Robert Macfarlane: „Berge im Kopf"

Vom Rausch der Höhe

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Das Buchcover "Berge im Kopf" von Robert Macfarlane ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
In "Berge im Kopf" vermittelt der Brite Robert Macfarlane, was es heißt, auf einem Gipfel zu stehen. © Deutschlandradio / Verlag Matthes & Seitz
Von Günther Wessel · 07.07.2021
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Vor 300 Jahren wäre die Idee, einen Berg aus Spaß zu besteigen, bei vielen auf reines Unverständnis gestoßen. Warum das heute anders ist, beschreibt der Autor Robert Macfarlane in einer Mischung aus Abenteuerzählung und kulturhistorischer Studie.
Robert Macfarlane ist selbst Bergsteiger und kennt den Zauber der Gipfel, der schroffen Klippen, der vereisten Schneefelder und Gletscher. Er hat Berge in den Alpen und im Himalaja bestiegen und heikle Situationen überlebt: Atemlos vor Spannung liest man, wie er am Hang eines Felsens am Seil hängt, während kopfgroße Steinbrocken neben ihm hinunter prasseln.
Warum finden viele Menschen die Höhen der Berggipfel verlockend, wissend, dass jedes Jahr allein in den Alpen eine dreistellige Zahl an Bergsteigern stirbt? Warum ergriff der Mount Everest den Briten George Mallory so sehr, dass er Anfang der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts dreimal dorthin reiste. Der Bergsteiger wusste, er wird ihn entweder erklimmen oder beim Versuch umkommen.

Faszination Bergwelt

Robert Macfarlane beschreibt anhand von Literatur, Reise- und Forschungsberichten, Alltagskultur, Malerei und Philosophie, wie diese Faszination für die Bergwelt entstand.
Sein Buch ist eine Geschichte unserer Vorstellung der Berge: Diese sind zwar eine geologische Formation, zugleich aber auch das Produkt menschlicher Wahrnehmung. Sie zeigen, dass das Antlitz der Erde veränderlich ist, und bewirkten, über die Entstehung unseres Planeten nachzudenken.
Berge lösen auch Gefühle aus: Der englische Dramatiker John Dennis schreibt im Sommer 1688 nach einer Alpenwanderung in einem Brief von Überquerung tiefer Schluchten. Aber nicht von Angst dabei ist die Rede, sondern einem herrlichen Entsetzen und einer furchtbaren Freude – lustvoller Furcht.
Der Philosoph Edmund Burke adelt Mitte des 18. Jahrhunderts dieses Gefühl zur Empfindung des Erhabenen – Bergketten gelten seither als majestätisch.

Eine Art maskuliner Darwinismus

Vom Erhabenen ist es ein kurzer Sprung, um in der Auseinandersetzung mit den Gefahren der Berge eine Charakterprobe zu sehen. Es galt Biss und Härte zu entwickeln, eine Art maskuliner Darwinismus, der prägend auch für andere Entdeckertouren des viktorianischen Zeitalters war.
Macfarlanes Buch ist ein weiter Ritt durch die Geschichte unserer Wahrnehmung der Berge, trotz seines britisch-zentrierten Weltbildes. Selbst der englische Imperialismus des 19. Jahrhunderts wird stellenweise als intellektuelle Lust am Unbekannten verbrämt.
Wo der Autor sich Kontinentaleuropa nähert – beispielsweise in seinen Anmerkungen zu Alfred Wegener, schleichen sich Fehler ein.

Glänzend geschrieben, schön gestaltet

Schön gestaltet, glänzend geschrieben, immer wieder durchbrochen von farbigen packenden Schilderungen eigener und fremder Bergabenteuer ist das Buch dennoch ein gelehrte Lesefreude.
Es fängt den Zauber, die Verletzlichkeit und Fragilität der Bergwelt und gleichzeitig ihre Wucht wunderbar ein und begründet – und vermittelt auch, was es heißt, auf dem Gipfel zu stehen, sich zu spüren und dabei eins zu sein mit der Welt.

Robert Macfarlane: "Berge im Kopf. Geschichte einer Faszination"
Aus dem Englischen übersetzt von Gaby Funk
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021
320 Seiten, 34 Euro

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