Vor bleiernen Zeiten

Von Barbara Lehmann · 27.12.2008
Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch gilt vielen als eine der bedeutendsten Stimmen des literarischen Mitteleuropas seit Ende des Kommunismus. Der 48-jährige Autor lebt im westukrainischen Iwano-Frankiwsk. Resigniert betrachtet er die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in seinem Land und hofft doch insgeheim auf Wunder.
"Ich war immer sehr unzufrieden und kritisch, so wie jetzt auch. Und dann 2004, und die spätere Zeit, habe ich so eine Art von dieser Versöhnung erlebt und plötzlich habe ich in mir irgendwelche patriotischen Gefühle entdeckt. Das bedeutet, dass ich - das klingt vielleicht pathetisch und lächerlich - dass ich auf mein Land stolz bin. Und jetzt ist das wieder verloren. Jetzt sehe ich alles wieder schlecht und pessimistisch und schrecklich. Und vielleicht ist das auch für meine nächsten Bücher gut."

Spurensucher der verschütteten Historie Mitteleuropas, Mythomane vergessener Grenzlandschaften, literarischer Archäologe, Anarchist, Pop-Poet, Essayist. Nach dem internationalen Erfolg seines Essaybands "Das letzte Territorium", dem zahlreiche Romane folgten, ist der Schriftsteller Juri Andruchowytsch auch zum Grenzgänger zwischen Ost- und West geworden. Am Berliner Wissenschaftskolleg schreibt der 48-Jährige derzeit an einer fiktiven Enzyklopädie seiner Städte, die "eine Verkörperung seiner langjährigen Geopoetik" werden soll.

111 Städte wird er noch einmal in Gedanken bereisen. Den Anfang wird - wegen der zwei aa am Anfang- die schweizerische Stadt Aarau setzen - und das Ende wird wiederum die Schweiz, nämlich Zürich, bilden. Dazwischen wird er noch einmal auf dem Papier Städte wie New York oder Chicago aufsuchen, in denen er nur ein paar Stunden oder Tage verbrachte, und andere wie Prag oder das westukrainische Lemberg, die ihn schon als Kind fesselten.

"In der heutigen Welt ist das keine Frage, wo der Schriftsteller eigentlich lebt. (…) Es gibt (…) die Leute, die sagen, er sitzt irgendwo, wo es warm ist und viel Licht und nichts so kalt und dunkel und schmutzig wie bei uns. Und der hat alle möglichen Verbindungen mit seinem eigenen Land verloren. Aber das ist natürlich nur eine mögliche Wahrheit.

Ich lebe in diesen zwei Welten. Ich lebe ein paar Jahre zuhause in der Ukraine, dann fahre ich wieder nach Deutschland und das ist für mich auch irgendwie inspirierend. Das kann ich, diese Spaltung der Welt, auch als meine innere Spaltung spüren."

Einst feierte Juri Andruchowytsch den Sieg der Orangenen Revolution und ihre politischen Akteure. Doch auf den revolutionären Rausch folgte schnell die Ernüchterung. In den letzten Wochen beobachtete der Schriftsteller von Berlin aus das wiederholte Zerbrechen der Koalition der einstigen "Orangisten" - Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko. Neuwahlen waren bereits angekündigt worden.

Doch Mitte Dezember fanden die beiden - dank der Unterstützung von Wolodimir Litwin, der bereits unter dem alten Präsidenten Kutschma diente - zu einem erneuten Zweckbündnis zusammen. Für Andruchowytsch hat dieses neue "demokratische Bündnis" nichts mehr gemein mit früheren "Orangenen Koalitionen":

"Das größte Problem ist die ukrainische politische Klasse. Wir haben jetzt so etwas wie eine nächste Periode der Stagnation vor uns und das bedeutet eine immer tiefere gesellschaftliche Enttäuschung. Und die Ideen, die im Jahr 2004, also während der Revolution, so laut deklariert wurden, die sind alle heute schon irgendwie ironisch, bezweifelt - und das ist am Schlechtesten. Also der Zynismus und der Pessimismus kommen wieder."

Das neue Regierungsbündnis steht auf tönernen Füßen. Es kam nur mit den Stimmen der Kommunisten zustande, während die Hälfte der Abgeordneten aus Präsident Juschtschenkos Lager ihre Zustimmung verweigerten. Der Präsident und seine Premierministerin Julia Timoschenko befehden sich weiter öffentlich. Zudem hat die Ukraine zwei neue Herausforderungen zu bewältigen: Ein wieder erstarktes militantes Russland und die internationale Finanzkrise:

"Ich habe ein bisschen Angst vor diesen Entwicklungen. Dass die Menschen von diesen materiellen Seiten so ermüdet sind, und innerlich völlig erschöpft. Sie haben einfach keine Geduld mehr, sie können alle Entwicklungen begrüßen, die ein bisschen mehr Ordnung in diese chaotische Situation bringen. Es geht auch um die nicht völlig unmögliche Perspektive, dass dann irgendwelche Form von der Diktatur auf die Tagesordnung kommt. (…) Eine starke Hand, die mehr Ordnung bringt."

Fuhr man in den letzten Jahren im Zug von Kiew nach Charkiw, sah man vor den Fenstern ausgelaugte Felder, verseuchte Flüsse, veraltete Fabrikanlagen, zerfallene Häuser. Doch nun hat die internationale Finanzkrise auch Kiew getroffen.

In den Wohnungen der ukrainischen Hauptstadt gibt es wie in der Provinz keine Heizung mehr und kein warmes Wasser. Nur durch einen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds konnte das Land vor dem Staatsbankrott bewahrt werden.

Ukrainische Schlüsselindustrien wie der Metall- und Maschinenbau haben bereits Tausende von Arbeitern entlassen. Juri Andruchowytsch bleibt angesichts der bevorstehenden bleiernen Zeiten nur die Hoffnung auf ein neues Wunder.

"Ich habe das zweimal in der Ukraine erlebt, dass das Land plötzlich anders wurde und die Gesellschaft qualitativ neu. Was ich auch zweimal nicht wirklich erwartet habe. Was für mich eine tolle Überraschung war. Und das war zum ersten Mal 1991 und im August wurden wir schon ein neues unabhängiges Land.

13 Jahre später nach längerer Zeit, die von Enttäuschung, Frust und Hoffnungslosigkeit voll war, 2004 wieder ein Wunder. Und wieder etwas unglaublich Schönes. Und deswegen, und das ist meine letzte Hoffnung, dass dann 13 Jahre noch - und dann kommt das Jahr 2017. Und dann wiederholt sich etwas Schönes in der Ukraine.""