Robert Misik: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution“

Aussicht auf ein anderes Morgen

06:52 Minuten
Cover von Robert Misiks Buch „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution“.
© Suhrkamp

Robert Misik

Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, RevolutionSuhrkamp, Berlin 2022

283 Seiten

18,00 Euro

Von Arno Orzessek · 01.08.2022
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Robert Misik beschreibt die Einbrüche des Neuen in der modernen Kunst: Menschen und Zeiten mit einem „Beginnergefühl“. Und er glaubt nicht, dass die revolutionäre Kraft der Kunst versiegt ist. Ein Buch zum Mitfiebern, wild und engagiert.
Man muss kein Zyniker sein, um die Kunst der Gegenwart für gefälliges Beiwerk zu halten, das selbst im vermeintlich stärksten Protest gegen die waltenden Verhältnisse in selbigen aufgeht und sie stabilisiert. Doch es gab Zeiten, in denen das Neue in der modernen Kunst Veränderungen im Ganzen versprach, in denen ein optimistisches „Beginnergefühl“ (Bertold Brecht) herrschte und echter Fortschritt mittels Kunst realisierbar schien.

Die heißesten Energieströme

Robert Misik verfolgt im Modus des intellektuellen Gewaltmarsches durch fast zwei Jahrhunderte, wo, wie und durch wen die heißesten Energieströme der modernen Kunst flossen. Er tut es im Bewusstsein, dass die Ströme zuletzt versiegt sind – aber vielleicht ja nicht für immer. Sein Buch stellt „die Fragen von heute an die Werke von gestern. Der Aussicht auf ein anderes Morgen wegen.“
Für Misik steht die relevante moderne Kunst generell links; jede andere ist nicht modern oder nicht relevant. Trotzdem beginnt er mit dem Royalisten Honoré de Balzac. Indem Balzac die Herrschaft des Geldes Buch um Buch literarisch durchdrang, lieferte er laut Misik „revolutionäre Zeitkritik – irgendwie ohne es zu wollen“. Auch Gustave Flaubert bestieg niemals Barrikaden, zerlegte dafür aber etwa in "Madame Bovary" die französische Bourgeoisie mit kalter Hand in ihre piefig-bornierten Einzelteile.

Protokollführer des Zeitgeistes

Von Heinrich Heine bis Susan Sontag, von Marcel Duchamp bis Elfriede Jelinek, vom Vitalismus bis zum Action Painting, vom Roten Wien bis zur Postmoderne: Misiks Sammlung von Künstler-Porträts, Stil-Analysen, Begriffs-Untersuchungen und Zeitkritik ist höchst divers, die Dichte großartiger Zitate imposant, der Hagelsturm der Namen nur für halbwegs Eingeweihte ein Genuss. Teils ähnelt "Das große Beginnergefühl" den Kultur-Gemälden eines Florian Illies, nur ohne bürgerlichen Goldrand. Dann wieder verherrlicht Misik Intensität und Radikalität der modernen Kunst mit einer Schärfe, als sei er selbst der Agent eines neuen Beginnergefühls.
Doch wie stark war der Einfluss der modernen Kunst auf Politik und Gesellschaft tatsächlich, wie sehr hat sie Weltanschauungen und Alltagsleben der Menschen verändert? Und stimmt es, dass moderne Künstler „sowohl Protokollführer des Zeitgeistes wie dessen Koautorinnen“ sind?
Keine Frage, im Roten Wien standen sich Arbeitervereine und avantgardistische Künstlerkreise im Zeichen des revolutionären Reformismus nahe; Architektur als hybride Kunstgattung hat weltweit Lebenswelten konkret verändert; und gewiss wirkt Milo Raus Theater, das für Misik beispielhaft nach vorn weist, auch außerhalb enger Kulturzirkel. Doch die allermeisten Neuanfänge und Stil-Revolutionen in der Kunst blieben beschränkt auf die Kunst selbst – anders etwa als technische Innovationen. Ein „aufheulendes Auto“ sei „schöner als die Nike von Samothrake“, behaupteten die Futuristen – Millionen Autokäufer sahen das genauso, auch ohne die Nike zu kennen.

Für alle, die noch an die Zukunft glauben wollen

Obwohl – oder gerade weil – Misik die überragende Reichweite der Kunst und ihre verändernde Kraft immer wieder eher behauptet als belegt, ist "Das große Beginnergefühl" ein überschwängliches und mitreißendes Buch. Die Schwächen in der Systematik sind unverkennbar, dafür ist es schön wild – oder mit W. Benjamin zu sprechen: „immer radikal, niemals konsequent“. Es ist für alle, die wie Misik noch an die Zukunft glauben wollen – denn merke: „Pessimismus ist konterrevolutionär.“
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