Robert Macfarlane: "Die verlorenen Zaubersprüche"

Wanderungen durch die Sprache der Natur

08:50 Minuten
Buchcover: "Die verlorenen Zaubersprüche" von Robert Macfarlane
Robert Macfarlane ist ein echter Sprachwanderer. Das beweist er auch wieder mit "Die verlorenen Zaubersprüche". © Deutschlandradio / Matthes & Seitz Verlag
Von Nico Bleutge · 01.11.2021
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Der britische Schriftsteller Robert Macfarlane durchstreift die Natur genauso wie Lexika. Von seinen Wanderungen bringt er bildstarke Gedichte mit, die unsere ganze Wahrnehmung ansprechen und mit der magischen Kraft der Wörter spielen.
Die Kohlschabe gibt es. Den Silberstrich gibt es und die Achateule gibt es. Und das ockergelbe Flechtenbärchen gibt es. Hätte die große Dichterin Inger Christensen dieses Buch geschrieben, würde es vermutlich so beginnen. Robert Macfarlane indes überführt die aufgereihten Schmetterlingsarten in eine kleine Beschreibung seines eigenen Tuns - und schmuggelt bei der Gelegenheit gleich noch eine Mini-Poetik in seinen Satz ein: "Öffnest du die / Flügel dieses sanften Worts, strömen Namen, / Formen, flirrt ein Farbkaleidoskop."

Die Tradition des "Nature Writing" weiterentwickeln

Ein echter Sprachwanderer ist dieser Robert Macfarlane, der 1976 in Nottinghamshire geboren wurde. In Büchern wie "Karte der Wildnis" oder "Alte Wege" hat er aber nicht nur vergessene Namen entdeckt, sondern tatsächliche Wanderungen unternommen und so die Tradition des "Nature Writing" weiterentwickelt. Wenn hier von Landschaft die Rede ist, geht es immer auch um ihre Struktur und um ökologische Fragen, um verlassene Gegenden und verschwundene Arten.

Dabei spielt das Verhältnis zum Menschen eine besondere Rolle. Macfarlane erkundet die Landschaft stets mit dem ganzen Körper, badet in Tümpeln oder übernachtet ohne Schlafsack auf einem Feld. Von seinen Streifzügen bringt er nicht nur Essays mit, sondern auch Gedichte. Das hat er in seinem Buch "Die verlorenen Wörter" gezeigt, einer Sammlung sprachflirrender Naturskizzen, denen die Zeichnerin Jackie Morris formstarke Bilder an die Seite gestellt hat.

Zweiter Band eines erprobten Formats

Nun ist ein zweiter Band mit Gedichten erschienen. Und wenn man an dem Buch etwas kritisieren wollte, dann dass es von der Art her allzu nahtlos an den erfolgreichen Vorgängerband anschließt. Was dort "Wörter" waren, sind hier "Zaubersprüche". Wieder bettet Jackie Morris die Verse in großformatige Zeichnungen ein. Und wieder umspielen die meisten Gedichte in Form eines Akrostichons den Namen eines Tiers oder einer Pflanze, das heißt: Die Anfangsbuchstaben der Verse oder Strophen ergeben den Begriff. Andererseits: Warum nicht ein erprobtes Format übernehmen, wenn dabei immer wieder gute Gedichte entstehen können?
Tatsächlich öffnet Macfarlane die Flügel der Wörter - und was er ihnen in den besten Fällen entlockt, ergibt ein wahres Bildkaleidoskop. Immer geht es um die ganze Wahrnehmung: Um das Sehen und Hören und Benennen, aber auch um die Frage, warum wir die Pflanzen und Tiere genauso brauchen wie sie uns. Und oft ist damit die Einladung verbunden, sich in die Wahrnehmungswelt eines anderen Lebewesens zu versetzen.

Kunstvolle Übersetzung ins Deutsche

Das Schöne: Die Gedichte wissen zugleich, dass dies nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist, weil die Sprache der menschlichen Perspektive nicht entkommt. Deshalb arbeiten sie bewusst mit Vergleichen und Metaphern. Der Mauersegler wird hier zum "Handbremsenzwirbler", und die Schleiereule ist eine "Chirurgin der Stille".
Ein wenig schade ist es, dass die englischen Texte nicht abgedruckt sind. So kann man nicht entscheiden, ob sich Reime und Halbreime auch im Englischen abwechseln. Doch Daniela Seels Übersetzungen sind weit mehr als ein Ersatz. Wie sie Macfarlanes Spiel mit Lauten ins Deutsche holt, ist eine Kunst für sich. Und ebenso geschickt bildet sie seine Technik nach, das Überraschende aus dem Geläufigen hervorzutreiben. Eben noch meint man die Motten zu kennen, die um Lampen und Laternen schwirren - schon staunt man, wie sie "Luft zu Sirup schäumen".

Robert Macfarlane: "Die verlorenen Zaubersprüche"
Zeichnungen von Jackie Morris
Aus dem Englischen von Daniela Seel
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021
125 Seiten, 22 Euro

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