriterien, um das Stück für das Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) auszuwählen. Beides findet sich in dem französischsprachigen Stück „L'aventure invisible“ des schwedischen Regisseurs Marcus - ein unsichtbares Abenteuer in vieler Hinsicht.
Die Zuschauer sitzen im Kreis. Die Mitte bleibt leer, Bühne und Schauspielerinnen bleiben unsichtbar, bis drei aus der Runde anfangen, von sich zu erzählen: „Wie soll der Schauspieler aussehen, der ihre Geschichte erzählt?“, heißt es da.
„Jung, so um die 30“, antwortet der Angesprochene. Auf die Frage, wer wen wie im Theater spielen kann, antwortet Lindeen mit sehr sichtbarer und hörbarer Verfremdung: Seine drei Darstellerinnen erzählen eine gute Stunde lang von den verschwundenen Identitäten der Menschen, die sie verkörpern.
Der junge Mann erzählt die dramatische Geschichte seiner Gesichtstransplantation, eine Wissenschaftlerin von ihrem Schlaganfall, in dessen Folge ihr ihre eigene Identität abhandengekommen ist. Eine non-binäre Künstlerin spricht über ihren Versuch, eine vergessene Dadaistin wieder sichtbar zu machen, die sich zeitlebens jeder Geschlechterzuschreibung verweigerte.
Der Text entspricht haargenau realen Interviews. Aber das unterkühlte Spiel der Darsteller wahrt die Distanz zur Rolle und fesselt gerade darum bis zur letzten Minute.
Polizeigewalt in den USA
Virtuos im wortwörtlichen Sinne erzählt auch die US-Amerikanerin Dael Orlandersmith in ihrer Ein-Frau- Show „Until the flood“ (Bis zur Flut) von der Flutwelle polizeilicher Gewalt gegen Schwarze in den USA. Einer der Opfer war Michael Brown, der vor acht Jahren in einer Kleinstadt in Missouri erschossen wurde.
Orlandersmith spielt eine zornige schwarze Rentnerin im Lehnstuhl, einen weißen Polizisten außer Dienst, den wütenden und verängstigen schwarzen Teenager im Hoodie. Sie wechselt Rollen, Alter, Hautfarbe, Sprache und zeigt große zeitlose Theaterkunst mit den alten sparsamen Mitteln der Verstellung um der Wahrheit willen, die nie einfach ist.
Wie wir uns erinnern
Menschen, die im Kreis um ein Lagerfeuer herumsitzen und sich Geschichten erzählen. So beschreibt der kanadische Theaterzauberer Robert Lepage den Ursprung von Theater. Auch er steht in seiner zweiten Inszenierung bei diesem Festival allein auf der Bühne. „887“ heißt das Stück, wie die Adresse 887 Murray Avenue von Lepages Familie.
Vor einem mannshohen Modell des Apartmentblocks erzählt der Theatermacher von den Nachbarn mit ihren Spleens, dem Vater, der nachts Taxi fährt, der Unabhängigkeitsbewegung der frankofonen Kanadier in den 1960er- und 1980er-Jahren. „887“ ist weitaus mehr als ein bunter Anekdotenreigen. Es geht darum, wie wir uns erinnern, an wen und woran.
Was in der Erinnerung von diesem FIND an der Berliner Schaubühne weiterleben wird? Es ist nicht mehr ganz so international. Wegen der Pandemie fehlten Produktionen aus Asien. Außerdem waren die meisten Gastspiele schon ein paar Jahre alt. Aber das alte Theater-Lagerfeuer lodert wieder und seine Geschichten, auch die alten, wärmen immer noch die Herzen.