Marcel-Duchamp-Retrospektive

Neues Vergnügen an einem Gründervater der modernen Kunst

05:53 Minuten
Marcel Duchamp als "Rrose Sélavy", aufgenommen von Man Ray, 1920/21.
Marcel Duchamp in seinen transsexuellen Rollenspielen als „Rrose Sélavy“, seinem Alter Ego, aufgenommen von Man Ray, 1920/21. © Association Marcel Duchamp / Man Ray 2015 Trust / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Von Rudolf Schmitz · 01.04.2022
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Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst zeigt Werke aus allen Schaffensphasen von Marcel Duchamp. Dabei wird deutlich, was Duchamp mit "zerebraler Kunst" meinte - eine Kunst, die einen intellektuell anregt und zum Lachen bringt.
Die Eingangshalle des Museums für Moderne Kunst (MMK) ist ein befreiend geniales Statement: Marcel Duchamps bekannteste Readymades als Mobile. Die Schneeschaufel, der Flaschentrockner, das Urinal, der Kleiderhaken, die Hutablage hängen von der Decke, scheinen graue Schatten auf die Wände der hellen Halle zu werfen.
Doch beim genauen Betrachten entpuppen sich die Schatten als gemalt. Eine Idee, die Marcel Duchamp sicherlich gefallen hätte. Die Readymades, also die fertig gefundenen Skulpturen in Gestalt von Alltagsgegenständen, steigen hier im Foyer des Museums zum Ideenhimmel auf, werden zur augenzwinkernden Choreografie.
Ein Urinal hängt von der Decke: Marcel Duchamps "Fountain" (Fontäne), 1917/1964.
Marcel Duchamps "Fountain" (Fontäne), 1917/1964.© Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Fenja Cambeis
„Ich glaube, dass die Ausstellung auch sehr experimentell ist", sagt Susanne Pfeffer, Direktorin des Frankfurter Museums. "Ich glaube aber auch, dass sich in den Räumen die Themen immer wieder neu und unterschiedlich zusammenfinden und dass es eine sehr freie und undidaktische Ausstellung ist.“

Unverbrauchter Blick auf Duchamps Werk

Wie immer unter Susanne Pfeffers Regie hat das MMK grandiosen Aufwand betrieben, um das Museum ganz in den Dienst dieses Künstlers zu stellen: Wände sind im Sinne des Kubismus gekippt, fragmentiert oder schräg gestellt, allein das Begehen der drei Museumsebenen ist ein visuelles Abenteuer. Es kommt einem neugierigen, unverbrauchten Blick auf das Werk Duchamps entgegen.

Die große Marcel-Duchamp-Retrospektive ist noch bis zum 3. Oktober 2022 im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zu sehen.

Dabei ist diese umfassende Schau im besten Sinn museal: Sie beginnt am Anfang, zeigt die ersten Landschaften des noch 15-Jährigen im impressionistischen Stil. Er malt seine Schwestern, seinen Bruder, ein angeschirrtes Pferd. Talent zweifellos, aber nicht übermäßig.
Marcel Duchamps kubistisches Gemälde: Le Passage de la Vierge à la Mariée (Der Übergang von der Jungfrau zur Neuvermählten), 1912.
Marcel Duchamp, Le Passage de la Vierge à la Mariée (Der Übergang von der Jungfrau zur Neuvermählten), 1912.© Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Dann kommt die kubistische Phase, sein Interesse für Mechanik deutet sich an, die Kaffeemühle von 1911, für die Küche seines Bruders gemalt, zeigt die erste Phasenzergliederung der Drehkurbel und antizipiert die berühmte, in Trommeln zerlegte Schokoladenreibe.

Ein sehr fleißiger Künstler

Aus einem Lautsprecher an der Wand dringt Duchamps erstes, nach Zufallsprinzip entstandenes musikalisches Werk: „Erratum Musical“ von 1913. Zu hören sind der Künstler selbst und seine zwei Schwestern. Vorgeschichte dazu: Duchamp hatte die Notierungen von 25 Noten einzeln in einen Hut gelegt. Die wurden dann von den Mitwirkenden rausgefischt und ergaben die Partitur.
„Duchamp hat ja selbst immer dieses Image gepflegt, dass er nicht arbeiten würde", sagt Susanne Pfeffer. "Wenn man die Ausstellung sieht, wird klar, dass er doch ein sehr fleißiger Künstler war. Die Zugänge sind aber sehr unterschiedlich, und trotzdem erkennt man immer Duchamp. In der Kunstgeschichte ist Duchamp aufgrund seiner Bedeutung sehr stark auf bestimmte Werke reduziert worden, aber ich glaube, dass es auch fast eine Befreiung ist, ihn in einem größeren Kontext zu sehen und auch seine ersten Arbeiten, wo er 15, 16 oder 17 Jahre alt war.“ 

Duchamps transsexuelle Rollenspiele

Und es ist die mit Humor gewürzte Sorgfalt der Präsentation, die uns Betrachter mit neuem Vergnügen in den Reichtum dieses Werks eintauchen lässt. Spaß machen vor allem die Rotoreliefs, diese kreisenden Pappscheiben, die mit Spiralen und ähnlichen Mustern bemalt sind. Sie konnten auf Plattenspieler gelegt werden und suggerierten dann in der Bewegung irritierende Dreidimensionalität.
Marcel Duchamps "Rotorelief" (Optische Scheibe), 1935.
Marcel Duchamps "Rotorelief" (Optische Scheibe), 1935.© Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Man erlebt Duchamp mit seiner Schachleidenschaft oder in seinen transsexuellen Rollenspielen als „Rrose Sélavy“, seinem Alter Ego. Und selbstverständlich gibt es eine Abteilung zu den „Boîtes-en-valise", jenen Musterkoffern, mit denen Marcel Duchamp sein Lebenswerk in Miniaturen zu präsentieren pflegte.

Duchamp war es wichtig, sogenannte zerebrale Kunst zu schaffen, also Kunst, die einen intellektuell anregt, zu neuen Gedanken führt, aber auch zum Lachen bringt. Das ist natürlich eine Kunst, die sehr stark auf Ideen beruht. Und wir kennen alle die „Boîte-en-valise", das ist eigentlich ein Koffer, der wie ein Museum fungiert, und für ihn war das wirklich ein Äquivalent, dass eine Reproduktion, ein Druck seiner Arbeiten oder eine Miniaturskulptur seiner Arbeiten, eigentlich den gleichen Wert haben wie das sogenannte Original.

Susanne Pfeffer, Direktorin des MMK Frankfurt

In einem Interview von 1966, zwei Jahre vor seinem Tod, behauptet Marcel Duchamp, er habe mit seiner Aktivität vor allem die Idee des Künstlers als kleinem Schöpfergott ad absurdum führen wollen. Die Schau im Frankfurter Museum für Moderne Kunst jedenfalls ist eine einzige spielfreudig respektvolle Verbeugung vor diesem Gründervater zeitgenössischer Kunst und Mentor grassierender Identitätskonflikte.

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