Ruhrtriennale

Szenischer Essay über Schein und Sein

Der Regisseur Boris Nikitin spricht am 06.08.2014 in der Gebläsehalle in Duisburg während der Auftaktpressekonferenz der Ruhrtriennale 2014.
Der Regisseur Boris Nikitin bei der Auftaktpressekonferenz der Ruhrtriennale 2014 in Duisburg © picture-alliance / dpa / Marcel Kusch
Von Ulrike Gondorf · 22.08.2014
Drei Opernsänger und ein Pianist agieren in der Performance des Schweizer Theatermachers Boris Nikitin. Die berührende Uraufführung von "Sänger ohne Schatten" auf der Ruhrtriennale sorgte für Staunen, Lachen und Vergnügen.
Freie Theaterformen, Projekte, die ein künstlerisches Team konzipiert und dann auf die Bühne bringt – im Schauspiel und im Tanztheater ist das inzwischen oft erprobt und in der so genannten freien Szene schon fast der Normalfall eines Theaterabends. Im Musiktheater ist das noch Neuland. Da spielen die vorgegebenen Noten nach wie vor eine große Rolle, der ganze Apparat mit Orchester und möglicherweise Chor ist ja auch viel schwerer beweglich.
Bei der Ruhrtriennale hat der junge Regisseur Boris Nikitin jetzt dieses Neuland betreten. "Sänger ohne Schatten" heißt das Projekt, das der Schweizer Theatermacher in der Gladbecker Maschinenehalle Zweckel auf die Bühne gebracht hat.
Mit Präsenz und Präzision
Drei veritable Opernstars haben sich mit ihm auf die Reise gemacht, vermutlich auch viele Ideen, Themen und Situationen zu dem Abend beigesteuert: Karan Armstrong, die "Primadonna der Moderne" und langjährige Ehefrau und Protagonistin des Regisseurs Götz Friedrich hat viel Erfahrung mit der szenischen Arbeit; der Schweizer Tenor Christoph Homberger ebenso, er ist mit Inszenierungen von Wernicke und Marthaler bekannt geworden.
Dritter im Bunde ist der junge Countertenor Josimeh Adjei. Drei Sänger, drei Generationen, drei Stimmfächer, das Feld der Oper ist eröffnet. Und sie singen alle beeindruckend, steigen aus dem Stand mit erstaunlicher Präsenz und Perfektion in schwierige Arien ein, in denen ihr gegenwärtiges oder vergangenes Repertoire lebendig wird: Adjei als Counter etwa mit einer Barockarie. Homberger als Florestan. Karan Armstrong mit Ausschnitten aus ihren Glanzpartien Isolde und Rosenkavalier-Marschallin – was an Schmelz fehlen mag, kompensiert die inzwischen 70-jährige mit faszinierender Persönlichkeit.
Opernfans können also durchaus auf ihre Kosten kommen, aber ein Arien-Wunschkonzert ist natürlich das Letzte, was der Theatermacher Boris Nikitin und sein Ensemble (zu dem noch der Pianist Stefan Wirth gehört) sich da vorgenommen haben. Sie machen sich vielmehr auf, die große Illusionsmaschine Theater zu durchleuchten und die Grenzgebiete zwischen Rolle und Persönlichkeit, Identität und Verwandlung zu erkunden.
Hört sich kompliziert an, gelingt aber ganz leicht, unmittelbar und durchaus auch vergnüglich. Wie das Singen einen Menschen in seiner ganzen Körperlichkeit verändert, machen die drei ganz schnell klar, indem sie nicht immer singen, sondern auch aus ihrer Arbeit und ihrem Leben erzählen, scheinbar ganz privat, authentisch – aber natürlich auch in einer Rolle, in der des Conferenciers. Ein Mensch, der eine Bühne betritt, kann nur eine Rolle spielen. Das Einzigartige am Theater ist nur, dass diese Verwandlung nichts mit Täuschung zu tun hat, sondern eine ganz andere Art von Wahrheit und von Einverständnis zwischen Akteur und Publikum hervorbringen kann. Dadurch, dass man sieht, wie die Bühnenillusion entsteht, wird sie wunderbarerweise nicht kleiner, sondern größer, unbegreiflicher.
Berührender Abend vor traumhafter Kulisse
Das macht den Abend von Boris Nikitin sehr berührend. Dass der Regisseur und seine Akteure nicht nur analytischen Verstand, sondern vitale Theaterinstinkte haben, sorgt für Staunen, Lachen und Vergnügen. Die beste ausgefeilt dialektische Pointe des Abends ist die: Wir sitzen so lange in einer nüchternen, neonkalt beleuchteten Blackbox, dass wir uns wirklich fühlen wie auf irgendeiner öden Probebühne in irgendeinem Stadttheater. Und dann lassen die Theatermacher plötzlich den schwarzen Kasten einfach nach oben wegschweben. Und zum Vorschein kommt die grandiose Maschinenhalle mit ihrem bunten Fliesenboden, den Turbinen, dem kirchenartigen Raumgefühl. Eine traumhafte Kulisse - aber die tatsächlich vorhandene Realität, während das banale Studio ein aufwändiges Bühnenbild war. "Sänger ohne Schatten" – das ist ein szenischer Essay über Schein und Sein, dessen Lektion man mit Vergnügen lernt.

Sänger ohne Schatten
Musiktheater / Performance von Boris Nikitin
Mit Yosemeh Adjei, Karan Armstrong, Christoph Homberger und am Klavier Stefan Wirth
Uraufführung auf der Ruhrtriennale in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck

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