Autor: Christian Berndt
Sprecher: Markus Hoffmann und Alexander Ebert
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Susanne Arlt und Winfried Sträter
Der Untergang einer Supermacht
30:17 Minuten
Das Ende des Römischen Reiches liefert Stoff für Kontroversen. Kann man überhaupt von einem Niedergang Roms sprechen? Haben Klimawandel und Pandemien das Imperium geschwächt? Der Übergang von der Spätantike zum Mittelalter hat viele Facetten.
Das Senatsgebäude brennt. Die Goten sind unter ihrem Anführer Alarich in Rom eingefallen. Es ist 800 Jahre her, dass Rom bis dahin zum ersten und einzigen Mal von Feinden eingenommen wurde. Der 24. August 410 erschüttert das gesamte Imperium.
"410 bedeutet für die Zeitgenossen eine Existenzerfahrung und eine Zäsur", sagt Mischa Meier. "Man merkt an den Zeugnissen, die wir haben, etwa Hieronymus in Bethlehem, dass das ein Ereignis gewesen ist, das sich wirklich in alle Regionen des Reiches verbreitet hat." Er ist Historiker an der Universität Tübingen.
"Das strahlendste Licht aller Länder ist ausgelöscht"
Kirchenvater Hieronymus schreibt damals aus der römischen Provinz Palästina: "Während sich diese Ereignisse in Jerusalem abspielten, traf uns ein schreckliches Gerücht aus dem Abendland. Schluchzen mischt sich beim Diktieren in meine Stimme. Die Stadt wird erobert, welche die ganze Welt unterjocht hat. Das strahlendste Licht aller Länder ist ausgelöscht und in einer Stadt der gesamte Erdkreis zugrunde gegangen."
Dass es auch ein Oströmisches Reich gibt, das von diesem Geschehen unberührt blieb, spielt keine Rolle – Rom ist für römische Bürger von Britannien bis Numidien das Herz des Imperiums.
Und für Historiker der Neuzeit wie Ferdinand Gregorovius war klar: Mit der Einnahme Roms durch die Barbaren 410 endet die Antike. "Es begann das schreckliche Dunkel kommender Jahrhunderte, wo Rom in seine Trümmer zurückgesunken nichts mehr war als eine Totenstätte", schreibt er.
War der Überfall auf die Stadt Rom 410 tatsächlich eine solche Zäsur? Augustinus, Kirchenvater und wichtigster Denker der Spätantike, relativiert das Geschehen. "Augustin sagt, da ist ja eigentlich nichts passiert, außer, dass ein paar Mauern umgefallen sind", erklärt Mischa Meier.
Überlieferungen sind widersprüchlich
Augustinus schreibt unter dem Eindruck der Einnahme Roms 413 sein Hauptwerk "Vom Gottesstaat". Er will darin den Vorwurf der heidnischen Mehrheit in Rom entkräften, der Fall Roms sei eine Strafe der Götter, weil 15 Jahre zuvor das Christentum zur Staatsreligion erhoben worden war. Zudem ist Alarich auch noch Christ. Die Überlieferungen über das, was 410 wirklich passiert ist, sind widersprüchlich - haben aber eins gemeinsam.
"Was der einfache Mensch auf der Straße gedacht, wissen wir gar nicht", erklärt Mischa Meier. "Die Äußerungen, die wir haben zu den Ereignissen um 410, sind hochgradig stilisierte, literarische Produkte, die auch nicht von unmittelbaren Zeitzeugen stammen. Das heißt, wir haben überhaupt keinen unmittelbaren Zugriff auf das, was damals passiert ist"
Die Widersprüchlichkeit der Überlieferungen, in denen die Goten wahlweise als Zerstörer oder Retter Roms erscheinen, verweist auf eine Frage, die heute wieder ziemlich aktuell ist: Wie reagieren Menschen, wenn sich eine für sie unveränderlich gehaltene Weltordnung dramatisch wandelt?
Historiker suchen gerne nach Fixpunkten, an denen man einen solchen Wandel festmachen kann. In der Wissenschaft galt das Jahr 410 lange als solch ein Wendepunkt, ab dem das Imperium, die ganze römische Zivilisation zugrunde ging.
Der Historiker William Robertson bringt im 18. Jahrhundert die herrschende Meinung auf den Punkt: "Innerhalb von weniger als einem Jahrhundert, nachdem die Barbarenvölker sich in ihren neu eroberten Gebieten niedergelassen hatten, verschwanden fast alle Nachwirkungen des Wissens und der Kultur, die die Römer in Europa verbreitet hatten"
Übergang zum Frühmittelalter: Verfall oder Transformation?
Erst in den 70er-Jahren entsteht ein neues Deutungsmuster: Wissenschaftler interpretieren den Übergang von der Antike zum Frühmittelalter nicht als Verfall, sondern als Transformation.
Das heißt, das Reich wandelte sich in einem langen Prozess zu neuen, kulturellen und politischen Formen, die man nicht alle einfach als zivilisatorischen Rückschritt bewerten könne.
Dieser Deutung wiederum widersprechen in den vergangenen Jahren Historiker wie Bryan Ward-Perkins: "Es gibt bei dieser Sicht ein Problem: Sie passt nicht zur Masse der heutzutage verfügbaren, archäologischen Zeugnisse, die einen erschreckenden Niedergang des westlichen Lebensstandards vom 5. bis zum 7. Jahrhunderts zeigen. Es war ein Niedergang, der sinnvollerweise mit dem 'Ende der Zivilisation' beschrieben werden kann."
Der britische Historiker vermutet hinter der These der Transformation gar den Versuch, im Sinne der EU die germanisch-römische Vergangenheit zum friedlichen Miteinander zu stilisieren.
"Also ich würde den Prozess als Transformation bezeichne", sagt Mischa Meier, "weil mittlerweile bekannt ist, dass das, was sich verändert hat in der Spätantike und im Übergang zum Mittelalter, einen so hochkomplexen Charakter hat, dass Begriffe wie Verfall und Niedergang nicht mehr adäquat sind, um das zu beschreiben."
Mehr als ein halbes Jahrtausend Sicherheit
Die Althistorikerin an der Humboldt-Universität Berlin, Claudia Tiersch, findet beide Begriffe angebracht.
"Für die Beteiligten ist es sicherlich ein wirklicher Niedergang gewesen", sagt sie. "Wir aus unserer heutigen Perspektive sehen natürlich in vielem Umbrüche, die zu Transformationen, Umorganisationen tatsächlich führen. Wir sehen vor allem auch, mit welcher Zähigkeit die Menschen sich auf diese veränderten Umstände eingelassen haben. Aber man muss auch sagen - das lässt sich wirtschaftlich, politisch und auch baulich nachvollziehen - dass in vielem das, was die Leute gewöhnt waren, eben Friedenszustände, wirtschaftliche Prosperität, wenn auch sehr ungleich verteilt, Reisemöglichkeiten, dass die in dem Maße nicht mehr gegeben waren."
Bevor das Römische Reich diesen Niedergang erlebt, hat es seinen Bürgern über ein halbes Jahrtausend Sicherheit in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum vom Nil bis zum Rhein geboten. Als der oströmische Kaiser Constantin II. 357 Rom besucht, kann er seinen Augen kaum trauen angesichts dieser prachtvollen Metropole, die ungefähr eine Million Einwohner hat.
150 Jahre später sind es weniger als ein Zehntel. Der römische Schriftsteller Cassiodorus klagt über eine entvölkerte Stadt: "Es ist offenkundig, wie groß die Bevölkerung der Stadt Rom früher gewesen sein muss, wurde sie doch versorgt mit Nahrungsmitteln, die sogar von weit entfernten Gegenden herbeigeschafft wurden. Die riesige Ausdehnung der Stadtmauern zeugt von der Masse der Bürger, ebenso wie das gewaltige Fassungsvermögen der Bauten, die zur Unterhaltung dienten und die wundervollen großen Bäder."
Geschrumpft und von Barbaren beherrscht
Die Stadt Rom ist geschrumpft und von Barbaren beherrscht. Was war geschehen?
Im Jahr 248 begeht die Stadt Rom ihr tausendjähriges Bestehen. Drei Tage lang wird durchgefeiert, 2000 Gladiatoren kämpfen in den Arenen. Rom zelebrierte seine Macht, die aber längst nicht mehr unerschütterlich ist. Germanische Stämme üben Druck auf die römischen Grenzen aus.
Die Kosten für die Armee steigen, Steuern müssen erhöht werden und die Macht der Militärs wächst. Die Zeit wechselnder, sich bekriegender Soldatenkaiser beginnt.
"Rom hat sich als Staat wirklich fast aufgelöst, auch bedingt durch Ereignisse der Völkerwanderung", erklärt Claudia Tiersch. "Das heißt, was die Kaiser und die Bevölkerung wahrgenommen haben, war wirklich ein Zusammenbruch staatlicher Obliegenheiten."
Der amerikanische Historiker Kyle Harper hat in seinem vor drei Jahren erschienenen Buch "Fatum" das Klima für das beginnende Krisenzeitalter verantwortlich gemacht. Von 200 v. bis 150 n. Chr. habe ein sogenanntes Klimaoptimum geherrscht: Stabile und warme Temperaturen mit außergewöhnlicher Feuchtigkeit im gesamten Mittelmeerraum hätten die gewaltige Expansion des Reiches ermöglicht. Doch dann sei eine Phase klimatischer Turbulenzen gefolgt.
Das Ende eines Klimaoptimums und die Folgen
"Nicht mehr reicht im Winter des Regens Fülle aus, um die Samen zu nähren. Nicht mehr stellte sich im Sommer die gewohnte Hitze ein, um das Getreide zur Reife zu bringen", schreibt ein Chronist.
Die Sonneneinstrahlung sei schwächer geworden und die Temperaturen hätten sich abgekühlt - es herrschte frostiger Wind. Der Klimawandel habe die Widerstandsfähigkeit des Reiches geschwächt und die Auswirkungen auch von Pandemien befördert.
Durch die im Jahr 165 ausgebrochene Antoninische Pest sei das jahrhundertelange ökonomische und demografische Wachstum massiv gestört worden. Ausgerechnet die Zivilisationsleistungen der Römer seien schuld, dass sich Krankheiten optimal ausbreiten konnten: "Verstädterung und Mobilität machten die Menschen anfälliger für Infektionskrankheiten."
Fortbestand des Imperiums trotz Krisen
Vor allem aber habe das einzigartige Straßennetz, das in die entferntesten Winkel des Reiches reichte, für die Verbreitung von Seuchen gesorgt. Aber das Imperium, so Harper, habe noch über genug Ressourcen verfügt, um zu überleben. Tatsächlich beweist Rom in den Krisen des 3. Jahrhunderts eine erstaunliche Flexibilität.
Kaiser Diokletian führt ein Mehrfach-Kaisertum – die Tetrarchie - ein, um die wachsenden Herausforderungen des riesigen Reiches auf mehrere Schultern zu verteilen.
"Das sind notwendige Reformen gewesen, die zunächst zu einer neuen Integration geführt haben", sagt Mischa Meier. "Was Diokletian tatsächlich bewirkt hat, war eine Stabilisierung des Römischen Reiches, vor allem in den Grenzprovinzen. Da gab es ja einige, die im 3. Jahrhundert starke Absetzungsbewegungen gezeigt haben, das ist weg im 4. Jahrhundert."
Doch mit Kaiser Konstantin kommt es Anfang des 4. Jahrhunderts zum Bruch mit der Tetrarchie, nach seinem Tod teilen seine Söhne das Imperium auf, was schließlich Ende des 4. Jahrhunderts zur Teilung in ein West- und ein Ost-Reich führt. Fortan residieren die oströmischen Kaiser im neugegründeten Konstantinopel. Aber das Imperium bleibt formal eine Einheit, auch wenn sich die Reichsteile immer mehr auseinanderentwickeln.
Die Hunnen verdrängen die Goten
Im 4. Jahrhundert beginnt eine weitere, dramatische Entwicklung. Die Hunnen fliehen vor der schlimmsten Dürreperiode seit 2000 Jahren aus Asien Richtung Westen – Klimaflüchtlinge zu Pferde nennt sie Kyle Harper.
Sie verdrängen die Goten aus den Gebieten nördlich der Donau, die daraufhin im Jahr 376 um Aufnahme ins Römische Reich bitten. Die Römer nehmen angeblich 200.000 Flüchtlinge auf.
"Ursprünglich haben Römer ja zunächst nur gotische Flüchtlinge aufgenommen", erklärt Mischa Meier, "und sich dadurch erhofft, dass man diese Flüchtlinge in die römische Armee integrieren könnte, dass die nicht viel gekostet hätten. Aber das hat ja so nicht funktioniert."
Die Ansiedelung verläuft chaotisch. Lokale Amtsträger versuchen, aus dem Elend der hungernden Flüchtlinge Profit zu schlagen. Sie tauschen Hundefleisch gegen gotische Kinder - so berichtet es der Historiker Marcellinus. Es kommt zwischen alten und neuen Bewohnern zu Kämpfen, die schließlich mit einer für die Römer verheerenden militärischen Niederlage enden.
Sechs Jahre später wird ein Vertrag geschlossen: Die Römer gewähren den Goten eine dauerhafte Ansiedlung, wenn sie im Gegenzug unter ihren eigenen Anführern Militärdienst in der römischen Armee leisten. Doch die gotischen Verbände entwickelten ein Eigenleben.
Alarich, der als General in römischem Dienst gestanden hatte, kann nach seiner Entlassung seine Soldaten nicht mehr versorgen. Der Kaiser ignoriert seine Bitten um finanzielle Unterstützung.
"Die römische Führung ist stur geblieben, und am Ende konnte Alarich nichts Anderes mehr tun, um Dampf aus dem Kessel zu lassen, und das war die Eroberung Roms", sagt Mischa Meier.
Ravenna ist weströmischer Kaisersitz
Der Fall der Stadt Rom – ein dummer Zufall. Die weströmischen Kaiser waren schon acht Jahre zuvor nach Ravenna umgezogen, weil die Stadt besser zu verteidigen ist. Rom als Zentrum der Macht hat für sie keine Priorität mehr, deshalb hat der Überfall der Barbaren auch keinerlei politische Konsequenzen für das Reich.
Aber das Ansehen des weströmischen Kaisertums ist nun beschädigt. Und es verliert zusätzlich an Akzeptanz, weil immer mehr Provinzen aufgegeben werden – die teure Grenzverteidigung kann man sich nicht mehr überall leisten.
In Italien bestimmen nun germanische Heermeister die Kaisernachfolge. Formell haben auch die oströmischen Kaiser mitzureden, so führt die Weigerung Konstantinopels, Kaiser Glycerius anzuerkennen, zu Thronwirren - das Ergebnis ist schließlich 476 die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers durch den germanischen Offizier Odoaker.
Auch dieses Ereignis wurde in der Forschung lange als Schlusspunkt der Antike und des weströmischen Reiches gesehen.
Zu Unrecht, meint Mischa Meier: "Wovon man ganz sicher ausgehen kann ist, dass im 5. Jahrhundert der Herrscherwechsel zu Odoaker, das heißt die Absetzung des letzten römischen Kaisers und der Übergang zu einem barbarischen Herrscher, dass der zunächst von nicht allzu vielen Menschen als große Zäsur wahrgenommen worden ist. Denn man hatte schon in den Jahrzehnten zuvor immer mal wieder Phasen, in denen es mal keinen Kaiser im Westen gab, und dann ist es wieder turbulent geworden."
Offene und integrationsfreudige Römer
Bezeichnenderweise gibt es keine zeitgenössischen Berichte über die Absetzung. Dass in Italien nun germanische Könige das Sagen haben, stört die Römer nicht.
"Das ist ja auch die Art und Weise, wie das Römische Reich über Jahrhunderte funktioniert hat", erklärt Mischa Meier. "Dass man sich immer wieder die Leute von außen reingeholt hat und sie ganz schnell integriert hat, ganz schnell zu Römern gemacht hat und niemand mehr danach gefragt hat, wo sie eigentlich herkommen. Die Römer sind viel offener und viel integrationsfreudiger und –fähiger gewesen, als es unsere modernen Gesellschaften sind."
Zwar gab es durchaus Dünkel gegenüber den Barbaren, aber auch Bewunderung. Für die Historikerin Gerda Heydemann von der Freien Universität Berlin verkörpert Senator Sidonius Apollinaris diese Ambivalenz.
"Von dem gibt es ganz berühmte Briefe, in denen er davon spricht, dass irgendwelche Barbarenhorden bei ihm in der Villa einquartiert sind, und die sind so unzivilisiert, dass er gar nicht mehr dichten kann", sagt sie. "Derselbe Sidonius kann einen barbarischen Prinzen beschreiben in einem Brief - das kann man nicht unterscheiden von der Beschreibung eines römischen Kaisers."
Germanen wollen sich integrieren
Die Germanen ihrerseits streben nach Integration ins Römische Reich. Der germanische König Theoderich, der ab 493 über die weströmischen Gebiete im Rahmen seines neu errichteten Ostgotenreiches herrscht, inszeniert sich als römischer Imperator.
"Eine Sache ist, dass Anfang des 6. Jahrhunderts diesen Kontrast zwischen Römern und Barbaren in vieler Hinsicht nicht mehr so richtig greift", erklärt Gerda Heydemann. "Gerade wenn man Theoderich anschaut, der als Kind als Geisel in Konstantinopel erzogen wurde. Er ist eigentlich zu einem großen Teil schon Teil der römischen Welt. Und das gilt für alle dieser barbarischen Herrscher, die können nur dann erfolgreich Machtstrukturen aufbauen auf dem Boden des Römischen Reiches, wenn sie ein großes Stück weit sich römische Praktiken, die Sprache, zu eigen gemacht haben."
Theoderich, der in Ravenna residiert, bemüht sich sehr um den Senat in Rom, der zwar schon längst an politischer Macht verloren hatte, aber die Kontinuität des Imperiums verkörpert.
"Der Senat ist immer noch ein Mittelpunkt sozialen und gesellschaftlichen Lebens gewesen", sagt Mischa Meier. "Die römischen Senatoren waren über das ganze Reich hin vernetzt, das heißt, sie hatten auch großen, politischen Einfluss."
Theoderich zollt auch der Stadt und dem Volk von Rom Respekt, erklärt Gerda Heydemann: "Man ist sehr bemüht, dieser gotischen Herrschaft vor allem in der Stadt Rom ein sehr traditionell-römisches-imperiales Antlitz zu geben. Insofern hat man unter Theoderich sehr viele Zeugnisse dafür, dass zum Beispiel Reparaturen vorgenommen werden."
Spiele im reparierten Kolosseum
Das Kolosseum wird instandgesetzt, und in den 520-er Jahren finden wieder Spiele statt. Das hat es lange nicht gegeben, fanden sich doch keine reichen Gönner mehr zur Finanzierung der Spektakel. Rom erlebt eine neue Blüte, auch wenn die Bevölkerung im vergangenen Jahrhundert stark geschrumpft war und viele Gebäude verfallen.
Seit dem Verlust der Provinz Africa – der Kornkammer des Reiches – ist die Lebensmittelversorgung nicht mehr in diesem früheren Ausmaß möglich.
Aber nicht nur Rom ist betroffen. Seit dem 4. Jahrhundert schrumpfen viele der typisch römischen, offenen, durch Handelsrouten vernetzten Städte und werden mehr und mehr zu Festungen umgebaut, weil die Verteidigung an den Grenzen immer schwieriger wird.
Der vorher riesige vernetzte Wirtschaftraum des Reiches weicht langsam einer regional organisierten Versorgung mit teilweise sinkendem Lebensstandard. Die reichsweite, qualitativ hochwertige Massenproduktion von Gebrauchsgütern wird von regionaler, oft einfacherer Produktion abgelöst.
Regionalisierung von Politik und Wirtschaft
"Das, was wir eben wahrnehmen, den Abbruch von Kulturtechniken, die stärkere Regionalisierung von wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen, das ist etwas, was die Leute vor Ort letztlich gar nicht irgendwie prioritär gesehen haben", erklärt Claudia Tiersch.
Sondern Sicherheit – und das war immer die wichtigste Aufgabe des Reiches gewesen. Und solange die gotischen Herrscher den Frieden in ihrem Territorium sicheren, vermisst niemand einen römischen Kaiser. Es gibt in der Spätantike aber auch Regionen, die wirtschaftlich aufblühen - wie das Oströmische Reich, das größere Stabilität bewahrt als der Westen.
"Im Ost-Reich bleibt tatsächlich eine größere Kohärenz zwischen Militäreliten, der zivilen Bürokratie, Kirche und dem Kaisertum", sagt Claudia Tiersch.
Auch die Senatoren in Konstantinopel sehen sich eher als kaiserliche Beamte denn als stolze Aristokraten.
Zur Katastrophe für Italien wird die 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts. 527 übernimmt in Konstantinopel Kaiser Justinian die Herrschaft. Er startet eine einzigartige Bautätigkeit und lässt mit der Hagia Sophia den größten Kuppelbau der Antike errichten. Konstantinopel mit seinen etwa 500.000 Einwohnern strahlt auf.
Zermürbender Krieg zwischen Oströmern und Ostgoten
Angeblich träumt Justinian davon, wieder ein geeintes Römisches Reich zu errichten. Er beginnt einen siegreichen Feldzug gegen die Vandalen, um die afrikanischen Provinzen zurückzuerobern.
Dann nutzt er Thronstreitigkeiten nach dem Tode Theoderichs, und es beginnt ein verheerender, 20-jähriger Zermürbungskrieg zwischen Oströmern und Ostgoten in Italien. In Rom selbst sind die Loyalitäten geteilt.
"Zu Beginn des Krieges war der Senat sehr gespalten und hat keineswegs einer Seite konsequent zugeneigt", sagt Mischa Meier. "Zum Ende des Krieges hin haben die Senatoren, die überhaupt noch übrig waren, sehr stark der oströmischen Seite zugeneigt. Das hängt aber auch mit Erfahrungen zusammen, die man während des Krieges mit der gotischen Politik gemacht hat."
Weil sich die Goten von der oströmischen Partei im Senat verraten fühlen, richten sie ein Massaker unter aristokratischen Familien an. Am Ende des Krieges ist Italien ausgeblutet und das Ostgotenreich zerfallen. Der oströmische Kaiser Justinian ist zwar kurze Zeit alleiniger Herrscher des gesamten Römischen Reiches. Aber die Langobarden nutzen die Gunst der Stunde und fallen in Italien ein, das schließlich in seine Einzelteile zerfällt.
Vulkanausbrüche sorgen für eine "kleine Eiszeit"
Neben den kriegerischen Auseinandersetzungen sind es wohl auch die klimatischen Veränderungen, die dem Römischen Reich den Rest geben. Weltweite Vulkanausbrüche sorgen für eine sogenannte "kleine Eiszeit", 536 war das Jahr ohne Sommer. Zeitgleich erreicht wieder eine Pestwelle Europa, deren Ausbreitung durch die Folgen der Kältewelle begünstigt worden sei, schreibt Harper.
Die Pandemie habe etwa ein Drittel der Bevölkerung des Römischen Reiches hingerafft, Städte entvölkert und die Ablösung von Provinzen beschleunigt. Mischa Meier misst der Pest zwar ebenfalls eine wichtige Rolle zu, sieht sie aber nur als eines von vielen Problemen.
"Ich würde es nicht so plakativ formulieren", sagt er, "wie es Kyle Harper macht, der eben sehr unmittelbar und sehr viel an die Pest hängt. Er übertreibt, wenn er Opferzahlen angibt in Millionenhöhe, die wir gar nicht wissen können. Er übertreibt, wenn er der Pest einen massiven Zäsur-Charakter zubilligt aufgrund demografischer und wirtschaftlicher Probleme, die wir so gar nicht messen können."
"Einst die Herrin der Welt"
Auch ohne die Pest hätte der 20-jährige Krieg Italien verwüstet. Alleine die Bevölkerung Roms ist um 600 durch Krieg und Flucht auf zeitweise 20.000 Einwohner gesunken.
Papst Gregor, wichtigster Literat seiner Zeit und aus senatorischem Adel, schreibt: "Ihr seht ja, was aus der Stadt Rom geworden ist, die einst die Herrin der Welt gewesen sein soll. Vielfältig wundgerieben durch unermessliche Leiden der Bürger und zahllose Ruinen. Es fehlt der Senat und das Volk ging zugrunde. Und so brennt gleichsam das leere Rom!"
Und dennoch hat Rom seine Aura nicht verloren.
"Gerade jetzt gibt es ein ganz neues Buch von John Osborne, der von Rom um 700 von einer imperialen Stadt ausgeht", sagt Gerda Heydemann. "Es ist immer noch eine Stadt, die imperial ist, die zwar geschrumpft ist und die kein politisches Zentrum mehr ist, aber wo es trotzdem noch sehr viele sichtbare Kontinuitäten zu einer imperialen Vergangenheit und vor allem eine sehr starke Einbindung in ein mediterranes, politisches und ökonomisches Netzwerk gibt."
Nach dem Zerfall des Gotenreiches wird Rom von Konstantinopel aus verwaltet. Die Päpste sind kulturell und politisch stark an Ostrom orientiert – das ändert sich erst im 8. Jahrhundert.
"Die Päpste wenden sich dann an die frühen Karolinger, um Unterstützung gegen die Langobarden zu gewinnen", sagt Gerda Heydemann. "Das ist dann ein Prozess, der in der Kaiserkrönung Karls des Großen 800 in Rom endet. Wo dann aber auch wieder auf die römisch-imperiale Tradition sehr bewusst Bezug genommen wird und die aufgenommen wird."
Das Imperium existiert weiter – als Idee
In der Spätantike haben die Päpste in Rom - so wie die Bischöfe in den Städten - Aufgaben der früheren Magistrate übernommen. In der Kirchenorganisation überleben die Verwaltungsstrukturen des Imperiums, und für die Senatoren bietet die Kirche neue Karrieren, die sich problemlos mit ihrem altrömischen Adelsstolz verbinden lassen.
603 ist die letzte Senatssitzung bezeugt, fünf Jahre später errichtet man das letzte antike Bauwerk des Forum Romanum: Die Phokas-Säule zu Ehren des oströmischen Kaisers, gedacht als Symbol der Einheit eines gesamten Römischen Reiches.
Angesichts dessen, dass im Westen kein Reich mehr existiert, erscheint das als grotesker Anachronismus. Aber nicht für die Römer.
"Die Idee des einen Römischen Reiches ist nie aufgegeben worden", sagt Mischa Meier. "Das ist eines der Ergebnisse der Eroberung Roms 410. Dass die Idee eines Römischen Reiches nicht mehr an die physische Existenz eines Reiches gebunden ist. Sondern das Reich kann jetzt alleine als Idee weiterexistieren."
Auch Jahrhundert nach dem Zerfall des Reiches können sich die Einwohner Roms im Mittelpunkt des Imperium Romanum wähnen. Die Kaiser in Konstantinopel verwalten Rom noch bis ins 8. Jahrhundert, und die Stadt Rom hat noch imperialen Glanz. Auch wenn die Päpste Bauwerke wie die Senatskurie in Kirchen umwandeln.
"Die Übernahme der Päpste dieses öffentlichen Raumes ist langsamer, als man sich das so vorstellt", sagt Gerda Heydemann. "Im 6. und 7. Jahrhundert müssen die Päpste noch bei der imperialen Verwaltung um Erlaubnis fragen, wenn sie ein Gebäude in eine Kirche umwandeln. Dieser öffentliche Raum ist noch ein sehr stark imperial kontrollierter Raum."
Tempel und Paläste verfallen, Pilger kommen
Zwar verfallen Tempel und Paläste, auf leeren Plätzen weidet Vieh, in Mietskasernen werden oft nur die unteren Stockwerke bewohnt, weil die Dächer undicht geworden sind. Auch die Foren verlieren ihre Funktion als öffentlicher Raum, aber das Trajans-Forum wird weiter als Markt genutzt.
Im 7. Jahrhundert werden Aquädukte erneuert, an deren Ausläufern neue Stadtteile entstehen, und das Forum Romanum bleibt bis ins 11. Jahrhundert fast unversehrt.
"Rom wird ja spätestens mit dem 6. Jahrhundert immer mehr zu einer Art Pilgerzentrum, und das Interessante ist, dass diese Pilger sich trotzdem auch für beides interessieren", erklärt Claudia Tiersch. "Die sind natürlich von diesem christlichen Zentrum schwer beeindruckt, aber dieser Glanz Roms reicht tatsächlich ein Stück darüber hinaus und umstrahlt auch diese christliche Prägung."
Gerda Heydemann ergänzt: "Wir haben Handschriften aus dem 9. Jahrhundert von nördlich der Alpen, die im Grunde Reiseführer für Pilger enthalten. Und die verzeichnen zum Beispiel auch Spazierwege durch die Stadt, wo dann die Sehenswürdigkeiten aufgelistet sind, und da sind Kirchen gemischt mit klassischen Sehenswürdigkeiten."
Die 856 Thermen der Stadt werden allerdings kaum noch benutzt.
"Es werden die öffentlichen Bäder aufgegeben, das kann man als Zeichen für einen kulturellen Verfall lesen", sagt Gerda Heydemann. "Man kann es aber auch als Zeichen dafür lesen, dass es eine gewandelte, kulturelle Einstellung zum öffentlichen Baden gibt."
Anziehungskraft römischer Kultur bleibt ungebrochen
Unter den Karolingern gibt es eine Explosion der Rezeption antiker Texte, und mit den islamischen Eroberungen in der Levante lebt die römische Kultur auch in der arabischen Welt weiter. Die Anziehungskraft römischer Kultur bleibt ungebrochen, obwohl das Imperium zerfallen ist.
"Im Grunde ist die Frage nach dem Untergang des Römischen Reiches falsch gestellt, weil man eher danach fragen müsste, warum hat es so lange funktioniert? Das ist ja das Erstaunliche", sagt Mischa Meier.
Als Hauptgrund sieht er die große Flexibilität Roms, sich neuen Situationen anzupassen. Aber irgendwann waren die Probleme zu mannigfaltig, und das Reich zerfiel schleichend: "Ohne, dass es jemand wollte und wahrscheinlich ohne, dass es jemand gemerkt hat, jedenfalls von Zeitgenossen. Das ist einfach die Welt, in die diese Leute reingekommen sind. Die hätten sich das gar nicht anders vorstellen können."
Im Römischen Reich konnte sich jede Kultur zu Hause fühlen, es war kein Völkergefängnis, das durch Freiheitsbewegungen zerfallen wäre. Und seine hohe soziale Durchlässigkeit ermöglichte es sogar freigelassenen Sklaven, in höchste Reichsämter aufsteigen.
Die römische Kultur blieb auch nach dem Zerfall des Reiches lebendig, dem Namen nach lebte es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bis 1806 weiter. Ein Niedergang sieht anders aus - so könnten es auch viele Römer am Ende der Antike gesehen haben.