"Ruths Kochbuch"

Das Kochbuch, das eine jüdische Familiengeschichte erzählt

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Nahaufnahme Gemüse- und Fleischauflauf. Jerusalem, Israel. © picture alliance / Andreas Keuchel
Von Julia Smilga  · 17.04.2015
In "Ruths Kochbuch" sind die Rezepte mit Erinnerungen an die Familie der Autorin verwoben. Ruth Melcer gibt die Rezepte ihrer Mutter weiter und erzählt ganz nebenbei ihre Familiengeschichte.
"Ich stehe ungern lange in der Küche. Als ich ganz jung war, fand ich das idiotisch. Das ist eine Beschäftigung, die intellektuell einem nichts gibt, hab ich gemeint."
Eine leidenschaftliche Köchin ist Ruth Melcer wohl nie gewesen. Die 79-jährige Münchnerin hätte auch niemals gedacht, dass sie irgendwann ein jüdisches Kochbuch verfassen würde. Doch als die ganze weltweit verstreute Familie sich in München zur Bar Mizwa Feier ihrer Zwillingsenkel versammeln sollte, begann Ruth Melcer sich Gedanken über Geschenke für die Familie zu machen:
"Und dann habe ich mir gedacht - man müsste, wenn alle kommen, irgendeine Überraschung. Dachte nach und stellte dann mit Schrecken fest, dass ich, die Kleine, die letzte Holocaustüberlebende dieser Generation bin und eigentlich jetzt eine Herzensangelegenheit für mich war, über die starken und mutigen Frauen der Familie zu berichten. Und dann erinnerte ich mich an meine Tante, meine Mutter, was für fantastische Gastgeberinnen sie waren, was für wunderbare Rezepte sie hatten und dann dachte ich - na ja, ein Kochbuch wäre die Überraschung."
Aus diesem privaten Schatz entstand " Ruths Kochbuch", das nun im Gerstenbergverlag erschienen ist. Die Familienrezepte sind für die Autorin ein wichtiger Bestandteil ihrer eigenen Geschichte. Ruth Melcer wurde 1935 im polnischen Tomaszów Mazowiecki geboren, beide Eltern entstammten streng religiösen jüdischen Familien.
Ruth war vier und ihr Bruder Mirek gerade mal zweieinhalb, als die Deutschen 1939 ihre Heimatstadt besetzten. Bald wurde die Familie ins Ghetto verschleppt, der kleine Bruder fiel einer der berüchtigten Kinderaktionen zum Opfer. Nach mehreren Arbeitslagern kam die Familie 1944, nach Auschwitz. Ruth war erst acht Jahre alt:
"Auschwitz kann ich mich wirklich erinnern, als wäre es heute. Auschwitz war so ein Schock, dass das andere überhaupt nicht mehr gezählt hat ..."
Dass Ruth und ihre Eltern Auschwitz überleben, gleicht einem Wunder. Eine Blockälteste rettete ihr das Leben, in dem sie das hübsche Mädchen mit den blonden Locken an sich nahm, ihm zusätzliches Essen besorgte und es mehrmals vor Doktor Mengele versteckte, der ständig nach jüdischen Kindern für seine furchtbaren medizinischen Experimente suchte. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz von Rotarmisten befreit:
"Erlebt hab ich das wie eine Fata Morgana. Es war wahnsinnig kalt, und da kamen weiße Gestalten, es war die russische Armee, robbten so im Schnee nach vorne- und das war die Befreiung."
Traditionelle jüdische Rezepte
Nach der Befreiung kam die Familie zurück nach Tomaszow, doch nach dem antisemitischen Pogrom in Kielce 1946 flohen sie nach Deutschland. Ruth heiratete in München, sie bekam drei Kinder. Als Mutter und Gastgeberin kam sie ums Kochen nun also nicht mehr herum:
"Es wäre mir viel lieber, ich könnte in einer Ecke sitzen und was lesen ... Aber - Sie können ja nicht Gäste haben, sich an Gästen freuen, ein gutes Essen an den Tisch stellen - und nicht kochen. Also war ich doch gezwungen vorher zu kochen."
Die Familienrezepte ihrer Mutter entstammen der Küche der osteuropäischen Juden. Dort finden sich Einflüsse der deutschen, polnischen, ukrainischen und russischen Küche. In "Ruths Kochbuch" finden sich viele traditionelle jüdische Rezepte wie Fisch, gehackte Leber oder Blaubeertaschen. Und auch Ruth Melzers Lieblingsessen ist dabei - der Eintopf "Tscholent" :
"Das esse ich am liebsten, aber sehr selten, es ist eine Kalorienbombe. Es hat einen bestimmten Geschmack und ist mit der Tradition der Familie sehr verbunden, weil meine Mutter das oft gemacht hat. Das ist ein Gericht, das besteht aus Kartoffeln, Gemüse und Fleisch. Also ist im Topf: Zwiebel, Fleisch, Kartoffel gerieben, Kartoffel ganz, Bohnen, Graupen, bisschen Fett, Fett, Fett. Man schiebt es am Freitagabend in Ofen und nimmt erst am Samstagmittag raus - und man isst das am Samstag, und wenn Gäste kommen, auch noch am Sonntag. Und es bereitet die wenigste Arbeit. "
Neben Rezepten gibt es in "Ruths Kochbuch" auch viele Familiengeschichten, die mit dem einen oder anderen Gericht verbunden sind. Wie etwa die Erinnerungen an eine Großtante, die ihre Kalbskoteletts vorzugsweise am Sonntagmorgen zu klopfen pflegte, wenn der Rest der Familie noch schlafen wollte. Als sei das noch nicht laut genug gewesen, kommentierte die Großtante dazu die aktuellen politischen Ereignisse ...
In "Ruths Kochbuch" liest man auch Erklärungen zu jüdischen Festen und Traditionen. Bei den Texten hat Ruth Melcer mit Ellen Presser zusammen gearbeitet. Die Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ist ihre Freundin. Außerdem wurde Ellen Presser zur Vorkosterin auserkoren. Einen Sommer lang kochte Ruth Melzer alle Rezepte ihrer Mutter für das Kochbuch nach, um die Speisen auf das richtige Zutatenverhältnis zu überprüfen:
"Weil ich hatte ein Rezept: 'Man nehme eine halbe Tasse, ein Glas, ein Löffelchen' und so was. Ging ja nicht. Also musste alles nachgewogen, nachgekocht, experimentiert, probiert, beschrieben werden - es war eine Horrorvision."
Doch die Arbeitsmühe hat sich gelohnt - auf das schön gestaltete Rezeptbuch ist Ruth Melcer sichtlich stolz:
"Ich glaube, meine Mutter schaut von oben runter und wundert sich sehr: meine Tochter und ein Kochbuch."
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