Ruhrtriennale

Knochenstaub statt Menschenopfer

Staubiges Revier: Bühnenarbeiter sammeln in Duisburg nach der Generalprobe des Stückes "Le Sacre du Printemps" den Knochenstaub ein.
Staubiges Revier: Bühnenarbeiter sammeln in Duisburg nach der Generalprobe des Stückes "Le Sacre du Printemps" den Knochenstaub ein. © dpa / picture alliance / Caroline Seidel
Moderation: Susanne Burkhardt |
Der Regisseur Romeo Castellucci lässt in seinem "Sacre" keine junge Frau opfern, sondern die Tiere, die wir essen. Zu Strawinskys Musik hat er eine Choreografie für 40 Maschinen kreiert – und für tonnenweise Staub von Tierknochen.
Susanne Burkhardt: Der italienische Theatermacher Romeo Castellucci ist so was wie ein Stammgast bei der Ruhrtriennale: Er war bei der ersten Ausgabe mit "FOLK" zu Gast, jetzt ist er gleich mit zwei Arbeiten dabei: "Le Sacre du printemps" und "Neither". Heute abend lässt er zu Strawinskys Musik Knochenstaub tanzen – eine Choreografie für 40 Maschinen hat er dafür kreiert, zu erleben heute im Landschaftspark Duisburg-Nord. Gestern nachmittag gab's schon mal eine Voraufführung. Und ich habe gestern mit Romeo Castellucci über diese Arbeit gesprochen und ihn zunächst gefragt, warum es ihn gereizt hat, sich mit dem Klassiker des modernen Tanztheaters auseinanderzusetzen.
Romeo Castellucci: Tatsächlich ist dies ein Tanz- und Musikstück, das nicht nur für den Tanz konzipiert wurde, es handelt sich um eine Ikone des 20. Jahrhunderts, ein Symbol, das an sich schon jede Herangehensweise kompliziert macht. Der Impuls, dieses Stück aufzugreifen, kam direkt von Theodor Kurenzis, dem Dirigenten, von dem wir auch seine aufgenommene Version hören können. Ich wollte dieses Stück nicht unter choreografischen Gesichtspunkten betrachten, sondern die philosophischen Themen des Stückes näher beleuchten. Ich beziehe mich da zum Beispiel auf die Idee des Opfers, unser heutiges Verhältnis zur Natur, auf das, was wir der Erde abverlangen, den Zyklus von Leben und Tod, Themen aus diesem Werk, die sehr präsent sind. Was bedeutet Opfer heute? Da hat sich sehr viel verändert, wir haben heutzutage eine ganz andere Mentalität. In diesem Sinne habe ich versucht, diese Ikone zu interpretieren.
Burkhardt: "Sacre du printemps" – ursprünglich die Geschichte einer jungen Frau, die von einer Männergesellschaft in den Tod gehetzt wird. Die tanzt, bis sie stirbt. Bei Ihnen ist dieses Opfer kein Mensch, sondern es sind Tiere, die bereits zu Staub verarbeitet wurden – wieso?
Castellucci: Weil die Idee des Opfers heute so weit weg ist von der in der russischen Folklore, auf die Strawinsky sich bezogen hat: Diese antike, archaische Vorstellung, die es zuließ, ein Menschenopfer zu verlangen, um die Früchte der Erde zu erbitten. Ich habe jetzt versucht, all dies von einer aktuellen Perspektive aus zu interpretieren. Die Idee des Opfers ist heutzutage vollkommen in Vergessenheit geraten. Nichtsdestotrotz findet man auch jetzt das Konzept des Opfers – in einer industriellen Umgebung, einem kalten, geradezu banalen Verhältnis zum Tod, zum Tod der Tiere, die unsere Nahrung sind. Das ist vielleicht eine reduzierte, kalte, abgehobene Version, aber sie ist so wie unser heutiges Verhältnis zur Natur: das funktioniert durch die Verwendung von Chemie und Industrie. Die Technologie hat vollkommen die spirituelle Sphäre abgelöst.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass "Le sacre du printemps" von einem Menschenopfer handelt, einer unakzeptablen Angelegenheit, die sich über die Zeit sehr verändert hat. Anthropologen zufolge gab es zuerst das Menschenopfer, das dann zum Tieropfer wurde. Dann ist selbst das Tieropfer in die Krise geraten und von unserem aktuellen kulturellen Horizont komplett verschwunden, oder besser gesagt, es hat sich in banalen Sinne verwandelt. Diese Banalität hat aber weiterhin eine Macht. Diese besiegten Tiere stellen uns weiterhin Fragen, das sollten sie zumindest, schließlich nehmen wir ihnen das Leben. So führt das alles zu einer mechanischen, mechanistischen Auffassung von Natur.
Es hat mich also nicht interessiert zu zeigen, was das Stück für Strawinsky zu seiner Zeit bedeutet hat – einen solchen dionysischen Ansatz zu unternehmen, kann meines Erachtens nicht funktionieren, sondern ich habe versucht, den Vorgaben dieser Ikone durch eine konzeptuellere, vielleicht auch philosophischere Annäherung entgegenzutreten.
Burkhardt: Bei ihnen lassen die Maschinen den Staub tanzen – riesige, extrem präzise Apparate, die durch synchrone oder asynchrone Bewegungen den feinen Staub rhythmisch rieseln lassen in ganz überraschenden Formen und wirklich schwebend tänzerisch. Ist es das, was sie zeigen wollen: Wie das Gewaltsame des Opfervorgangs, die massenhafte Tötung, die ja in diesem Material Knochenstaub steckt, auf die Schönheit trifft, die im Tanz dieser Staubmoleküle zu entdecken ist?
Castellucci: Ja, hier geht es tatsächlich auch um das Verhältnis der Schwere zur Leichtigkeit, der Maschine zur Luft, zum Staub. Durch die Maschinen wird auch das männliche Prinzip repräsentiert, die Kontrolle, die Geometrie der Maschinen. Dieser Geometrie steht das Chaos gegenüber, das Chaos der Staubpartikel. Die Staubkörner repräsentieren das weiblichere Element, das Element, das für uns tanzen muss. So haben wir sozusagen eine doppelte Temperatur, die kühle der Maschinen mit ihren kontrollierten Bewegungen, auf der anderen Seite die freie, luftige, chaotische und elegante Bewegung, die den eigentlichen Tanz zeigt, den Tanz der Staubkörnchen in der Luft, der für den kosmischen Tanz stehen kann, die Körper, die Darsteller, die Tänzer schweben atomisiert in der Luft - aber die Idee des Tanzes bleibt erhalten. Der Tanz ist durchaus noch Thema dieses Stückes, wenn auch nicht durch die Darstellung von Tänzern selbst, sondern durch die Idee des Tanzes.
Romeo Castellucci
Der italienische Regisseur Romeo Castellucci© dpa / picture alliance / Caroline Seidel
Man muss auch bedenken, dass Knochenmehl – also Kalziumphosphat – heute ein Düngemittel ist. Es liegt also eine Wahrheit in diesem Material, das ja tatsächlich auf die Erde gestreut wird, damit sie mehr Früchte trägt. Das ist eine objektive Realität, keine poetische Erfindung, auch wenn es so interpretiert werden könnte. Es ist ganz einfach ein Dünger, den man kaufen kann und der normalerweise verwendet wird, um den Boden fruchtbarer zu machen. Ein sehr konkretes Bild. Man verlangt etwas von der Erde und das in einer technischen, chemischen Sprache. Trotz alldem sieht man dieses Pulver als etwas Ästhetisches. Auch wenn es sich um eine objektive chemische Realität handelt, hat es ästhetische, poetische und fragile Aspekte und kann für die menschliche Zerbrechlichkeit von uns Menschen stehen, die wir aus Staub sind, wie in der Bibel steht.
Im Laufe der Aufführung versinkt dann der Bühnenraum in einer dicken Staubschicht. Die Zuschauer aber bleiben davon zumindest körperlich unberührt, denn eine dichte Folie trennt sie von der Staubwolke, die da entsteht. Müsste man die Zumutung nicht so weit treiben, dass einem im wahrsten Sinne der Atem stockt?
Castellucci: Ja, sicher... (lacht). Aber das wäre natürlich eine unmögliche Aufführung, ohne eine Schutzfolie. Zu einem bestimmten Punkt ist der Raum in der Tat vollkommen vom Staub erfüllt, darum ist das Publikum komplett isoliert und von einem durchsichtigen Vorhang geschützt. Wir haben einen großen Raum geschaffen, in dem sich die Maschinen befinden und in dem der Staub frei fliegen kann, ohne das ganze Theater zu durchdringen. Das war eine der Grundvoraussetzungen, um das Stück so umsetzen zu können.
Burkhardt: Seit 20 Jahren machen Sie ein Theater, das die eigenen Grenzen im Grunde genommen aufhebt und nicht mehr so einfach als dies oder das zu definieren ist – ganz im Sinne von Heiner Goebbels Idee von Kunstproduktion. Ist das Wort "Theater" immer noch zutreffend für das, was Sie heute machen? Verstehen Sie sich als "Theatermacher"? Oder müsste ein neuer Begriff gefunden werden?
Castellucci: Ich glaube, dass das Wort Theater ein sehr starkes Wort ist. Ein nahezu unüberwindbares Wort. Vor allem in dieser Zeit. Ein Begriff, der menschlichen Kontakt impliziert, einen Kontakt zwischen Menschen und mit dem Bild. Das kann auch irreparabel sein, ein lebendiger Bezug zum Bild, der auch "gefährlich" sein kann und vielleicht auch sein muss, gefährlich in Anführungszeichen. Er muss tiefgehende Fragen beim Zuschauer aufwerfen. Das Sehen an sich ist ein Thema, das unendlich problematisiert werden muss. Das Theater bildet nicht nur eine der ältesten Umgebungen, es ist nicht nur ein antikes Wort, sondern auch voller Bedeutung für die Zukunft, gerade wegen dieses Bedarfs an Kontakt, an Kontakt mit den Dingen, mit dem Bild, dem Erfundenen. "Theater" ist ein viel stärkerer Begriff als zum Beispiel "Performance" oder andere Bezeichnungen. Ich mag dieses Wort. Es bedeutet Sehen – der Ort des Sehens. Heutzutage ist das Sehen zu einem politischen, existentiellen Akt geworden. Wir sind den ganzen Tag über Zuschauer. Das Theater kann eine der Umgebungen sein, in denen das Sehen, das Zuschauer-Sein bewusst wird, man ist sich in diesem Moment bewusst, Zuschauer zu sein. Deshalb ist das Theater ein unersetzbarer Begriff.
Informationen der Ruhrtriennale zu "Le sacre du printemps"