Roberto Bolaño: "Die Eisbahn"

Eine Leiche auf dem Eis

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Die Eisbahn" von Roberto Bolaño.
Die Geschichte ist rasant, die Form bezwingend. "Die Eisbahn" macht nicht nur eingefleischten Bolañianerinnen Spaß. © Deutschlandradio / Verlag S. Fischer
Von Maike Albath · 15.10.2021
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Erst kurz vor seinem Tod wurde Roberto Bolaño berühmt. Deshalb werden viele Romane des Chilenen erst jetzt ins Deutsche übersetzt. So auch die rasante Geschichte um einen übergewichtigen Beamten, die örtliche Eislaufprinzessin und eine Eisbahn.
Der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño war ein "Infrarealist". So nannten sich die Aktivisten der avantgardistischen Bewegung in Mexiko-City, die er gemeinsam mit seinem Freund Mario Santiago in den 1970er-Jahren lustvoll und ironisch anführte.
Den jungen Männern ging es um die abseitige Wirklichkeit. Sie rebellierten gegen die etablierte Dichtung.
Die Geschichte dieser totalen Hingabe an die Literatur, die immer auch das Aufdecken von Verdrängtem bedeutete, war Gegenstand von Bolaños Kolossalroman "Die wilden Detektive" (2002) gewesen. "Realviszeralisten" hießen die Rebellen dort.
Das Buch machte Bolaño berühmt, der 1977 nach Spanien gegangen war, sich als Campingplatzwärter durchschlug und 2003 mit gerade einmal 50 Jahren viel zu früh starb.

Schon der junge Autor geht aufs Ganze

Dass er von Anfang an aufs Ganze setzte, merkt man auch seiner allerersten Veröffentlichung von 1998 an. In der gewohnt schwungvollen Übersetzung von Christian Hansen liegt jetzt mit "Die Eisbahn" eine schräge Mischung aus Thriller, Lumpenproletariat-Saga, Gaunerkomödie und Milieustudie vor, die in vielem schon auf "Die wilden Detektive" vorausdeutet. (*)
Drei junge Typen ergreifen in knappen Kapiteln abwechselnd das Wort, jeder in seinem charakteristischen Jargon, und alle drei beherzigen das realviszeralistische Motto: "Wenn ich leben soll, dann ohne Steuer und in Raserei."

Buntes Heldentrio im spanischen Badeort

Als erstes lernen wir Remo Morán kennen, einen Chilenen, der ähnlich wie Bolaño mit einer Truppe namens "eiserner Dichter" Mexiko-City unsicher machte, sich aber inzwischen zu einem Kleinunternehmer im spanischen Badeort Z gemausert hat. Dort betreibt er nicht nur einen Schmuckladen, sondern auch eine Bar und einen Campingplatz.
Er braucht Saisonkräfte. Das kommt dem komplett abgerissenen Gaspar Heredia aus Mexiko zugute, der als zweites an die Rampe tritt und schildert, wie er eines Tages bei seinem Dichtergenossen das Amt des Campingplatz-Nachtwächters übernimmt und sich dort in die geheimnisvolle Caridad verliebt.

Verbrechen legt menschliche Abgründe frei

Der streberhafte, übergewichtige Enric Rosquelles, ein Katalane, komplettiert das Heldentrio. Er ist der Leiter des Sozialamtes und brüstet sich selbstgewiss mit seinen politischen Erfolgen.
Aber ausgerechnet dieser Mann verfällt der örtlichen Eislaufprinzessin Nuria und setzt für sie Himmel und Hölle in Bewegung, ohne auch nur den Hauch einer Chance zu haben, denn sie verbringt die Nachmittage längst mit Remo.
Dass Enric ihr schließlich mit öffentlichen Geldern in einer verfallenen Villa am Meer eine private Eisbahn einrichtet, wird ihm zum Verhängnis. Wie in den meisten Bolaño-Romanen kommt es zu einem Verbrechen, das als Fluchtpunkt der Handlung fungiert und zugleich die Abgründe der menschlichen Seele ausleuchtet.

Ein früher Roman und großer Spaß

Die Geschichte ist rasant, die Form bezwingend. Auch wenn der chilenische Schriftsteller später polyfoner und irrwitziger erzählte, macht "Die Eisbahn" auch eingefleischten Bolañianerinnen Spaß.
Literatur heiße, "ins Leere springen können", erklärte Bolaño in einem seiner Essays einmal. Man sollte sich schleunigst zum Realviszeralismus bekehren.

Roberto Bolaño: "Die Eisbahn"
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021
224 Seiten, 24 Euro

(*)Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine falsche Angabe zur historischen Veröffentlichung des Romans korrigiert.
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