Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.
Der Ukraine-Krieg als Wertekonflikt
Wie eine Monstranz trage der Westen seine Werte derzeit vor sich her, kritisiert der Philosoph Arnd Pollmann. © Getty Images / Image Bank / Matthias Kulka
Es gibt keinen Grund für westliche Überheblichkeit
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"Westliche" Freiheit gegen "östlichen" Autoritarismus: Der Krieg um die Ukraine wird gern als Wertekonflikt verstanden. Arnd Pollmann hält diese geografische Zuordnung für falsch. Denn in West wie Ost sind Freiheit und Demokratie ein zerbrechliches Gut.
Konfrontiert mit einem Angriffskrieg aus dem Osten, wird der Westen neuerlich als eine „Wertegemeinschaft“ beschworen. Es geht um die Demokratie, um Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, um die liberale Öffentlichkeit und die Trennung von Staat und Religion, um Menschenrechte, Freiheit und Individualität.
Doch die geografische Vereinnahmung dieser Ideen als „westlich“ führt in die Irre.
Verwestlichung des Westens
Zunächst zeugt diese stolze Selbstvergewisserung von mangelndem Geschichtsbewusstsein. Sicher, die gepriesenen Werte verweisen auf eine „abendländische“ Vorgeschichte und herausragende Quellen. Aber der Einfluss nicht-westlichen Denkens wird dabei regelmäßig unterschlagen.
Wichtiger noch ist, dass sich diese Ideen auch in der westlichen Welt keineswegs von selbst verstanden haben. Demokratie, Freiheit, Menschenrechte usw. mussten und müssen stets aufs Neue gegen historisches Unrecht erstritten werden.
Sie sind Reaktionen auf autoritäre Willkür und staatliche Verbrechen. Auch Absolutismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus sind – in diesem Sinn – westlich. Oder, wie der Historiker Heinrich August Winkler sagt: Selbst die „Verwestlichung des Westens war ein langwieriger Prozess“. Und übrigens besonders langwierig im deutschen Fall.
Rhetorische Kurzsichtigkeit
Oft werden die gemeinten Werte aber auch von der politischen Gegenseite als „westlich“ tituliert oder gar diffamiert, um sie als imperiale Erfindungen, als „eurozentristische“ Zumutungen abzuwehren. Leider gilt das für autoritäre Machthaber in der Ferne ebenso wie für mutmaßlich progressive Kreise in der Nähe. Auch deshalb sollte man dieses geografische „Framing“ vermeiden, weil es den Feind:innen einer globalen Ausbreitung jener Ideen direkt in die Hände spielt.
Ohnehin wären wir im Fall der Ukraine mit dem Paradox konfrontiert, dass der Westen derzeit im Osten verteidigt werden würde. Umgekehrt fällt es schwer, die Tapferkeit der Ukrainer:innen als irgendwie „westlich“ zu bezeichnen.
Der stolze Westen scheint derzeit nicht einmal selbst willens oder auch nur fähig, die besagten Ideale tatkräftig zu verteidigen. Man unkt gar bissig, die liberale Gesellschaft sei derzeit so sehr mit der Abwehr von Mikroaggressionen beschäftigt, dass sie vor den heranrückenden Makroaggressionen kampflos desertieren wird: „Stell‘ dir vor, es ist Krieg, und alle hauen ab!“
Bedingt abwehrbereit
Bis dahin will man den Kampf lieber jenen tapferen Menschen in der Ukraine oder aber denen in Russland überlassen, die es nun per Mausklick gegen Putin anzustacheln gilt. Dieser digitale Gratismut ist nur die kraftlos verzweifelte Kehrseite jenes falschen Stolzes, mit der man die besagten Werte neuerlich wie Monstranzen vor sich herträgt.
Lange Zeit gaben sich viele hier dem Glauben hin, die Realisierung von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten ergäbe sich mittelfristig von selbst. Man gönnte sich einen radikalen, aber intellektuell bescheidenen Pazifismus und die vermeintlich entwaffnende Hoffnung auf den freiwilligen Gewaltverzicht der Gegenseite.
In diesen Tagen aber zeigt sich, was der historische Rückblick ohnehin lehrt: Die Realisierung jener politischen Leitideen ist ein umkämpftes Projekt, das jederzeit an autoritären Widerständen scheitern kann.
Gemeinsam gegen reaktionäre Gewalt
Heute geht es um die Ukraine, aber schlicht auch um die universelle Frage, wie der Mensch als Mensch leben und regiert werden will. Die Erde ist groß, doch auch rund.
Egal, in welche Himmelsrichtung sich die besagten Ideen ausbreiten: Es käme darauf an, dass sich die Menschheit am Ende trifft.
Doch dazu müssen die besagten Werte in einer vereinten, globalen Kraftanstrengung immer wieder neu gegen reaktionäre Gewalt verteidigt werden, und zwar nicht bloß rhetorisch, sondern notfalls auch sehr handfest. Ob im Westen oder Osten, Norden oder Süden.