Juri Andruchowytsch: "Das letzte Territorium"
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003
192 Seiten, 14 Euro
Krieg in der Ukraine
Innen- und Außenperspektiven. Unser Experte Martin Sander nennt wichtige Bücher für die Geschichtsschreibung über die Ukraine. © Getty Images / Daniel Grizelj (M)
Lektüretipps zur Geschichte der Ukraine
10:49 Minuten
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wächst in Deutschland das Interesse an der Geschichte des Landes. Unser Experte empfiehlt drei Bücher, die Sie bestens informieren.
Martin Sander beschäftigt sich in unserem Programm schon seit vielen Jahren mit Literatur und Kultur aus der Ukraine. Allen, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mehr über die Geschichte dieses Landes wissen wollen, legt er drei Sachbücher ans Herz.
Juri Andruchowytsch ist unbestritten einer der bekanntesten und wichtigsten Autoren aus der Ukraine und stammt aus der Westukraine: Aus seinem Werk empfiehlt Sander angesichts der jetzigen Situation den Essayband „Das letzte Territorium“, der 2003 auf Deutsch erschienen ist: „Das sind kulturgeschichtliche und politische Überlegungen aus den 90er-Jahren von Juri Andruchowytsch und um die Jahrtausendwende“.
Es gehe um die Frühzeit der unabhängigen Ukraine, also seit 1992: „Andruchowytsch kämpft sehr stark mit sich selbst. Wie soll er sich zu diesem Vielvölkererbe seiner Region – der Westukraine, Ostgalizien, früher zu Polen gehörig, zur Habsburgermonarchie – verhalten? Stört es ihn vielleicht bei der Ausbildung seines eigenen literarischen ukrainischen Bewusstseins?“ Interessanterweise habe er da sehr geschwankt, sagt Sander: „Er mokiert sich in diesen Texten auch sehr stark über die anderen Teile der Ukraine, also die weiter östlichen gelegenen; streut Zweifel, ob es überhaupt möglich ist, das Projekt einer unabhängigen, demokratischen Ukraine, wie es ihm damals schon vorschwebt, mit den östlichen Landesteilen zu realisieren.“
Diese Überlegungen sind nun zwanzig Jahre alt: „Inzwischen ist eine ganze Generation von Ukrainern neu aufgewachsen, es hat die Orange Revolution 2004 gegeben, dann den Euro-Maidan 2013 mit der Revolte gegen die Abhängigkeit von Russland und der Hinwendung nach Westeuropa in Kiew", betont Martin Sander: „Die Westukraine ist vielleicht in den politischen Umwälzungen gar nicht mehr so wichtig gewesen. Aber gerade das ist interessant – hier noch mal den Kontrast zu erfahren.“
Timothy Snijder: "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin."
Aus dem Englischen von Martin Richter
C. H. Beck, München 2011
523 Seiten, 29,95 Euro
Ein wissenschaftlich grundiertes, aber auch spannend erzähltes Buch über die Geschichte der Ukraine, aber nicht nur der Ukraine, ist „Bloodlands“ von Timothy Snyder, im Original aus dem Jahr 2010. Snyders Buch sei in vielen Ländern wahrgenommen worden und auch in seiner Wirkung wichtig, sagt Martin Sander: „Er zeigt die Ukraine als Opfer“, betont er. „Da geht es um die Ukraine als Opfer der totalitären Herrschaften, also vor allen Dingen des Nazi-Terrors im Zweiten Weltkrieg, aber auch um die Ukraine als Opfer der Gewaltherrschaft der Sowjets.“ Er beschreibe, wie in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs einschließlich der ermordeten Juden bis zu sieben Millionen, sehr grob geschätzt, Opfer zu verzeichnen seien.
Die Ukraine als Opfer gezeigt zu haben, sei besonders wichtig, da man bis dahin, wenn man auf den Westen der Ukraine geschaut habe, auf die "Habsburgische Ukraine", immer das Thema gewesen sei, "wie stark Ukrainer mit Nazi-Deutschland kollaboriert haben, wie sie auch am Holocaust teilgenommen haben. Da ging es immer um diese nationalistischen Bewegung", sagt Martin Sander. „Das ist das, was jetzt in der russischen Propaganda wieder erscheint, was vielleicht einen kleinen, wahren Kern hat, aber einen ganz geringfügigen“, so Sander weiter.
Sein Fazit: Bücher wie "Bloodlands" seien sehr wichtig – "weil sie die gesamte Ukraine zeigen, den Westen, den Osten, das Zentrum – und weil sie zeigen, wie dieses Land gelitten hat, nicht nur durch die Deutschen, sondern auch die extremen Hungersnöte, denen bis zu vier Millionen Anfang der 30er-Jahre bei der Zwangskollektivierung zum Opfer gefallen sind.“
Bei den Hungersnöten handele es sich nicht einfach um Misswirtschaft und eine falsche Politik von Stalin, sondern, das zeige Snijder: „Das war auch ein Versuch, und zwar ein gelungener Versuch, die Ukrainer als eigenständige Nation, als eigenständiges Land mit besonderen Traditionen und Strukturen, zum Beispiel diesen landwirtschaftlichen Reichtum und den privaten Bauern, zu zerstören.“
Anne Applebaum: „Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine"
Aus dem Englischen von Martin Richter
Siedler, München 2019
544 Seiten, 36 Euro
Die US-Wissenschaftlerin und Publizistin Anne Applebaum beschäftigt sich in "Roter Hunger" sehr viel genauer noch als Snyder mit dem Holodomor, dem Mord durch Hunger, und dem Versuch Stalins, dadurch die Ukraine als eigenständiges Gebilde in die Knie zu zwingen. Sie behandle "die Unterdrückung der Ukraine durch die Sowjetherrschaft seit 1917", fasst Martin Sander Applebaums thematischen Fokus zusammen.
Außerdem gehe es bei ihr auch um geschichtspolitische Debatten: „Was ist der Holodomor eigentlich, wie muss man heute dieses Verbrechen Holodomor wahrnehmen? Ist es ein Genozid an den Ukrainern? Kommt das schon in die Nähe des Holocaust?", umreißt Sander die bei Applebaum behandelten Fragen. "Das ist natürlich eine sehr brisante Diskussion.“
Für Martin Sander ist "Roter Hunger" ein „sehr aktuelles und ein sehr gut geschriebenes, auch immer wieder berührendes Geschichtsbuch“ über die Ukraine.