Russischer Neokolonialismus

Besinnung auf westliche Werte

Zeichnung: Der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci.
Verschiedene Gruppen würden gerne die gesellschafltichen Entwicklungen seit Leonardo da Vinci und Francis Bacon auslöschen, meint Konstantin Sakkas. © imago / UIG
Ein Kommentar von Konstantin Sakkas |
Über die Kolonialgeschichte des Westens wird gestritten: Mit Werten wie Humanität und Liberalität habe man ein Regime der Ausbeutung verdeckt. Diese Kritik hält Historiker Konstantin Sakkas angesichts des kriegerischen russischen Neokolonialismus für falsch.
Vielleicht merken jetzt einige, dass der Westen doch nicht das große Übel ist, das überwunden werden müsse. Vielleicht sehen sie auch, dass es zwischen linkem Poststrukturalismus im Westen und rechtem Traditionalismus in Russland beängstigende Schnittpunkte gibt.
Für beide, den Poststrukturalismus und den Traditionalismus, ist, zumindest in ihrem radikalen Verständnis, die Geschichte des Westens eine Verfallsgeschichte, beide möchten die 500 Jahre seit der Renaissance, seit Leonardo da Vinci und Francis Bacon am liebsten auslöschen.

Natürlich tun sie das aus unterschiedlichen Haltungen heraus: Der Poststrukturalismus möchte den Menschen zu noch mehr Freiheit führen, wohingegen der Traditionalismus die Freiheit des Individuums möglichst einschränken möchte.
Woke Autor:innen träumen von einer queeren Gesellschaft gleichberechtigter Wesen, frei von nationalen Grenzen; der Traditionalismus eines Alexander Dugin, des Philosophen hinter Putin, hasst dagegen Queerness und möchte eine gleichförmige, hierarchische Gesellschaft wiederherstellen, wie sie zuletzt vor der Französischen Revolution existierte.

Worauf beruht die westliche Weltordnung?

Dennoch gibt es Berührungspunkte zwischen diesen beiden Polen, und zwar in der Beurteilung des Westens und der Werte, die ihn prägen. Diese Werte sind Humanität, Rationalität, Liberalität.
Gesellschaftlich implementiert wurden sie durch Renaissance und Humanismus, durch Aufklärung und industrielle Revolution und schließlich durch den US-amerikanischen Liberalismus im 20. Jahrhundert. Auf diesen drei geistesgeschichtlichen Säulen ruht die humanistische westliche Weltordnung.

Aber sie sei unaufrichtig und imperial, heißt es. Aber sie sei errichtet auf dem Blut der Versklavten im Kolonialismus, auf der Ausbeutung von Fabrikarbeitern in der Industrialisierung, auf der Armut von Milliarden Jobholdern heute, die gerade einmal so über die Runden kämen, während die Superreichen und die Konzerne sich die Taschen vollstopften!

Der Westen im Umgang mit seiner Vergangenheit

Ja, das mag auch stimmen. Aber anders als Russland hat sich der Westen; haben England, Frankreich, Deutschland und auch die USA sich mit ihren kolonialen und ausbeuterischen Vergangenheiten auseinandergesetzt, auch wenn, gerade in den USA, Ungleichberechtigung von Minderheiten, insbesondere von Schwarzen, noch lange nicht verschwunden ist.
Und sie haben sich auf die Paradigmata Humanität, Vernunft und persönliche Freiheit geeinigt, weil diese den kleinsten gemeinsamen Nenner hergeben für eine freie Entfaltung des Individuums, die gleichwohl ein Minimum an staatlicher Stabilität gewährleistet.

Unsere Demokratien kamen nicht von allein

Wenn auf Podiumsdiskussionen von der „so genannten Aufklärung“ gesprochen wird; wenn das Prinzip „ich denke, also bin ich“ von Descartes als marginalisierend und exklusional bewertet wird; wenn die ganze humanistische, rationalistische und kapitalistische Tradition, der wir unseren Wohlstand, unsere Rechtssicherheit und unser gutes Leben verdanken, als einziger Verblendungszusammenhang gebrandmarkt wird:
Dann ist das nicht nur dumm, sondern gefährlich, denn es spielt den großen Gegenmächten des westlichen Liberalismus in die Hände: nämlich dem chinesischen Kollektivismus, vor allem aber dem rechtsrussischen Traditionalismus Putins und Dugins.

Russlands Dekolonisierung in den 90ern

Der Westen hat sich seit den 60er-Jahren dekolonisiert. Der Westen hat seine Bürger und Bürgerinnen nach und nach gleichberechtigt, Frauen, Queere, People of Colour.

Russland hatte auch eine Dekolonisierung: nämlich 1991, als der Warschauer Pakt und die Sowjetunion zerbrachen. Gleich zwei Kolonialreiche stürzten da zusammen, die Freiheit hielt Einzug in Osteuropa. Wladimir Putin aber versucht exakt diese Dekolonisierung rückgängig zu machen und ein neues Russisches Reich zu errichten.
Mit brutaler militärischer Gewalt und mit einer antiaufklärerischen, antirationalen und antihumanistischen Ideologie im Rücken. Genau auf diesen russischen Neokolonialismus sollten westliche Postkolonialist:innen jetzt genau schauen.

Konstantin Sakkas, geboren 1982, studierte Philosophie und Geschichte. Er arbeitet als Publizist und Literaturkritiker in Berlin.

Konstantin Sakkas. Ein Mann mit Bart schaut in die Kamera.
© privat
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