Robert Capas Fotografien zu Rosch Haschana

Das erste jüdische Neujahr nach dem Krieg

09:20 Minuten
Robert Capa beim Treffen der Magnum Agentur in Paris, 1947.
Robert Capa In Paris, 1947 © Getty Images / Hulton Archive / Ernst Haas
Von Carsten Dippel · 18.09.2020
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Robert Capa ist für sein ikonografisches Foto aus dem Spanischen Bürgerkrieg bekannt. Doch wenige wissen, dass er in Berlin 1945 des erste jüdische Neujahrsfest nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes und der Schoah mit der Kamera einfing.
Berlin im August 1945. Eine Stadt in Trümmern. Ein Bild zeigt eine Gruppe Rotarmisten vor der Siegessäule und mitten unter ihnen ein GI. Dieser GI ist nicht irgendjemand, sondern der seinerzeit wohl berühmteste Kriegsfotograf Robert Capa. Er ist hier im Auftrag des Life Magazins. Eigentlich wollte Life eine Story über das Schwarzmarkttreiben bringen. Doch es gab einen zweiten, sehr speziellen Auftrag: Man erfuhr, dass im September – zum ersten Mal nach der Schoah – ein Gottesdienst zu Rosch Haschana geplant war. Und so kam in der ehemaligen Wochensynagoge am Thielschufer, heute Synagoge Fraenkelufer, die jüdische Gemeinde zusammen.
Die Kuratorin Chana Schütz hat eine Ausstellung zu Capas Werk in Berlin konzipiert. Sie sieht in Capas Fotografien auch eine höhere Aufgabe: "Es gehörte so ein bisschen zum 'Re-Education Program', zu zeigen, dass man zurückkehrt nach Deutschland, um eine Zivilisation wieder aufzubauen. Und viele der Emigranten waren weiterhin im Zeitungswesen tätig und auch dort gab es den Wunsch, aus Berlin zu berichten."

Einmaliges aus der Synagoge

Capa war nicht der einzige Fotograf und selbst die New York Times berichtete. Das Life Magazin schien sich letztlich nicht sonderlich für diese Geschichte zu interessieren, denn erst einen Monat später erschienen Capas Bilder, der Begleittext von einem Unwissenden geschrieben, es hagelte wütende Leserbriefe. Ein später berühmt gewordenes Foto brachte es in unzählige Capa-Bücher: Zwei kleine Jungen, die unter den Anwesenden sind.
Chana Schütz fallen vor gut fünf Jahren im Magnum-Archiv in Texas Capas Berlin-Bilder in die Hände fallen. Als sie etwas später einen der damaligen Jungen, Fred Taucher, im Rahmen eines Austausch-Programms des Berliner Senats trifft und er von dem Gottesdienst im September 1945 erzählt, kann sie ihr Glück kaum fassen. Die Geschichte kommt ins Rollen und gipfelt nun in einer Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum.
"Diese Synagogenbilder sind auch einmalig. Jüdische Fotografen wie Vishniac oder Henry Riess sind '47 nach Berlin gekommen, haben für den JOINT oder die Times fotografiert, aber diese kurze Phase, wo man eigentlich sagen muss, das ist der Endpunkt der alten Berliner Gemeinde, das hat Capa gemacht."

Chana Schütz: "Robert Capa - Berlin Sommer/Summer 1945"
Salzgeber, Berlin 2020
160 Seiten, 25 Euro

Capas Berlin-Bilder sind von einer gewissen Distanz, aber dennoch von Empathie geprägt, sagt Chana Schütz. Er zieht einem Flaneur gleich durch die zerstörte Stadt. Er nimmt viele eher unerwartete und unspektakuläre Dinge ins Visier: spielende Kinder, ein zertrümmertes Geschäft, weite Straßenzüge auf denen die Berliner ihr Schicksal neu zu sortieren versuchen.
Die Bilder von Rosch Haschana sind anders. Capa geht dicht heran. Man blickt in Gesichter, die gezeichnet sind von dem Durchlebten und Erlittenen. "Rausch Ha Schonu", sagten damals die Berliner Juden zum Neujahrsfest, erzählt Hermann Simon, der ehemalige Direktor des Centrum Judaicums: "Ich glaube, dass wir schon unterstellen können, dass ihm das nicht ungelegen kam. Das Thema hat ihn schon fasziniert. Das ist nicht einfach auf die Kamera gedrückt. Da ist ein bisschen mehr dahinter, in meiner Wahrnehmung."

Die ersten Kriegsreporter*innen

Capa hat sich immer geweigert, das Grauen der befreiten Lager zu fotografieren. Er hatte einst mit Gerda Taro, der Liebe seines Lebens, und dem gemeinsamen Freund David Seymor, der liebevoll Chim genannt wurde, im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik mit der Kamera in der Hand gegen Franco gekämpft. Taro verlor dort bei einem tragischen Unglück ihr Leben, was Capa nie verwand. Die französische Journalistin Isabelle Mayault schreibt über diese Zeit in ihrem Roman "Eine lange mexikanische Nacht" sehr treffend: "Vor Capa, Taro und Chim hat niemand je gewagt, laufende Kampfhandlungen zu fotografieren. Man hat die drei nicht gezwungen, nach Spanien zu gehen. Sie haben selbst beschlossen, von Paris in die ausgedörrten Berge zu fahren, um vom Kampf der Republikaner zu berichten. Und wissen Sie auch, wieso? Weil sie vor allen anderen begriffen hatten, dass dieser Krieg das letzte Bollwerk war vor etwas Fürchterlichem. Und es ist keineswegs nur ein historischer Zufall, dass sie alle drei europäische Juden waren. Ihre Wurzeln verliehen ihnen eine Sensibilität für diese Frage, die ein protestantischer Amerikaner oder katholischer Franzose niemals hätte aufbringen können."

Isabelle Mayault: "Eine lange mexikanische Nacht"
Aus der Französischen von Jan Schönherr
Rowohlt Buchverlag, Hamburg 2020
240 Seiten, 22 Euro

Nun kommt also dieser Robert Capa im Sommer 1945 in jene Stadt, die er bereits aus glücklicheren Zeiten kennt. Der klein gewachsene, aber auf seine Zeitgenossen ungeheuer charismatisch wirkende Sohn ungarisch-jüdischer Eltern war 1931 vor dem Horthy-Regime geflohen. In Berlin verdiente er sich die ersten Sporen als Fotoreporter, bevor er 1933 erneut fliehen musste. Auch Paris, das ihm zur Heimat wurde, musste er Jahre darauf verlassen. Er kam erst mit der US-Army nach Europa zurück. Am D-Day schoss er an der Omaha Beach unvergessliche Bilder, die zu Ikonen der Kriegsfotografie zählen, wie so viele andere. Schließlich pendelt er in jenem Sommer zwischen Paris und Berlin, nicht zuletzt wegen seiner Affäre mit Ingrid Bergmann. In dieser Zeit entstanden die gut 600 beinahe vergessenen Berlin-Bilder.

Robert Capa: " Death in the Making"
Neuauflage
Thames & Hudson, Lomndon 2020
112 Seiten, ca. 30 Euro

Diejenigen, die sich zum jüdischen Neujahr in der Synagoge am Thielschufer versammelten, waren Gestrandete. Überlebende der Konzentrationslager, Untergetauchte, die nun befreit waren, Displaced Persons, wohl auch der ein oder andere Remigrant und GI. Doch wohin ging es? War es die letzte Zusammenkunft der alten Berliner Gemeinde, bevor die meisten das Land Richtung Amerika oder Palästina verließen? Von Capa sind keine Erinnerungen an seine Berlintage überliefert. Wohl aber hat er einige Kontaktabzüge auf der Rückseite kommentiert. Capa schreibt: "Die Synagoge war anlässlich der Neujahrsgottesdienste geputzt und frisch gestrichen worden, und auch die Berliner Juden hatten, soweit sie diese noch besaßen, ihre Festtagskleidung angelegt. Einzig in ihren Gesichtern spiegelte sich das Leid der letzten zwölf Jahre. Es gibt nicht viel, worauf sich die Berliner Juden im Neuen Jahr freuen können; sie ergeben sich in ihr Schicksal, die letzten Überlebenden ohne Zukunft zu sein. Doch als der Kantor begann, das Widderhorn zu blasen, betete die ganze Gemeinde für das neue Jahr, das zweifellos schwer, aber trotzdem besser werden wird als alles, was hinter ihnen liegt."
Hermann Simon hat einige Abgebildete identifizieren können. Darunter den Rabbiner Martin Riesenburger, bei dem er selbst in den 60er Jahren Religionsunterricht hatte und der die Ost-Berliner Gemeinde führte: "Was mich ein bisschen schmerzt, die Frauen sind alle nicht identifiziert. Ein sehr bewegendes Bild, ganz in sich in Trauer versunken. Da mach ich mir keine Hoffnung, ist ja niemand mehr da, der sich daran erinnern kann. Die Bilder kann man verschieden interpretieren, Menschen auf der Durchreise, nichts wie weg, aber vielleicht kann man das ein oder andere auch so interpretieren, jetzt erst recht, jetzt bleiben wir hier und tun das, was wir viele Jahre nicht konnten."
In denkbar augenfälligen Kontrast stehen den Aufnahmen aus der Synagoge Capas Fotos einer am gleichen Tag stattfindenden, gewaltigen Demonstration im Ostteil der Stadt. Tausende antifaschistische Kämpfer sind da zusammengekommen. Zum ersten Mal wird dieses offizielle Gedenken der Kommunisten zelebriert. In der vordersten Reihe stehen ehemalige KZ-Häftlinge in ihren gestreiften Gewändern.
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